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Produktdetails
  • List Taschenbücher
  • Verlag: List TB.
  • Seitenzahl: 647
  • Abmessung: 45mm x 125mm x 187mm
  • Gewicht: 656g
  • ISBN-13: 9783612650542
  • ISBN-10: 3612650548
  • Artikelnr.: 24053421
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Seele in Selchspeck
Eine Biographie für Colette / Von Karl Markus Michel

Im Jahre 1904 reisten Natalie Clifford Barney und Renée Vivien, zwei junge, einander zugetane Poetinnen, von Paris auf die Insel Lesbos, um in Mytilene, wo Sappho gelebt hatte, eine Poesie- und Liebesschule für Lesbierinnen zu gründen. Das Projekt scheiterte, wie zu erwarten, an einem Eifersuchtsdrama, und das war gut so. Denn nun konnte sich Mytilene mitten in Paris, Rive gauche, entfalten und die Belle Époque würzen. Das setzte freilich voraus, daß die geschlechtliche Devianz sich kultivierte zur exzentrischen Lebensform.

Nehmen wir als Beispiel die Baronin Deslandes: rote Haare (Henna) und fahle Haut (Koks), winzige Füße und gewaltige Brüste. Oscar Wilde hatte sie umworben, und d'Annunzio drückte seine Bewunderung durch das Gelöbnis aus, sie in ihrem Sarg zu vergewaltigen. Lesen wir weiter, als Kostprobe dessen, was diese Biographie uns so reichlich bietet: "Alles Triviale war ihr verhaßt, und ihre Nachbarn, der Comte und die Comtesse de Chabrillan, erzählten, daß sie ihre Notdurft in eine Alabastervase verrichte, die hernach vom Maître d'Hôtel mit Orchideen gefüllt und in ein Regal gestellt würde . . ." Die Baronin war stets umschwärmt von jungen Literatinnen, die sie nicht nur finanziell bedachte. Eine ihrer Favoritinnen hieß Colette.

Oder nehmen wir Mathilde de Morney, die Marquise de Balbeuf. Schon früh, als das noch Verruchtheit signalisierte, ließ sie sich die Haare kurz schneiden und kleidete sich bei einem Londoner Herrenschneider ein. "Der einzige Makel ihrer männlichen, schlanken Silhouette waren die aristokratisch kleinen Füße, die sie optisch zu vergrößern suchte, indem sie mehrere Paar Socken übereinanderzog." Da sie wie ein Mann von Welt auftrat, war sie umringt von Frauen, die von ihr ausgehalten werden wollten. In ihrem exklusiven Privatclub gab es außer Roulette- und Bakkaraträumen auch einen Theatersaal, wo junge Talente sich präsentieren durften. Dort übte Colette ihre Auftritte als Tänzerin: Selbstausdruck, ohne Trikot. Missy, wie die Marquise von ihren Vertrauten genannt wurde, förderte die Varieté- und Theaterkarriere ihrer Freundin, begleitete sie auf ihren Tourneen und zeigte sich gelegentlich zusammen mit ihr in einer Pantomime, zum Beispiel 1907 im Moulin-Rouge - der erhoffte Skandal blieb nicht aus.

Im Grunde bedurfte es gar nicht dieser schlüpfrigen Pantomimen, Komödien und Solotänze; fast jeder Auftritt Missys und Colettes, ob im Bois de Boulogne, auf dem Ball Bullier oder "chez Palmyre", geriet zum exhibitionistischen Akt. "Die Soupers bei Palmyre hatten den Ruf, meist in Orgien zu enden. Missy und Colette rekrutierten dort ,Mädchen' für sehr private kleine Soireen . . ." Stadtgespräch wurde auch die glanzvolle Eröffnung des Théâtre Réjane: "Alle Blicke richten sich auf die Loge, wo Missy erscheint, im Smoking und mit einer Seidenkrawatte, auf der eine gewaltige Perle schimmert." Begleitet wird sie von Colette und Liane de Pougy, Rivalinnen nicht nur in ihrem Liebesleben, und zwar bisexuell, sondern auch als Literatinnen. Liane, eine der berühmten Kurtisanen der Belle Époque, die ein paar Jahre zuvor von der jungen Natalie Barney verführt - oder vielleicht bekehrt - worden war und diese Affaire 1901 in ihrem Roman "L'Idylle saphique" geschildert hatte, so unverblümt, wie sie in ihrem Tagebuch "Mes Cahiers bleus" auch über Missy urteilen wird (charmant und dumm sei sie), Liane also trägt ihre famosen Perlenketten, Colette hingegen ein provozierendes Hundehalsband, "auf dem, so flüsterte man sich zu, geschrieben steht: ,Ich gehöre Missy.'"

Man könnte dieses wie tausend andere Details dieser Biographie pedantisch einbetten in die politische und kulturelle Geschichte, könnte also das Hundehalsband als "Zitat" ausweisen, wodurch die etwas peinliche Eigentumsfrage ironisiert, zugleich aber auch pekunisiert würde: Ausgerechnet Zola, dessen Romane, als er noch lebte, für Colette einzig hinsichtlich der Auflagenhöhe als Maßstab galten, läßt in "Son Excellence Eugène Rougon" (1876) die stolze Contessa Balbi auf einem Wohltätigkeitsbasar mit einem Hundehalsband auftreten, das verkündet: "Ich gehöre meinem Herrn", und ganz Paris weiß, wer das ist, der Kaiser höchstselbst, und ergeht sich in Mutmaßungen über die Kaufsumme.

Hätte man Colette auf diesen Bezug hingewiesen, sie hätte wohl nur mit den Achseln gezuckt. Das erlaubt es auch den Literaturwissenschaftlerinnen Claude Francis und Fernande Gontier, in ihrer Biographie solche Hintergründe zu ignorieren. Sie halten sich entschlossen an den Horizont der Heldin. Unter den annähernd tausend Zeitgenossen, die da in Erscheinung treten, gibt es auch etliche berühmt gewordene; sie erfahren keine Sonderbehandlung, sondern interessieren nur in dem Maße, wie Colette sich für sie interessierte. Proust zum Beispiel taucht ein paarmal flüchtig auf, aber daß er im vierten Band der "Recherche" (1921) Colettes Milieu als "Sodom und Gomorrha" beschrieb, wird nur ganz beiläufig erwähnt. Gertrude Stein und ihr Kreis von der "left bank" scheinen für Colette nicht existiert zu haben. Dreyfus "spaltete Paris", aber Colette und ihr erster Mann Willy lehnen es ab, Partei zu ergreifen - weiteres erfährt man nicht.

Solche Mängel sind der bescheidene Preis für eine aufs Justament eingeschworene, streng herozentrische Biographie. Sie imponiert als hochkonzentrierter Klatsch-Extrakt, der gefeit ist gegen jede Versuchung zur Tiefe und Weite. Nörgler könnten einwenden, das Material, auf das sich die Darstellung stützt - Briefe, Memoiren, Autobiographisches in mehr oder weniger literarisierter Form, Zeitungsartikel in eigener oder fremder Sache, kurz: der schriftliche Niederschlag von Eitelkeit, Eifersucht, Begierde, Haß und so weiter -, sei sehr verdächtig. Das stimmt. Das ganze Leben ist verdächtig, seine Authentizität ein Hirngespinst. Deshalb wird der Autorinnen faszinierter Blick auf die Oberfläche - wer mit wem und wie gewandet - dem wilden, exhibitionistischen Leben der Colette durchaus gerecht; jedenfalls hätte sie selbst es wohl so gesehen. Als Proust, dreiundzwanzigjährig, dem neuen ephebischen Star der Pariser Salons ein von Mythologie triefendes Kompliment machte, das in der Eloge gipfelte: "Ah! Sie träumen wie der junge Narziß - Bitternis und Lust erfüllen Ihre Seele", entgegnete seine Tischnachbarin mampfend: "Sie irren, mein Herr, nichts anderes erfüllt meine Seele als weiße Bohnen und Selchspeck."

Apropos Speck: Der Presto-Stil der Biographie wird in dem Maße gemächlicher, wie Colette zunimmt an Würde und Gewicht, also etwa seit der Mitte der zwanziger Jahre. Liane de Pougys böse Zunge hatte schon 1918 gezischt: "Ich habe gesehen, wie sie tanzte und sich gierig den Bauch vollstopfte, direkt neben einem Totenzimmer und dem Leichnam einer Frau, die sie am Vortag geliebt hatte . . . Arme, arme Colette . . . vom Fett aufgedunsen, von Groll, Haß und Ehrgeiz erfüllt. Es heißt, sie trachtet nach dem Ordensband der Ehrenlegion."

Das tat sie. Und die Ehren kamen. Es kam auch der literarische Ruhm. Nicht mehr der hektische, flüchtige von einst, sondern ein gesetzter Ruhm. Briefe aus aller Welt, Zuspruch von namhaften Autoren. Aber was ist das schon, gemessen an dem Rausch, in den die frühen Romane und ihre Bühnenfassungen das Publikum versetzt hatten. Die kniestrümpfige Heldin der Claudine-Tetralogie wurde fast über Nacht zum neuen Sexsymbol, die Freudenhäuser stellten sich darauf ein, die einschlägigen Etablissements nahmen Claudine-Nummern in ihr Programm auf, bald gab es auch Claudine-Eis, -Kuchen, -Parfum, -Zigaretten und so weiter. Nicht, daß diese Popularität gegen die betreffenden Romane spräche. Es ist schlimmer: nur ihrer Wirkung wegen interessieren wir uns noch für sie. Was machte Claudine und ihre Nachfolgerinnen bis zu Mitsou zu Identifikationsfiguren? Daß sie autobiographisch begründet sind? Das sind zahllose andere Romane auch. Daß sie ehrlich sind? Sie sind es nicht, Colette fummelte ständig an ihrer Biographie im Banne neuer Launen. Daß sie verborgene Wünsche, den erotischen Hunger und Durst einer Generation hemmungslos zum Ausdruck bringen? Das vielleicht. Sie enthüllen "das bestgehütete Geheimnis des Fleisches", wie Gide 1920 über "Chéri" urteilte.

Die späteren Romane und Romanessays dagegen, die Francis und Gontier uns als große Literatur nahebringen wollen, sind nur zweiter oder dritter Aufguß, literarisch ein bißchen angehoben, ins Seriöse gewendet. Cocteau sagte im Jahr vor Colettes Tod mit Hintersinn: "Colettes Leben. Skandal auf Skandal. Und dann nimmt alles eine neue Wendung . . . Sie beschließt ihr Dasein aus Pantomimen, Schönheitsinstituten und alten Lesbierinnen in einer Apotheose der Respektabilität." Anders gesagt: es endet im Absurden, dieses lange turbulente Leben (1873 bis 1954), das sie mehr durchtanzte als durchschritt, bis ihre Arthritis sie in den Rollstuhl zwang; dieses revolutionäre Leben, das der Befreiung und Vergöttlichung des Fleisches gewidmet war - "La Chair" hieß ihre erfolgreichste Pantomime, um 1910 trat sie sechshundertmal als Yulka auf und entblößte ihre Brüste, bis das selbst in der Provinz keinen Anstoß mehr erregte - und das schon in den dreißiger Jahren unzeitgemäß wurde, weil eine neue Generation die erkämpfte Fleischeslust verdarb durch Hygiene, Sport und Diät.

In ihren Feuilletons, diesen unnachahmlichen Pastiches aus Scharfsinn, Sensibilität und Bosheit (die in der Biographie leider unbeachtet bleiben), porträtiert sie gelegentlich die nachwachsenden Schönheiten "mit dem Profil eines Ardennerpferdes", zum Beispiel so (1932): "Sie haben gröbere Nasen seit kurzer Zeit . . ., weil sie in verdammenswerter Weise mager geworden sind . . . Von der Höhe meiner zweiundsiebzig Kilo herab höre ich eine ,entfleischte' Jugend husten, sehe ich Nieren wandern, Magen sich senken . . . Das Abhobeln, der große Fluch über das Fleisch, hat beim Busen angefangen . . ." Nur eine Stelle des Körpers trotzt diesem Fluch: "Und das Zahnfleisch, das unsere Schöne uns zeigt, wenn sie ganz zufällig lacht? Wo bekam sie all das Zahnfleisch her? Dieses Zahnfleisch einer Schwangeren im neunten Monat?"

Die deutsche Übersetzung des im vergangenen Jahr in Paris erschienenen Buches ist farbig und pointiert und begeht von den syntaktischen Sünden, die heute an der Tagesordnung sind, kaum das übliche Maß.

Claude Francis und Fernande Gontier: "Colette". Biographie. Aus dem Französischen übersetzt von Linda Gränz. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1998. 580 S., 35 Abb., geb., 58,- DM.

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