Eine Dienstreise, eine Flucht aufs Land oder doch ein Stadttrip nach Madrid? Sandro Litscheli verschwindet und sagt allen, er fahre weit weg. In Wirklichkeit begibt er sich in die Obhut eines alten Freundes, eines Arztes. Bei ihm kann er dem Alltag entfliehen, bis dieser ihn nicht mehr vor der Realität bewahren kann.
"Ich fahre nach Madrid" wurde 1982 in einer Literaturzeitschrift publiziert und sorgte für großes Aufsehen. Zugleich wurde der Text zur "Besten Erzählung des Jahres" gekürt. Jörg Sundermeier schreibt in seinem Nachwort ausführlich darüber. Heute lässt sich der Text wie damals als eine Form der Regimekritik lesen, aber überraschenderweise genauso als eine Geschichte über die heutigen Anforderungen der Arbeitswelt - und wie man ihnen entfliehen kann. Zugleich ist die Novelle ein glühendes Plädoyer für die Kraft der Fantasie.
"Ich fahre nach Madrid" wurde 1982 in einer Literaturzeitschrift publiziert und sorgte für großes Aufsehen. Zugleich wurde der Text zur "Besten Erzählung des Jahres" gekürt. Jörg Sundermeier schreibt in seinem Nachwort ausführlich darüber. Heute lässt sich der Text wie damals als eine Form der Regimekritik lesen, aber überraschenderweise genauso als eine Geschichte über die heutigen Anforderungen der Arbeitswelt - und wie man ihnen entfliehen kann. Zugleich ist die Novelle ein glühendes Plädoyer für die Kraft der Fantasie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Die ungemalten Bilder
Traumreise: Naira Gelaschwili fährt nach Madrid
Seiner Frau, den Arbeitskollegen, den Zufallsbekannten, den Freunden: Jedem erzählt der 47 Jahre alte Büroangestellte Sandro Litscheli eine andere Geschichte über seine anstehende Reise und nennt unterschiedliche Ziele, von der georgischen Stadt Kutaissi bis zur Traumstadt Madrid. Tatsächlich aber spricht er bei einem alten Schulfreund vor, der inzwischen ein Krankenhaus leitet. Ob der ihn nicht zwei Wochen lang aufnehmen könne, versteckt, einfach so?
Zum Glück findet sich in der Klinik ein abgelegener gemütlicher Raum, und Sandro Litscheli findet dort, was er so dringend sucht: seine Ruhe. Er schaut aus dem Fenster, betrinkt sich manchmal dezent mit dem Klinikleiter und hängt sonst seinen Träumen nach. Er singt, spielt Gitarre und malt - nicht mit Farben und auf der Leinwand, sondern in seiner Phantasie, das aber nicht weniger ausgefeilt und stimmungsvoll. Meisterwerke also für die "Galerie der unverwirklichten Werke", die Naira Gelaschwili in ihrer Novelle "Ich fahre nach Madrid" als Gedankenspiel entwirft und die auch Skulpturen, Romane oder Musikstücke umfasst.
Doch auch diese real existierende Novelle, geschrieben 1982, konnte im damals sozialistischen Georgien nur unter Schwierigkeiten erscheinen. Warum? Indem er sich aus allem ausklinkt, aus seinen gesellschaftlichen, beruflichen und familiären Pflichten, war Litscheli sicherlich kein Vorbild, wie es erwünscht war, und indem die Autorin jede Verurteilung seines Eskapismus unterlässt, diente sein Schicksal nicht einmal als Warnung.
Stattdessen malt sie Litschelis Flucht in den wärmsten Farben. Am großartigsten aber ist die kleine Ansprache an die Leser, mit der Naira Gelaschwili ihren Protagonisten gegenüber allen Vorwürfen in Schutz nimmt, Anklagepunkt für Anklagepunkt, als stünde er vor Gericht. Denn nun wird klar, dass diese Eskapade gar nicht so harmlos ist, wie man vermuten könnte: In ihr verteidigt Naira Gelaschwili zugleich das Recht auf den folgenlosen Tagtraum.
spre.
Naira Gelaschwili: "Ich fahre nach Madrid".
Aus dem Georgischen von Lia Wittek und Mariam Baramidse. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. 96 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Traumreise: Naira Gelaschwili fährt nach Madrid
Seiner Frau, den Arbeitskollegen, den Zufallsbekannten, den Freunden: Jedem erzählt der 47 Jahre alte Büroangestellte Sandro Litscheli eine andere Geschichte über seine anstehende Reise und nennt unterschiedliche Ziele, von der georgischen Stadt Kutaissi bis zur Traumstadt Madrid. Tatsächlich aber spricht er bei einem alten Schulfreund vor, der inzwischen ein Krankenhaus leitet. Ob der ihn nicht zwei Wochen lang aufnehmen könne, versteckt, einfach so?
Zum Glück findet sich in der Klinik ein abgelegener gemütlicher Raum, und Sandro Litscheli findet dort, was er so dringend sucht: seine Ruhe. Er schaut aus dem Fenster, betrinkt sich manchmal dezent mit dem Klinikleiter und hängt sonst seinen Träumen nach. Er singt, spielt Gitarre und malt - nicht mit Farben und auf der Leinwand, sondern in seiner Phantasie, das aber nicht weniger ausgefeilt und stimmungsvoll. Meisterwerke also für die "Galerie der unverwirklichten Werke", die Naira Gelaschwili in ihrer Novelle "Ich fahre nach Madrid" als Gedankenspiel entwirft und die auch Skulpturen, Romane oder Musikstücke umfasst.
Doch auch diese real existierende Novelle, geschrieben 1982, konnte im damals sozialistischen Georgien nur unter Schwierigkeiten erscheinen. Warum? Indem er sich aus allem ausklinkt, aus seinen gesellschaftlichen, beruflichen und familiären Pflichten, war Litscheli sicherlich kein Vorbild, wie es erwünscht war, und indem die Autorin jede Verurteilung seines Eskapismus unterlässt, diente sein Schicksal nicht einmal als Warnung.
Stattdessen malt sie Litschelis Flucht in den wärmsten Farben. Am großartigsten aber ist die kleine Ansprache an die Leser, mit der Naira Gelaschwili ihren Protagonisten gegenüber allen Vorwürfen in Schutz nimmt, Anklagepunkt für Anklagepunkt, als stünde er vor Gericht. Denn nun wird klar, dass diese Eskapade gar nicht so harmlos ist, wie man vermuten könnte: In ihr verteidigt Naira Gelaschwili zugleich das Recht auf den folgenlosen Tagtraum.
spre.
Naira Gelaschwili: "Ich fahre nach Madrid".
Aus dem Georgischen von Lia Wittek und Mariam Baramidse. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. 96 S., geb., 16,- [Euro].
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