Willy Brandts Kniefall 1970 vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos ist unvergessen. Die symbolische Geste der Buße beeindruckte in ihrer Eindringlichkeit die ganze Welt. Sie bleibt ohne Vergleich, markiert aber den Beginn einer jungen Tradition öffentlicher Bitten um Entschuldigung: Bill Clinton gesteht vor der Community of Kisowera School ein, dass Amerika auf unrechtmäßige Weise vom Sklavenhandel früherer Tage profitiert habe. Johannes Rau leistet vor der Knesset in Jerusalem Abbitte für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Papst nimmt das Heilige Jahr zum Anlass, für die Sünden der Kirche während der Kreuzzüge und der Inquisition um Vergebung zu bitten. Hermann Lübbe beschreibt und deutet die Gepflogenheit führender Politiker, die Geschichte gewordenen Untaten der eigenen Nation vor den Nachkommen der Opfer öffentlich zu bekennen - eine Praxis, die sich weltweit zu etablieren beginnt. Der neue Ritus befördert eine neue "Geschichtsmoral", zwingt zur allseitigen Anerkennung des tatsächlich Geschehenen, was noch zur Zeit des Kalten Krieges undenkbar gewesen wäre. Es zeigt sich, dass jedes Bekenntnis zur Täterschaft der Vorfahren für eine Gemeinschaft ebenso konstitutiv sein kann wie die Erinnerung an die Leiden der Opfer.
Unüberhörbar sind die Worte öffentlicher Bitten um Vergebung dem religiösen Bereich entnommen. Insofern muss die Analyse des neuen Rituals notwendigerweise auch eine Studie der Sprache sein. Wenn der Philosoph Lübbe das gesellschaftspolitische Phänomen öffentlicher Buße untersucht, erweist er sich einmal mehr als Grenzgänger zwischen den Disziplinen - mit scharfer Zunge und scharfem Verstand.
Unüberhörbar sind die Worte öffentlicher Bitten um Vergebung dem religiösen Bereich entnommen. Insofern muss die Analyse des neuen Rituals notwendigerweise auch eine Studie der Sprache sein. Wenn der Philosoph Lübbe das gesellschaftspolitische Phänomen öffentlicher Buße untersucht, erweist er sich einmal mehr als Grenzgänger zwischen den Disziplinen - mit scharfer Zunge und scharfem Verstand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Büßerhemden, maßgefertigt
Hermann Lübbes Meinungsrituale / Von Franziska Augstein
Früher kam es auf Entschuldigungen nicht an: Da wurde der niedergeworfene Stammesfürst geknebelt und versklavt oder sogleich erwürgt. Was er noch hätte sagen können, war nicht von Belang. In Gesellschaften mit differenziertem Rechtssystem ist der Umgang mit den Verlierern etwas komplizierter, weshalb es gern gesehen wird, wenn der Schwache sich dafür entschuldigt, daß er getreten wird, und wenn der Unterlegene sich schuldig bekennt, da er unterlegen ist. Diese Anforderung stellt nicht bloß eine zynische Bereicherung politischer Schauprozesse dar; die allermeisten hierarchisch geordneten Einrichtungen sind von ihr geprägt. Angefangen mit Familie, Schule und Kaserne, hat sie fast alle sozialen Verhältnisse in der langen Geschichte der Zivilisation beherrscht.
Daß einmal eine Zeit kommen würde, in der die Mächtigen sich entschuldigen für das Gemeine, was sie verübt haben, wäre eigentlich allgemein zu begrüßen. Der Philosoph und politische Theoretiker Hermann Lübbe tut das freilich nicht. Er rümpft die Nase über den "Eifer vergangenheitspolitischer Aufdeckung von Untaten", der "vor Jahrzehnten . . . als indiskret hätte gelten müssen" und heute dazu führe, daß ein "faktenanerkennungsfähiger Intellektueller" wie Ernst Nolte der "moralischen Disqualifikation" anheimfalle.
Auf der letzten Seite (vor dem modischen Schlußkapitel über die Bedeutung von Archiven als Gedächtnisspeichern) heißt es: "Sachlichkeit hat den Charakter einer moralischen Norm, und die Erfüllung historiographischer Objektivitätspostulate ist eine praktische Leistung, die auch in einer liberal verfaßten Kultur gegen mannigfache Interessen verteidigt sein will." Sachlich ist laut Lübbe der "faktenanerkennungsfähige" Historiker Ernst Nolte, den Lübbe gegen die - seiner Ansicht nach falsche - Norm verteidigt, die übereifrige Vergangenheitspolitiker oktroyiert haben. Gegen sie bezieht Lübbe Position. Darum und um wenig anderes geht es in seinem neuen Buch, in dem er angeblich "der modernen Praxis öffentlicher Buße" nachspüren will.
Am Thema liegt es nicht, wenn Lübbe sich weniger dafür als für seine Ansichten zur deutschen Geschichtsdiskussion interessiert. In der Vielzahl der Entschuldigungsgesten von höchsten Stellen zeigt sich die Macht der öffentlichen Meinung. Heutzutage bittet nicht bloß Deutschland für vergangene Verbrechen um Vergebung. Auch eine unbezwungene Weltmacht wie die Vereinigten Staaten von Amerika entschuldigt sich dafür, daß sie ihren Wohlstand auf der Sklaverei begründete. Rußland leistet Abbitte für die Ermordung der polnischen Offiziere bei Katyn. Australiens Regierung entschuldigt sich bei den Aborigines. Japan bedauert die Verbrechen seiner Kolonialherrschaft. Spanien tut es leid, wie die Conquistadoren in Südamerika einst wüteten.
Das grausame zwanzigste Jahrhundert hat so viel Grund für Entschuldigungen gesehen, daß es nicht wunder nimmt, wenn auch uralte Verbrechen wieder aufs Tapet gebracht werden. Die Kinder der Gegenwart entsinnen sich der Qualen ihrer Vorfahren und dringen auf Worte der Buße, wie sie den Opfern der Shoa zuteil werden. Schaden können diese Worte nicht. Da sind der Allgemeinverstand und Georg Wilhelm Friedrich Hegel eines Sinns: Schon die Anerkennung, daß einer Unrecht erlitten habe, verschafft Linderung. Und zwar unabhängig davon, ob es obendrein eine materielle Entschädigung gibt oder nicht.
Was Hegelianern recht wäre, ist Hermann Lübbe nicht billig. Der Grund liegt darin, daß Einzelfälle ihm einerlei sind. Ihn beschäftigt lediglich das Ritual der Entschuldigung, das er aus den jeweiligen politischen, diplomatischen und historischen Zusammenhängen isoliert, um dem derart ziemlich ätherisch gewordenen Phänomen eine rituell-religiöse Qualität anzuhängen. Dieser Überbau von der "Zivilreligion" hält zwar nur so lange, wie die näheren Umstände außen vor bleiben und dem Erleben der Menschen samt dem allfälligen diplomatischen Gezerre keinerlei Relevanz beigemessen wird. Die gedankliche Konstruktion als solche entspricht indes der verbreiteten Neigung, allerlei Vorgänge und Umstände religiös oder quasi-religiös zu nennen. Beließe man statt dessen die Dinge in ihrer weltlichen Gestalt, hätte man nicht soviel Bedeutsames über sie zu sagen.
Da Lübbe sich um die historischen Zusammenhänge nicht kümmert, beschränkt er sich auf mehr oder minder emotional akzentuierte Kommentare. Das Sentiment, das den Leser am stärksten beeindruckt, ist die Mißbilligung: Lübbe hält die neue Entschuldigungspraxis für unangebracht, für eine Einladung zu Larmoyanz und Nabelschau. Er schreibt: "Man erkennt die Zusammenhänge: Die neue Zivilbußpraxis fördert als Element internationaler Beziehungen die Selbstwahrnehmung der nationalen und sonstigen Kollektive als Leidenssubjekte." Nein, man erkennt die Zusammenhänge nicht. Man erkennt nur, daß Lübbe die Schwarzen, die australischen Aborigines, die koreanischen "Trostfrauen" und viele andere Opfer oder Kindeskinder der Opfer für "indiskret" hält und sich wünscht, sie möchten über ihre Vergangenheit nicht so viel reden. Und man fragt sich, wie der Philosoph Lübbe zu einem so überheblichen, anmaßenden Urteil kommt.
Ein Beispiel: 1998 erörterte die japanische Regierung, wie sie für die Untaten um Vergebung bitten solle, unter denen die Koreaner während der japanischen Kolonialherrschaft zu leiden hatten. Frühere Entschuldigungsworte waren allzu allgemein und also inhaltsleer ausgefallen. Anläßlich der neuerlichen japanischen Diskussion hieß es in einem Korrespondentenbericht in dieser Zeitung am 8. Oktober 1998: "In Korea erwartet man von Japans Regierung ein präzises und ,aufrichtiges' Eingeständnis der eigenen Verantwortung, das über halbherzige Diplomatie und innenpolitische Rücksichtnahme hinausgeht." Lübbe hingegen befindet: Die alte Entschuldigungsformel sei "deutlich genug" gewesen. Und mit Verweis auf den genannten Artikel fügt er an: "nicht so anscheinend für deutsche Beobachter". Wollte Lübbe nicht wahrhaben, was in dem zitierten Text zu lesen ist? Versteht er nicht den Unterschied zwischen Bericht und Kommentar?
Beispiele von dieser Art gibt es mehr, weshalb es wenig bedauerlich ist, daß Lübbe seinen Gedanken eines neuen, international wirksamen Bußrituals schließlich links liegen läßt, um sich ausschließlich der deutschen Vergangenheitspolitik zu widmen. Auch auf diesem Feld stellt er Behauptungen auf, die viel über seine politisch-historische Gestimmtheit besagen, während sie zur Wirklichkeit allenfalls eine lose Verbindung aufweisen: Im Westen, schreibt er, werde der Antikommunismus "tabuisiert" - seit wann das? Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg behauptet er, Deutschland sei der Kollektivschuldthese nur mit knapper Not entronnen - welche Teile der Gesellschaft, welche maßgeblichen Persönlichkeiten sollen diese These denn vertreten haben?
Über Ernst Nolte schreibt Lübbe, dieser sei im Historikerstreit zu Unrecht attackiert worden, weil "die Bestreitung der Singularität des Völkermords an den Juden" ihm "fälschlich unterstellt" worden sei. Doch um diese Thematik ging es in der Debatte nur am Rande; tatsächlich wird Nolte vorgeworfen, daß er die Heraufkunft des Nationalsozialismus damit erklärt, dieser habe sich gegen die Bolschewisten zur Wehr setzen wollen, die das europäische Bürgertum bedrohten. Weiß Lübbe das nicht? Unterschlägt er es absichtlich? Und was mag in einen Autor gefahren sein, der schreibt: "Es genügt, Hobbes als Klassiker wichtig zu nehmen, und schon ist man, statt als Freund der Wahrheit, als Parteigänger eines wahrheitsdesinteressierten Ordnungsfetischismus erwiesen." Was hat das mit dem Thema seines Buches zu tun?
Seine Meinungen, seine Vorurteile und seine Abneigung gegen das, was er sich unter politischer Korrektheit in der Geschichtsdiskussion vorstellt, hat Lübbe zusammengerührt. Das Resultat ist eine Argumentation, die so unsauber wie gefühlsbetont ist. Aus irgendeinem Grund nimmt er sogar an der Empfehlung Anstoß, die Medien möchten sich bei ihrer Arbeit an "zuverlässige Quellen" halten, "Unabhängigkeit" bewahren und "intensive Recherche" betreiben. Was hat er nur dagegen? Lübbes Buch ist so unpräzise, seine Darstellung im Detail so verzerrt und sein Tonfall so unangenehm, daß der Wunsch, der Autor hätte diese Empfehlungen ernst genommen, gar nicht einmal aufkommt.
Hermann Lübbe: ",Ich entschuldige mich'". Das neue politische Bußritual. Siedler Verlag, Berlin 2001. 144 S., geb., 29,90 DM.
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Hermann Lübbes Meinungsrituale / Von Franziska Augstein
Früher kam es auf Entschuldigungen nicht an: Da wurde der niedergeworfene Stammesfürst geknebelt und versklavt oder sogleich erwürgt. Was er noch hätte sagen können, war nicht von Belang. In Gesellschaften mit differenziertem Rechtssystem ist der Umgang mit den Verlierern etwas komplizierter, weshalb es gern gesehen wird, wenn der Schwache sich dafür entschuldigt, daß er getreten wird, und wenn der Unterlegene sich schuldig bekennt, da er unterlegen ist. Diese Anforderung stellt nicht bloß eine zynische Bereicherung politischer Schauprozesse dar; die allermeisten hierarchisch geordneten Einrichtungen sind von ihr geprägt. Angefangen mit Familie, Schule und Kaserne, hat sie fast alle sozialen Verhältnisse in der langen Geschichte der Zivilisation beherrscht.
Daß einmal eine Zeit kommen würde, in der die Mächtigen sich entschuldigen für das Gemeine, was sie verübt haben, wäre eigentlich allgemein zu begrüßen. Der Philosoph und politische Theoretiker Hermann Lübbe tut das freilich nicht. Er rümpft die Nase über den "Eifer vergangenheitspolitischer Aufdeckung von Untaten", der "vor Jahrzehnten . . . als indiskret hätte gelten müssen" und heute dazu führe, daß ein "faktenanerkennungsfähiger Intellektueller" wie Ernst Nolte der "moralischen Disqualifikation" anheimfalle.
Auf der letzten Seite (vor dem modischen Schlußkapitel über die Bedeutung von Archiven als Gedächtnisspeichern) heißt es: "Sachlichkeit hat den Charakter einer moralischen Norm, und die Erfüllung historiographischer Objektivitätspostulate ist eine praktische Leistung, die auch in einer liberal verfaßten Kultur gegen mannigfache Interessen verteidigt sein will." Sachlich ist laut Lübbe der "faktenanerkennungsfähige" Historiker Ernst Nolte, den Lübbe gegen die - seiner Ansicht nach falsche - Norm verteidigt, die übereifrige Vergangenheitspolitiker oktroyiert haben. Gegen sie bezieht Lübbe Position. Darum und um wenig anderes geht es in seinem neuen Buch, in dem er angeblich "der modernen Praxis öffentlicher Buße" nachspüren will.
Am Thema liegt es nicht, wenn Lübbe sich weniger dafür als für seine Ansichten zur deutschen Geschichtsdiskussion interessiert. In der Vielzahl der Entschuldigungsgesten von höchsten Stellen zeigt sich die Macht der öffentlichen Meinung. Heutzutage bittet nicht bloß Deutschland für vergangene Verbrechen um Vergebung. Auch eine unbezwungene Weltmacht wie die Vereinigten Staaten von Amerika entschuldigt sich dafür, daß sie ihren Wohlstand auf der Sklaverei begründete. Rußland leistet Abbitte für die Ermordung der polnischen Offiziere bei Katyn. Australiens Regierung entschuldigt sich bei den Aborigines. Japan bedauert die Verbrechen seiner Kolonialherrschaft. Spanien tut es leid, wie die Conquistadoren in Südamerika einst wüteten.
Das grausame zwanzigste Jahrhundert hat so viel Grund für Entschuldigungen gesehen, daß es nicht wunder nimmt, wenn auch uralte Verbrechen wieder aufs Tapet gebracht werden. Die Kinder der Gegenwart entsinnen sich der Qualen ihrer Vorfahren und dringen auf Worte der Buße, wie sie den Opfern der Shoa zuteil werden. Schaden können diese Worte nicht. Da sind der Allgemeinverstand und Georg Wilhelm Friedrich Hegel eines Sinns: Schon die Anerkennung, daß einer Unrecht erlitten habe, verschafft Linderung. Und zwar unabhängig davon, ob es obendrein eine materielle Entschädigung gibt oder nicht.
Was Hegelianern recht wäre, ist Hermann Lübbe nicht billig. Der Grund liegt darin, daß Einzelfälle ihm einerlei sind. Ihn beschäftigt lediglich das Ritual der Entschuldigung, das er aus den jeweiligen politischen, diplomatischen und historischen Zusammenhängen isoliert, um dem derart ziemlich ätherisch gewordenen Phänomen eine rituell-religiöse Qualität anzuhängen. Dieser Überbau von der "Zivilreligion" hält zwar nur so lange, wie die näheren Umstände außen vor bleiben und dem Erleben der Menschen samt dem allfälligen diplomatischen Gezerre keinerlei Relevanz beigemessen wird. Die gedankliche Konstruktion als solche entspricht indes der verbreiteten Neigung, allerlei Vorgänge und Umstände religiös oder quasi-religiös zu nennen. Beließe man statt dessen die Dinge in ihrer weltlichen Gestalt, hätte man nicht soviel Bedeutsames über sie zu sagen.
Da Lübbe sich um die historischen Zusammenhänge nicht kümmert, beschränkt er sich auf mehr oder minder emotional akzentuierte Kommentare. Das Sentiment, das den Leser am stärksten beeindruckt, ist die Mißbilligung: Lübbe hält die neue Entschuldigungspraxis für unangebracht, für eine Einladung zu Larmoyanz und Nabelschau. Er schreibt: "Man erkennt die Zusammenhänge: Die neue Zivilbußpraxis fördert als Element internationaler Beziehungen die Selbstwahrnehmung der nationalen und sonstigen Kollektive als Leidenssubjekte." Nein, man erkennt die Zusammenhänge nicht. Man erkennt nur, daß Lübbe die Schwarzen, die australischen Aborigines, die koreanischen "Trostfrauen" und viele andere Opfer oder Kindeskinder der Opfer für "indiskret" hält und sich wünscht, sie möchten über ihre Vergangenheit nicht so viel reden. Und man fragt sich, wie der Philosoph Lübbe zu einem so überheblichen, anmaßenden Urteil kommt.
Ein Beispiel: 1998 erörterte die japanische Regierung, wie sie für die Untaten um Vergebung bitten solle, unter denen die Koreaner während der japanischen Kolonialherrschaft zu leiden hatten. Frühere Entschuldigungsworte waren allzu allgemein und also inhaltsleer ausgefallen. Anläßlich der neuerlichen japanischen Diskussion hieß es in einem Korrespondentenbericht in dieser Zeitung am 8. Oktober 1998: "In Korea erwartet man von Japans Regierung ein präzises und ,aufrichtiges' Eingeständnis der eigenen Verantwortung, das über halbherzige Diplomatie und innenpolitische Rücksichtnahme hinausgeht." Lübbe hingegen befindet: Die alte Entschuldigungsformel sei "deutlich genug" gewesen. Und mit Verweis auf den genannten Artikel fügt er an: "nicht so anscheinend für deutsche Beobachter". Wollte Lübbe nicht wahrhaben, was in dem zitierten Text zu lesen ist? Versteht er nicht den Unterschied zwischen Bericht und Kommentar?
Beispiele von dieser Art gibt es mehr, weshalb es wenig bedauerlich ist, daß Lübbe seinen Gedanken eines neuen, international wirksamen Bußrituals schließlich links liegen läßt, um sich ausschließlich der deutschen Vergangenheitspolitik zu widmen. Auch auf diesem Feld stellt er Behauptungen auf, die viel über seine politisch-historische Gestimmtheit besagen, während sie zur Wirklichkeit allenfalls eine lose Verbindung aufweisen: Im Westen, schreibt er, werde der Antikommunismus "tabuisiert" - seit wann das? Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg behauptet er, Deutschland sei der Kollektivschuldthese nur mit knapper Not entronnen - welche Teile der Gesellschaft, welche maßgeblichen Persönlichkeiten sollen diese These denn vertreten haben?
Über Ernst Nolte schreibt Lübbe, dieser sei im Historikerstreit zu Unrecht attackiert worden, weil "die Bestreitung der Singularität des Völkermords an den Juden" ihm "fälschlich unterstellt" worden sei. Doch um diese Thematik ging es in der Debatte nur am Rande; tatsächlich wird Nolte vorgeworfen, daß er die Heraufkunft des Nationalsozialismus damit erklärt, dieser habe sich gegen die Bolschewisten zur Wehr setzen wollen, die das europäische Bürgertum bedrohten. Weiß Lübbe das nicht? Unterschlägt er es absichtlich? Und was mag in einen Autor gefahren sein, der schreibt: "Es genügt, Hobbes als Klassiker wichtig zu nehmen, und schon ist man, statt als Freund der Wahrheit, als Parteigänger eines wahrheitsdesinteressierten Ordnungsfetischismus erwiesen." Was hat das mit dem Thema seines Buches zu tun?
Seine Meinungen, seine Vorurteile und seine Abneigung gegen das, was er sich unter politischer Korrektheit in der Geschichtsdiskussion vorstellt, hat Lübbe zusammengerührt. Das Resultat ist eine Argumentation, die so unsauber wie gefühlsbetont ist. Aus irgendeinem Grund nimmt er sogar an der Empfehlung Anstoß, die Medien möchten sich bei ihrer Arbeit an "zuverlässige Quellen" halten, "Unabhängigkeit" bewahren und "intensive Recherche" betreiben. Was hat er nur dagegen? Lübbes Buch ist so unpräzise, seine Darstellung im Detail so verzerrt und sein Tonfall so unangenehm, daß der Wunsch, der Autor hätte diese Empfehlungen ernst genommen, gar nicht einmal aufkommt.
Hermann Lübbe: ",Ich entschuldige mich'". Das neue politische Bußritual. Siedler Verlag, Berlin 2001. 144 S., geb., 29,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Was soll man sagen? Die Rezensentin ist empört. Oder enttäuscht. Oder beides. Nach der Lektüre ihrer Besprechung jedenfalls wird man sich den Kauf des Buches zweimal überlegen oder gleich die Finger davon lassen. Dass der Autor seinem Thema nicht gerecht wird, weil er, wie Franziska Augstein schreibt, "das Ritual der Entschuldigung ... aus den jeweiligen politischen, diplomatischen und historischen Zusammenhängen isoliert", ist eine Sache. Etwas anderes sind die Urteile über Opfer der Geschichte, zu denen Lübbe im Zuge seiner Untersuchung gelangt: "überheblich und anmaßend", befindet Augstein. Und wenn der Autor nebenbei zu einer Apologie des umstrittenen Historikers Ernst Nolte (laut Lübbe ein "faktenanerkennungsfähiger Intellektueller") ausholt, bringt das Augstein vollends auf die Palme. Das Buch, erklärt sie abschließend, ist unpräzise, seine Darstellung im Detail verzerrt und sein Tonfall unangenehm.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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