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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.1996

Feuerspeiender Hermelinbär
Ein Componist: Gottfried von Einem über sich selbst

Sogar im Telefonbuch steht "Componist": Der angriffslustige Wiener Erfolgs-Tonsetzer Gottfried von Einem, Meister auch in der Öffentlichkeitsarbeit, legt Wert darauf, nicht mit den Durchschnittskomponisten verwechselt zu werden. "Ich schreibe dieses Wort immer mit ,C'" - so selbstbewußt eröffnet er denn auch seine Autobiographie mit dem Titel "Ich hab' unendlich viel erlebt".

Buchtitel sind gemeinhin nicht dem Autor zur Last zu legen. Aber dieser hier, obwohl ein Zitat, ist banal; denn ohne die Vielfalt der Erlebnisse erübrigt sich die Selbstbeschau. Von Einems Lebensbericht hat etwas von einer Tellerwäscher-Geschichte: obwohl aus großbürgerlichem, als lieblos empfundenem Elternhaus, hat sich der Autodidakt in der Bühnenpraxis mühsam ins "Compositions"-Metier hochdienen müssen. Freilich wurde er unterstützt von dem Lehrer und Librettisten Boris Blacher und zunehmend von großen Namen unter den Dirigenten seiner Opern, von denen die erste, "Dantons Tod" nach Büchner, ihn nach der Salzburger Festspiel-Uraufführung 1947 unter Ferenc Fricsay schlagartig zur europäischen Berühmtheit werden ließ. Fortan hatte er an diesem Erfolg weiterzustricken - publikumsfreundlich tonal, mit dem Dreiklang als manchmal dissonant dekoriertem "Naturereignis" und fast immer nach großer Literatur.

Der Componist, vom Außenseiter seiner Familie zum Individualisten gereift, plaudert sprunghaft und in knorrig trockener Sprache, der man die behauptete Wortklangverliebtheit nicht recht anhört, von Opernerfolgen und -skandalen (etwa rund um "Jesu Hochzeit"), privaten Traumata und Eskapaden, von Schlüsselpositionen (so im Salzburger Festspieldirektorium oder als Wiener Professor) und von Zeitläuften, die ihn zum "Zoon politikon" werden ließen. Aber neben solchen "normalen" Stationen in unordentlicher Zeit hat er offenherzig manches andere anzubieten: die Abkunft von zwei Vätern - einem (Seitensprung)-Erzeuger und einem Ernährer -, abenteuerliche Hilfe für jüdische Kollegen und Bekannte, Haft im Gestapo-Gefängnis, gemeinsam mit der zweiten Frau Lotte Ingrisch erlebte Parapsychologie in "Gesprächen" mit Toten. Die konservative Einstellung konnte er gerade als einflußreiche graue Eminenz im Musikbetrieb nicht verleugnen: Als Präsident der Alban-Berg-Stiftung versuchte er Friedrich Cerhas Ergänzung der Oper "Lulu" vehement, aber vergeblich zu verhindern.

Im Faktischen nimmt es die von Manfred A. Schmid, dem Verleger von Lotte Ingrischs Büchern, nach Tonbandprotokollen aufgezeichnete Lebensreportage nicht gar zu genau. Die erste Frau Lianne von Bismarck läßt der Componist mal 1961, mal ein Jahr später sterben; Blachers Frau, die Pianistin Gerty Herzog, verwandelt sich in die Sängerin Gerti Herzog; Richard Strauss wird zum "Meister von Berchtesgaden", der Sänger Peter Schreier zu Schreyer, der Dirigent Leopold Hager zum Regisseur und Tänzer; Rolf Liebermanns Oper "Schule der Frauen" mutiert zur "Schule der Weiber"; die Behauptung, Mozarts Klavierkonzerte seien auf dem Cembalo zu spielen, erst Beethoven habe "bekanntlich" als erster für das Hammerklavier komponiert, ist abstrus, wenn auch durchaus populär, die Dreisätzigkeit der Sinfonie ist keineswegs die einzige "Normalform". Ein gewissenhaftes Lektorat hätte solche Irrtümer, auch zahlreiche Druckfehler und Wortverdopplungen leicht tilgen können. Oder passen sie ins Bild des "feuerspeienden Hermelinbärs", des trinkfesten "dionysischen Nachtmeerfahrers" (Lotte Ingrisch über ihren Mann), der stolz Berühmtheiten aus aller Welt zu seinem Hofstaat zählt? ELLEN KOHLHAAS

Gottfried von Einem: "Ich hab' unendlich viel erlebt". Autobiographie. Aufgezeichnet von Manfred A. Schmid. Ibera- und Molden-Verlag, Wien 1995. 408 S., zahlr. Abb., geb., 59,- DM.

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