»Vor fünf aufgestanden - um acht scheint es mir, dass ich schon einen ganzen Tag geistig gelebt, somit das Recht erworben habe, bis zum Abend dumm zu sein.«Paul Valérys berühmte Cahiers, seine »Denkhefte«, wurden fast täglich und über ein halbes Jahrhundert lang mit Notizen gefüllt und erst 1945 nach seinem Tod veröffentlicht. Sie sind ein einzigartiges Denklaboratorium des modernen Menschen und ein Paradebeispiel lebensphilosophischer Selbsttherapie.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Mit toxischer Geschwindigkeit gedacht –
eine Auswahl aus Paul Valérys Cahiers
Die Ansage ist klar, was das Denken betrifft und das Schreiben: „Es gibt nur ein Mittel, um sich eine klare Vorstellung von der Sprache zu bilden – die Geste. Man könnte versuchen, einen hinlänglich vollständigen Satz aus Gesten zu komponieren.“ Paul Valéry hat die Philosophie aus der Sphäre des Kopflastigen in die Wirklichkeit zurückgebracht, in den Körper. Von 1894 bis ins Jahr seines Todes 1945 hat Valéry Morgen für Morgen aktuelle Gedanken notiert in seine Cahiers, ein intellektueller Frühsport, eine Form der Geistesarbeit und der Erforschung dieser Arbeit zugleich. „Die Idee der Gymnastik ist entscheidend – Darin gründet meine Philosophie.“ Die Cahiers wurden posthum veröffentlicht in Frankreich, eine deutsche Auswahl daraus haben in sechs Bänden Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt zusammengestellt, daraus hat Thomas Stölzel die vorliegende Auswahl besorgt, die vor fünf Jahren in der Anderen Bibliothek erschien – sie enthält etwa ein Hundertstel des Corpus der Cahiers.
Es ist, neben Freuds Psychoanalyse und Prousts Recherche, eines der Großwerke der Moderne. Pointiert und aufs Paradox gestimmt, mit Aufschwüngen so kühn, dass an einen Abschluss nicht zu denken ist. „Denken ist unablässiges Durchstreichen.“ Die Autobiografie eines Denkers, das Oszillogramm eines halben Jahrhunderts. Und jede Menge Warnungen vor intellektueller Verblasenheit: „Was ist der Raum? Absurde Frage. Das heißt, seinem Schwanz nachzujagen.“ Der Rausch des Morgens aber produziert Klarheit. „Heute bin ich aufgestanden, schier wie um vor mir zu fliehen. Sehr starken Kaffee getrunken. Und ich komme überhaupt nicht mehr herunter . . . Dieses Tempo bringt mich um. Ich habe keine Zeit zum Denken, es gebiert, gebiert, gebiert. Das Land saust vorbei, die Bäume fressen die Städte auf, die Flüsse werden wie Flaschen zur Wagentür hinausgeworfen, die Wahrheiten fliegen wie Geschosse vorüber, die Wörter zischen vorbei und sind weg; Not etwas zu fassen und zu halten – mit keuchendem Gedächtnis. Diese Geschwindigkeit ist toxisch . . .“
FRITZ GÖTTLER
Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry u. s. verborgenen Cahiers. Hrsg. Thomas Stölzel. Fischer Klassik, Frankfurt/M. 2016. 365 S., 12,99 Euro.
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Mit toxischer Geschwindigkeit gedacht –
eine Auswahl aus Paul Valérys Cahiers
Die Ansage ist klar, was das Denken betrifft und das Schreiben: „Es gibt nur ein Mittel, um sich eine klare Vorstellung von der Sprache zu bilden – die Geste. Man könnte versuchen, einen hinlänglich vollständigen Satz aus Gesten zu komponieren.“ Paul Valéry hat die Philosophie aus der Sphäre des Kopflastigen in die Wirklichkeit zurückgebracht, in den Körper. Von 1894 bis ins Jahr seines Todes 1945 hat Valéry Morgen für Morgen aktuelle Gedanken notiert in seine Cahiers, ein intellektueller Frühsport, eine Form der Geistesarbeit und der Erforschung dieser Arbeit zugleich. „Die Idee der Gymnastik ist entscheidend – Darin gründet meine Philosophie.“ Die Cahiers wurden posthum veröffentlicht in Frankreich, eine deutsche Auswahl daraus haben in sechs Bänden Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt zusammengestellt, daraus hat Thomas Stölzel die vorliegende Auswahl besorgt, die vor fünf Jahren in der Anderen Bibliothek erschien – sie enthält etwa ein Hundertstel des Corpus der Cahiers.
Es ist, neben Freuds Psychoanalyse und Prousts Recherche, eines der Großwerke der Moderne. Pointiert und aufs Paradox gestimmt, mit Aufschwüngen so kühn, dass an einen Abschluss nicht zu denken ist. „Denken ist unablässiges Durchstreichen.“ Die Autobiografie eines Denkers, das Oszillogramm eines halben Jahrhunderts. Und jede Menge Warnungen vor intellektueller Verblasenheit: „Was ist der Raum? Absurde Frage. Das heißt, seinem Schwanz nachzujagen.“ Der Rausch des Morgens aber produziert Klarheit. „Heute bin ich aufgestanden, schier wie um vor mir zu fliehen. Sehr starken Kaffee getrunken. Und ich komme überhaupt nicht mehr herunter . . . Dieses Tempo bringt mich um. Ich habe keine Zeit zum Denken, es gebiert, gebiert, gebiert. Das Land saust vorbei, die Bäume fressen die Städte auf, die Flüsse werden wie Flaschen zur Wagentür hinausgeworfen, die Wahrheiten fliegen wie Geschosse vorüber, die Wörter zischen vorbei und sind weg; Not etwas zu fassen und zu halten – mit keuchendem Gedächtnis. Diese Geschwindigkeit ist toxisch . . .“
FRITZ GÖTTLER
Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry u. s. verborgenen Cahiers. Hrsg. Thomas Stölzel. Fischer Klassik, Frankfurt/M. 2016. 365 S., 12,99 Euro.
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Dies ist das Außerordentliche von Paul Valérys Cahiers [...]: Hier ist einer, der denkt für sich alleine, seine Hilfsmittel findet er beim Abgrasen der eigenen Gehirnwiese. Die Zeit 201602