»EIN BUCH, DAS HOFFNUNG GIBT. MÖGE CHANEL MILLERS MUT ANSTECKEND SEIN.«
Margarete Stokowski
Unter dem Pseudonym Emily Doe verlas sie vor Gericht einen Brief an den Mann, der sie nach einer Party an der Stanford University vergewaltigt hatte und zu nur sechs Monaten Haft verurteilt worden war. Der Text erreichte Millionen Menschen weltweit, der Kongress debattierte über den Fall, der zuständige Richter wurde abgesetzt, und man änderte die Gesetze in Kalifornien, um Opfer zu schützen. Wortmächtig beschreibt Chanel Miller, wie es sich anfühlt, den eigenen Körper wie eine Jacke abstreifen zu wollen. Wie unsere Gesellschaft über den Alkoholkonsum, die Kleidung und das Liebesleben von Frauen urteilt. Ihre Geschichte zeigt, dass Sprache die Kraft hat, zu heilen und Veränderungen herbeizuführen.
Der New-York-Times-Bestseller - jetzt auf Deutsch.
Pressestimmen
»Eine wunderbar geschriebene, kraftvolle und wichtige Geschichte ... Dieses Buch verdientes, überall gelesen zu werden-und vor allem sollte die nächste Generation junger Männer es lesen...« New York Times
»Chanel Miller hat ein Talent für eindringliche Sätze« Süddeutsche Zeitung
»In einer Welt, in der immer noch zu viele Überlebende sexueller Gewalt ihre Erfahrungen für sich behalten und ihr eigenes Leid herunterspielen müssen ... nimmt Ich habe einen Namen eine wichtige Position ein; die Autorin beweist darin ihre schillernde Präsenz und lässt sich nicht länger schmälern. Trotz allem stimmt die Lektüre hoffnungsvoll.« Guardian
»[Millers] Stil ist zugänglich und effektvoll, ihr komödiantisches Talent ... scheint selbst in dieser düsteren Erzählung durch, ihre Metaphern ... sind kristallklar« Vogue
Margarete Stokowski
Unter dem Pseudonym Emily Doe verlas sie vor Gericht einen Brief an den Mann, der sie nach einer Party an der Stanford University vergewaltigt hatte und zu nur sechs Monaten Haft verurteilt worden war. Der Text erreichte Millionen Menschen weltweit, der Kongress debattierte über den Fall, der zuständige Richter wurde abgesetzt, und man änderte die Gesetze in Kalifornien, um Opfer zu schützen. Wortmächtig beschreibt Chanel Miller, wie es sich anfühlt, den eigenen Körper wie eine Jacke abstreifen zu wollen. Wie unsere Gesellschaft über den Alkoholkonsum, die Kleidung und das Liebesleben von Frauen urteilt. Ihre Geschichte zeigt, dass Sprache die Kraft hat, zu heilen und Veränderungen herbeizuführen.
Der New-York-Times-Bestseller - jetzt auf Deutsch.
Pressestimmen
»Eine wunderbar geschriebene, kraftvolle und wichtige Geschichte ... Dieses Buch verdientes, überall gelesen zu werden-und vor allem sollte die nächste Generation junger Männer es lesen...« New York Times
»Chanel Miller hat ein Talent für eindringliche Sätze« Süddeutsche Zeitung
»In einer Welt, in der immer noch zu viele Überlebende sexueller Gewalt ihre Erfahrungen für sich behalten und ihr eigenes Leid herunterspielen müssen ... nimmt Ich habe einen Namen eine wichtige Position ein; die Autorin beweist darin ihre schillernde Präsenz und lässt sich nicht länger schmälern. Trotz allem stimmt die Lektüre hoffnungsvoll.« Guardian
»[Millers] Stil ist zugänglich und effektvoll, ihr komödiantisches Talent ... scheint selbst in dieser düsteren Erzählung durch, ihre Metaphern ... sind kristallklar« Vogue
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2019Sie hat nun einen Namen
Als anonymes Opfer wurde sie bekannt - jetzt hat Chanel Miller ihr Pseudonym abgelegt / Von Leonie Feuerbach
FRANKFURT, 21. Oktober. Die erste Welle des Entsetzens spürte Chanel Miller, als sie am 18. Januar 2015 im Universitätskrankenhaus von Stanford auf die Toilette ging, sich unter dem Klinikkittel den Slip herunterziehen wollte - und ins Leere griff. Sie konnte sich an nichts erinnern und hatte sich bis dahin eingeredet, es sei ein Missverständnis, dass man sie wegen eines sexuellen Übergriffs ins Krankenhaus gebracht hatte. Sie wurde eingehend untersucht. Fotos zeigten Kiefernnadeln im Haar, Abschürfungen an Nacken, Schlüsselbein und Po. Man fragte sie, ob sie Anzeige erstatten wollte. In den Gerichtsakten wurde sie zu Emily Doe.
Anderthalb Jahre später, nach zermürbenden Prozesstagen und unzähligen Wellen immer tieferer Verzweiflung, wurde der Täter zu sechs Monaten Haft verurteilt. Eine längere Strafe, so der Richter, wäre ein "schwerer Schlag" für den jungen Mann gewesen, der als "vielversprechender" Student und Schwimmer in Stanford galt. Der Fall rief damals in aller Welt Aufsehen hervor. Die Erklärung, die Emily Doe vor Gericht verlas, wurde millionenfach gelesen und geteilt. An diesem Dienstag erscheint Chanel Millers Buch "Ich habe einen Namen" im Ullstein-Verlag: Die Siebenundzwanzigjährige lässt das Pseudonym aus den Akten hinter sich.
Chanel Miller überlebte 2014 den Amoklauf von Elliot Rodger, der sechs Personen tötete, weil er sich vom anderen Geschlecht abgewiesen fühlte. Nachdem ihr Peiniger mit einer milden Strafe davongekommen war, wurde Donald Trump zum Präsidenten Amerikas gewählt und Brett Kavanaugh von ihm zum Obersten Richter ernannt, obwohl beiden sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. "Erst beim Schreiben wurde mir klar, wie all das zusammenhängt", erzählt Chanel Miller. "Es sind alles Symptome eines größeren Problems, eines Musters von männlichem Anspruchsdenken, das besagt: ,Wenn ich nicht kriege, was ich will, wirst du dafür bezahlen.' Und dieses sexuelle Anspruchsdenken hat nichts damit zu tun, welches Kleid eine Frau trug oder wie betrunken sie war. Aber indem sie sich immer wieder auf solche Fragen stürzt, trägt die Gesellschaft zu diesem Muster bei."
Am 17. Januar 2015 hatte Chanel Miller, damals 22, ihre jüngere Schwester und deren Freundinnen auf die Party einer Verbindung in Stanford begleitet. Miller hatte das College schon verlassen und arbeitete bei einem Start-up in ihrer Geburtsstadt Palo Alto in Kalifornien. Sie hatte viel getrunken, vertrug aber weniger als zu College-Zeiten. In jener Nacht wurde sie halb nackt, ohne Handy oder Portemonnaie, bewusstlos hinter einer Mülltonne in der Nähe des Verbindungshauses aufgefunden. Ein Mann, der schon mit den Fingern in sie eingedrungen war und sich wohl gerade an seiner Hose zu schaffen machte, als zwei schwedische Austauschstudenten ihn entdeckten und überwältigten, kam in Untersuchungshaft.
Vor Gericht bat der Vater des Täters den Richter, "twenty minutes of action" nicht das Leben seines Sohns ruinieren zu lassen. Als der erste Artikel zum Fall erschien, war Brock Turner schon gegen eine Kaution in Höhe von 150 000 Dollar freigelassen worden. In dem Text stand, dass der Neunzehnjährige, Student im ersten Semester, in der Highschool zweimal den Rekord seines Bundesstaats im Freistil gebrochen hatte. Die Kommentare darunter lauteten: "Was hatte eine College-Absolventin auf einer Verbindungsparty zu suchen?", "Wieso betrinkt sich irgendeine Frau dermaßen?" und "Es gibt Frauen da draußen, die echten Missbrauch erleiden."
Das Muster sollte sich im Prozess wiederholen. Der Verteidiger befragte Miller ausführlich zu ihrem Alkoholkonsum an jenem Abend und hob Turners Talente hervor, seinen Wunsch, als Schwimmer bei Olympia anzutreten. Millers Ziele und Talente spielten hingegen keine Rolle. Als sie ihre wortgewaltige Erklärung verlas, wurde spekuliert, ein Anwalt für misshandelte Frauen habe es verfasst. Schließlich war sie nur ein Opfer, eine junge Frau, die einen Fehler begangen und zu viel getrunken hatte. In den Augen mancher Männer schien dieser Fehler nicht weniger schwer zu wiegen als das Verbrechen Turners - in den Augen mancher Frauen aber auch.
"Frauen wollen sich mit Opfern nicht identifizieren", vermutet Chanel Miller. "Sie wollen im Glauben weiterleben, dass ihnen selbst so etwas niemals passieren könnte, weil sie sich nicht so leichtsinnig verhalten würden." Viele schreckten davor zurück zu erkennen, dass auch sie jederzeit Opfer werden könnten.
Es spricht aber vieles dafür, dass genau das die traurige Realität ist. Manchen Umfragen zufolge werden 20 Prozent aller Studentinnen an amerikanischen Universitäten Opfer sexueller Belästigung. "Wenn jede fünfte Frau auf dem Campus eine schlimme Krankheit hätte, würde die Universitätsleitung laut und deutlich sagen, dass es so nicht weitergeht und etwas dagegen unternehmen", sagt Chanel Miller. "Sexuelle Übergriffe hingegen werden meist verschwiegen behandelt, denn die Unis sind um ihren Ruf besorgt."
So klar war vor drei Jahren auch ihre Erklärung vor Gericht, formuliert als ein Brief von Emily Doe an ihren Peiniger. Er begann mit den Worten: "Du kennst mich nicht, aber du warst in mir und deshalb sind wir heute hier." Und es endet mit: "An die Mädchen auf der ganzen Welt: Ich bin bei euch." Im Internet wurde ihre Erklärung millionenfach gelesen, und Hillary Clinton zitierte daraus in ihrer Rede zum Eingeständnis ihrer Niederlage bei den Präsidentenwahlen. Die MeToo-Bewegung nahm erst ein Jahr später Fahrt auf, trotzdem betrachten viele Millers Erklärung als eine von vielen Initialzündungen. "Jede Stimme hat einen Einfluss, auch wenn der vielleicht nicht immer messbar ist", sagt Miller dazu. "Mir hat MeToo Mut gemacht, meine Geschichte unter meinem richtigen Namen zu veröffentlichen. Denn als alle diese Frauen mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen sind, habe ich sie nicht nur als Opfer gesehen, sondern als komplexe, beeindruckende Persönlichkeiten."
Jahrelang hat dennoch vor allem das Chanel Millers Leben dominiert: dass sie Opfer geworden war. Sie verbarrikadierte die Fenster, konnte nur bei Licht schlafen, drückte sich jeden Morgen einen eiskalten Löffel mit der Unterseite auf ihre vom Weinen geschwollenen Augen, wollte nicht mehr weiterleben. Noch heute stellt sie sich jedes Mal, wenn sie abends ausgeht, vor, wie sie den Abend vor Gericht erklären würde: Warum sie ein zweites Glas Wein getrunken habe und warum sie nach Hause gelaufen sei, statt ein Taxi zu nehmen? Doch die Stimmen in ihrem Kopf werden leiser. Es war hilfreich, die künstliche Spaltung ihrer Identität in Emily Doe und Chanel Miller zu beenden.
Und auch der weitere Verlauf der Ereignisse half ihr: Der Richter, auf den ihre Erklärung wenig Eindruck gemacht hatte, wurde im Juni 2018 abgewählt. Außerdem wurde die Gesetzeslage in Kalifornien verändert und die Definition von Vergewaltigung erweitert, die Strafen wurden verschärft. Brock Turners Berufung scheiterte im August 2018 vor Gericht, es wird keine weiteren Verhandlungstage geben. "Ich kann jetzt machen, was ich will", sagt Chanel Miller. Vor allem will sie weiter Bücher schreiben, am liebsten für Kinder, und sie selbst illustrieren: "Die Zukunft gehört mir."
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als anonymes Opfer wurde sie bekannt - jetzt hat Chanel Miller ihr Pseudonym abgelegt / Von Leonie Feuerbach
FRANKFURT, 21. Oktober. Die erste Welle des Entsetzens spürte Chanel Miller, als sie am 18. Januar 2015 im Universitätskrankenhaus von Stanford auf die Toilette ging, sich unter dem Klinikkittel den Slip herunterziehen wollte - und ins Leere griff. Sie konnte sich an nichts erinnern und hatte sich bis dahin eingeredet, es sei ein Missverständnis, dass man sie wegen eines sexuellen Übergriffs ins Krankenhaus gebracht hatte. Sie wurde eingehend untersucht. Fotos zeigten Kiefernnadeln im Haar, Abschürfungen an Nacken, Schlüsselbein und Po. Man fragte sie, ob sie Anzeige erstatten wollte. In den Gerichtsakten wurde sie zu Emily Doe.
Anderthalb Jahre später, nach zermürbenden Prozesstagen und unzähligen Wellen immer tieferer Verzweiflung, wurde der Täter zu sechs Monaten Haft verurteilt. Eine längere Strafe, so der Richter, wäre ein "schwerer Schlag" für den jungen Mann gewesen, der als "vielversprechender" Student und Schwimmer in Stanford galt. Der Fall rief damals in aller Welt Aufsehen hervor. Die Erklärung, die Emily Doe vor Gericht verlas, wurde millionenfach gelesen und geteilt. An diesem Dienstag erscheint Chanel Millers Buch "Ich habe einen Namen" im Ullstein-Verlag: Die Siebenundzwanzigjährige lässt das Pseudonym aus den Akten hinter sich.
Chanel Miller überlebte 2014 den Amoklauf von Elliot Rodger, der sechs Personen tötete, weil er sich vom anderen Geschlecht abgewiesen fühlte. Nachdem ihr Peiniger mit einer milden Strafe davongekommen war, wurde Donald Trump zum Präsidenten Amerikas gewählt und Brett Kavanaugh von ihm zum Obersten Richter ernannt, obwohl beiden sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. "Erst beim Schreiben wurde mir klar, wie all das zusammenhängt", erzählt Chanel Miller. "Es sind alles Symptome eines größeren Problems, eines Musters von männlichem Anspruchsdenken, das besagt: ,Wenn ich nicht kriege, was ich will, wirst du dafür bezahlen.' Und dieses sexuelle Anspruchsdenken hat nichts damit zu tun, welches Kleid eine Frau trug oder wie betrunken sie war. Aber indem sie sich immer wieder auf solche Fragen stürzt, trägt die Gesellschaft zu diesem Muster bei."
Am 17. Januar 2015 hatte Chanel Miller, damals 22, ihre jüngere Schwester und deren Freundinnen auf die Party einer Verbindung in Stanford begleitet. Miller hatte das College schon verlassen und arbeitete bei einem Start-up in ihrer Geburtsstadt Palo Alto in Kalifornien. Sie hatte viel getrunken, vertrug aber weniger als zu College-Zeiten. In jener Nacht wurde sie halb nackt, ohne Handy oder Portemonnaie, bewusstlos hinter einer Mülltonne in der Nähe des Verbindungshauses aufgefunden. Ein Mann, der schon mit den Fingern in sie eingedrungen war und sich wohl gerade an seiner Hose zu schaffen machte, als zwei schwedische Austauschstudenten ihn entdeckten und überwältigten, kam in Untersuchungshaft.
Vor Gericht bat der Vater des Täters den Richter, "twenty minutes of action" nicht das Leben seines Sohns ruinieren zu lassen. Als der erste Artikel zum Fall erschien, war Brock Turner schon gegen eine Kaution in Höhe von 150 000 Dollar freigelassen worden. In dem Text stand, dass der Neunzehnjährige, Student im ersten Semester, in der Highschool zweimal den Rekord seines Bundesstaats im Freistil gebrochen hatte. Die Kommentare darunter lauteten: "Was hatte eine College-Absolventin auf einer Verbindungsparty zu suchen?", "Wieso betrinkt sich irgendeine Frau dermaßen?" und "Es gibt Frauen da draußen, die echten Missbrauch erleiden."
Das Muster sollte sich im Prozess wiederholen. Der Verteidiger befragte Miller ausführlich zu ihrem Alkoholkonsum an jenem Abend und hob Turners Talente hervor, seinen Wunsch, als Schwimmer bei Olympia anzutreten. Millers Ziele und Talente spielten hingegen keine Rolle. Als sie ihre wortgewaltige Erklärung verlas, wurde spekuliert, ein Anwalt für misshandelte Frauen habe es verfasst. Schließlich war sie nur ein Opfer, eine junge Frau, die einen Fehler begangen und zu viel getrunken hatte. In den Augen mancher Männer schien dieser Fehler nicht weniger schwer zu wiegen als das Verbrechen Turners - in den Augen mancher Frauen aber auch.
"Frauen wollen sich mit Opfern nicht identifizieren", vermutet Chanel Miller. "Sie wollen im Glauben weiterleben, dass ihnen selbst so etwas niemals passieren könnte, weil sie sich nicht so leichtsinnig verhalten würden." Viele schreckten davor zurück zu erkennen, dass auch sie jederzeit Opfer werden könnten.
Es spricht aber vieles dafür, dass genau das die traurige Realität ist. Manchen Umfragen zufolge werden 20 Prozent aller Studentinnen an amerikanischen Universitäten Opfer sexueller Belästigung. "Wenn jede fünfte Frau auf dem Campus eine schlimme Krankheit hätte, würde die Universitätsleitung laut und deutlich sagen, dass es so nicht weitergeht und etwas dagegen unternehmen", sagt Chanel Miller. "Sexuelle Übergriffe hingegen werden meist verschwiegen behandelt, denn die Unis sind um ihren Ruf besorgt."
So klar war vor drei Jahren auch ihre Erklärung vor Gericht, formuliert als ein Brief von Emily Doe an ihren Peiniger. Er begann mit den Worten: "Du kennst mich nicht, aber du warst in mir und deshalb sind wir heute hier." Und es endet mit: "An die Mädchen auf der ganzen Welt: Ich bin bei euch." Im Internet wurde ihre Erklärung millionenfach gelesen, und Hillary Clinton zitierte daraus in ihrer Rede zum Eingeständnis ihrer Niederlage bei den Präsidentenwahlen. Die MeToo-Bewegung nahm erst ein Jahr später Fahrt auf, trotzdem betrachten viele Millers Erklärung als eine von vielen Initialzündungen. "Jede Stimme hat einen Einfluss, auch wenn der vielleicht nicht immer messbar ist", sagt Miller dazu. "Mir hat MeToo Mut gemacht, meine Geschichte unter meinem richtigen Namen zu veröffentlichen. Denn als alle diese Frauen mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen sind, habe ich sie nicht nur als Opfer gesehen, sondern als komplexe, beeindruckende Persönlichkeiten."
Jahrelang hat dennoch vor allem das Chanel Millers Leben dominiert: dass sie Opfer geworden war. Sie verbarrikadierte die Fenster, konnte nur bei Licht schlafen, drückte sich jeden Morgen einen eiskalten Löffel mit der Unterseite auf ihre vom Weinen geschwollenen Augen, wollte nicht mehr weiterleben. Noch heute stellt sie sich jedes Mal, wenn sie abends ausgeht, vor, wie sie den Abend vor Gericht erklären würde: Warum sie ein zweites Glas Wein getrunken habe und warum sie nach Hause gelaufen sei, statt ein Taxi zu nehmen? Doch die Stimmen in ihrem Kopf werden leiser. Es war hilfreich, die künstliche Spaltung ihrer Identität in Emily Doe und Chanel Miller zu beenden.
Und auch der weitere Verlauf der Ereignisse half ihr: Der Richter, auf den ihre Erklärung wenig Eindruck gemacht hatte, wurde im Juni 2018 abgewählt. Außerdem wurde die Gesetzeslage in Kalifornien verändert und die Definition von Vergewaltigung erweitert, die Strafen wurden verschärft. Brock Turners Berufung scheiterte im August 2018 vor Gericht, es wird keine weiteren Verhandlungstage geben. "Ich kann jetzt machen, was ich will", sagt Chanel Miller. Vor allem will sie weiter Bücher schreiben, am liebsten für Kinder, und sie selbst illustrieren: "Die Zukunft gehört mir."
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Kim Kindermann hält Chanel Millers Aufarbeitung ihrer Vergewaltigung für wichtige Lektüre. Opfern von sexueller Gewalt gibt die Autorin damit ihre Stimme zurück, so Kindermann, auch wenn die Beschreibungen der Tat schwer erträglich sind. Nicht minder berühren Kindermann Millers Schilderungen des Geschehens nach der Tat. Wie Polizei und Gerichte mit dem Thema umgehen, wie die Gesellschaft Geschlecht und Sexualität versteht, schließlich wie das Opfer ins Leben zurückfindet - all das erfährt Kindermann hier auf aufrüttelnde Weise.
© Perlentaucher Medien GmbH
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