Als im Jahr 2000 'Die Welt als Supermarkt' erschien, stellte der Tages-Anzeiger fest: "Den wahren Houellebecq trifft man in seinem Essayband. Der vermeintliche Nihilist und Zyniker analysiert darin die halbe Gegenwart." Nun folgt endlich ein neuer Band mit Aufsätzen und Interviews. Vielen seiner Bewunderer gelten die Essays als sein eigentliches Hauptwerk: Houellebecq pur, die Essenz seines Schaffens. Hier offenbart er erneut die Qualitäten eines großen Erzählers, der Subjektivität und Allgemeingültigkeit auf fesselnde Weise vermengt. Uns tritt ein Autor entgegen, der auf der Höhe seiner Fähigkeiten das tut, was er wie wenige beherrscht: Er formt Expeditionen ins Herz der Gesellschaft zu messerscharfen Analysen des Zeitgeists, die mal lakonisch, mal mit unerwarteter Wärme, aber immer aufrichtig und unbestechlich geschrieben sind. Die skurrile Tragikomödie, die wir alle miteinander auf der Bühne des absurden Menschheitstheaters aufführen, hat einen schonungslosen Rezensenten gefunden. Denn was Michel Houellebecq hier betreibt, ist keine Sozial- oder Kulturkritik - es ist nicht weniger als Weltkritik.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2010Da seufzt ganz Paris
Der Fiktion unterlegen: Essays von Houellebecq
Von Wolfgang Schneider
Man könnte meinen, dass Michel Houellebecq alle Voraussetzungen für einen begnadeten Essayisten mitbringt. Schon seine Romane sind um starke Thesen gebaut; in ihrer polemischen Kraft und ihrer analytischen Durchdringung gesellschaftlicher Phänomene haben sie essayistische Qualitäten. Bei Lektüre von Houellebecqs neuem Band mit "Interventionen" stellt man allerdings fest, dass seine strong opinions ohne fiktionale Einkleidung, ohne die Figuren, die an Lebensöde, Konsum und Sexmangel verzweifeln, mitunter wacklig und fleischlos wirken.
Seine Ausführungen mäandrieren vor sich hin, um dann unversehens zuzustechen. Er führt etwa im Aufsatz über die Theoretikerin der Männervernichtung, Valerie Solanas, Selbsttäuschungen des Feminismus vor: Ist ja klar, dass ein Schriftsteller, der die Misere des männlichen Angestellten-Daseins beschrieben hat, den Appetit der Frauen aufs Berufsleben nur verspotten kann. Oder er analysiert die Ableitungsfunktion des Kinderschänder-Diskurses: "Mir scheint, als sei der Pädophile der ideale Sündenbock einer Gesellschaft, die alles dafür tut, die Begierde zu wecken, ohne die Mittel zu ihrer Befriedigung bereitzustellen." Houellebecq lässt keinen Zweifel an der kriminellen Verwerflichkeit der Tat, wenn er den Täter als Jammergestalt zeichnet: "Er ist das abscheulichste und zugleich lächerlichste Wesen der Welt. Er ist alt, widerwärtig, sein Gewissen ist belastet - und er ist nicht einmal Schriftsteller!"
Houellebecq liebt es, Provokationen im Ton bloßer Feststellungen vorzubringen. Vor einem Jahrzehnt hat er den Islam als die "wirklich dümmste aller Religionen" bezeichnet; er kritisiert weiterhin die wachsende Unfreiheit im Gespräch über Glaubensfragen. Der islamische Fundamentalismus sei kein Ausrutscher, sondern eine plausible Interpretation des Korans, meint er und bleibt trotzdem optimistisch: Der Glaube an Gott werde weiter abnehmen - "wenn nichts dazwischenkommt". Von anderen Islamkritikern unterscheidet er sich durch seine vernichtende Haltung zur eigenen Kultur: "Der Westen ist für ein menschenwürdiges Leben ungeeignet. Es gibt eigentlich nur eine Sache, die man hier tun kann, nämlich Geld verdienen." Das tut Houellebecq, indem er in Nebensätzen die verblichenen Leit-Intellektuellen Sartre, Beauvoir, Bourdieu abfertigt, alle hätten sie keine Ahnung von Naturwissenschaften und Biologie gehabt, anders als er: der Autor der "Elementarteilchen" hat Agrarwissenschaft studiert. Statt Sartre hat der junge Houellebecq also Bücher über Ackerbau und massenhaft Science-fiction gelesen. In "Dem 20. Jahrhundert entwachsen" variiert er eine alte Grundsatzfrage: Konnte oder durfte man nach Hiroshima überhaupt noch Science-fiction schreiben? Man konnte zwar, aber nicht mehr wie zuvor. Der banale Optimismus des Genres war verflogen; die Utopien bekamen die Schlagseite ins Pessimistische.
Der Biologist Houellebecq - er würde das Etikett sicher als Kompliment verstehen - ist auch über die Vererbbarkeit wenig erfreulicher Eigenschaften beglückt. Die Liebe zu seinem Sohn, verrät er in einem Essay, wachse jedes Mal, "wenn ich in ihm Spuren meiner eigenen Fehler wiedererkenne". Ein bei der Lektüre zum Vorschein kommender Fehler dieser "Interventionen" besteht darin, dass die Kontexte der Debatten, in die Houellebecq eingreift, außerhalb Frankreichs kaum bekannt sind. Der Essay "Philippe Muray im Jahre 2002" etwa stellt uns vor das Problem, dass der Autor - und seine außerordentlichen Leistungen im Jahr 2002 - hierzulande bisher kein Echo fanden. So wundert es nicht, dass die französische Originalausgabe in deutscher Fassung auf ein Drittel geschrumpft ist. Einige Stücke von internationaler Relevanz sind übrig geblieben, wie etwa die schöne Hommage auf Neil Young. Die zerbrechliche Schönheit seiner Lieder und die "seltsamen Seufzer" seiner Gitarre lassen das Herz des Zynikers bluten. Es brauche "einen wirklich großen Künstler, um den Mut aufzubringen, sentimental zu sein".
Auch diesen Mut darf man Houellebecq, dem Don Quijote der Glückssuche, attestieren. Sein größtes Kapital ist die Authentizität als Schmerzensmann. "Über sich selbst zu reden ist mühsam und sogar widerlich. Doch in der Literatur ist es die einzige Sache, die sich lohnt", schreibt er. Denn "die Menschen gleichen einander viel mehr, als sie sich in ihrer Überheblichkeit ausmalen" - und so stellt der Schriftsteller Allgemeingültigkeit her, indem er möglichst taktlos von sich selbst spricht.
Michel Houellebecq: "Ich habe einen Traum". Neue Interventionen. Aus dem Französischen von Hella Faust.
DuMont Verlag, Köln 2010. 109 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Fiktion unterlegen: Essays von Houellebecq
Von Wolfgang Schneider
Man könnte meinen, dass Michel Houellebecq alle Voraussetzungen für einen begnadeten Essayisten mitbringt. Schon seine Romane sind um starke Thesen gebaut; in ihrer polemischen Kraft und ihrer analytischen Durchdringung gesellschaftlicher Phänomene haben sie essayistische Qualitäten. Bei Lektüre von Houellebecqs neuem Band mit "Interventionen" stellt man allerdings fest, dass seine strong opinions ohne fiktionale Einkleidung, ohne die Figuren, die an Lebensöde, Konsum und Sexmangel verzweifeln, mitunter wacklig und fleischlos wirken.
Seine Ausführungen mäandrieren vor sich hin, um dann unversehens zuzustechen. Er führt etwa im Aufsatz über die Theoretikerin der Männervernichtung, Valerie Solanas, Selbsttäuschungen des Feminismus vor: Ist ja klar, dass ein Schriftsteller, der die Misere des männlichen Angestellten-Daseins beschrieben hat, den Appetit der Frauen aufs Berufsleben nur verspotten kann. Oder er analysiert die Ableitungsfunktion des Kinderschänder-Diskurses: "Mir scheint, als sei der Pädophile der ideale Sündenbock einer Gesellschaft, die alles dafür tut, die Begierde zu wecken, ohne die Mittel zu ihrer Befriedigung bereitzustellen." Houellebecq lässt keinen Zweifel an der kriminellen Verwerflichkeit der Tat, wenn er den Täter als Jammergestalt zeichnet: "Er ist das abscheulichste und zugleich lächerlichste Wesen der Welt. Er ist alt, widerwärtig, sein Gewissen ist belastet - und er ist nicht einmal Schriftsteller!"
Houellebecq liebt es, Provokationen im Ton bloßer Feststellungen vorzubringen. Vor einem Jahrzehnt hat er den Islam als die "wirklich dümmste aller Religionen" bezeichnet; er kritisiert weiterhin die wachsende Unfreiheit im Gespräch über Glaubensfragen. Der islamische Fundamentalismus sei kein Ausrutscher, sondern eine plausible Interpretation des Korans, meint er und bleibt trotzdem optimistisch: Der Glaube an Gott werde weiter abnehmen - "wenn nichts dazwischenkommt". Von anderen Islamkritikern unterscheidet er sich durch seine vernichtende Haltung zur eigenen Kultur: "Der Westen ist für ein menschenwürdiges Leben ungeeignet. Es gibt eigentlich nur eine Sache, die man hier tun kann, nämlich Geld verdienen." Das tut Houellebecq, indem er in Nebensätzen die verblichenen Leit-Intellektuellen Sartre, Beauvoir, Bourdieu abfertigt, alle hätten sie keine Ahnung von Naturwissenschaften und Biologie gehabt, anders als er: der Autor der "Elementarteilchen" hat Agrarwissenschaft studiert. Statt Sartre hat der junge Houellebecq also Bücher über Ackerbau und massenhaft Science-fiction gelesen. In "Dem 20. Jahrhundert entwachsen" variiert er eine alte Grundsatzfrage: Konnte oder durfte man nach Hiroshima überhaupt noch Science-fiction schreiben? Man konnte zwar, aber nicht mehr wie zuvor. Der banale Optimismus des Genres war verflogen; die Utopien bekamen die Schlagseite ins Pessimistische.
Der Biologist Houellebecq - er würde das Etikett sicher als Kompliment verstehen - ist auch über die Vererbbarkeit wenig erfreulicher Eigenschaften beglückt. Die Liebe zu seinem Sohn, verrät er in einem Essay, wachse jedes Mal, "wenn ich in ihm Spuren meiner eigenen Fehler wiedererkenne". Ein bei der Lektüre zum Vorschein kommender Fehler dieser "Interventionen" besteht darin, dass die Kontexte der Debatten, in die Houellebecq eingreift, außerhalb Frankreichs kaum bekannt sind. Der Essay "Philippe Muray im Jahre 2002" etwa stellt uns vor das Problem, dass der Autor - und seine außerordentlichen Leistungen im Jahr 2002 - hierzulande bisher kein Echo fanden. So wundert es nicht, dass die französische Originalausgabe in deutscher Fassung auf ein Drittel geschrumpft ist. Einige Stücke von internationaler Relevanz sind übrig geblieben, wie etwa die schöne Hommage auf Neil Young. Die zerbrechliche Schönheit seiner Lieder und die "seltsamen Seufzer" seiner Gitarre lassen das Herz des Zynikers bluten. Es brauche "einen wirklich großen Künstler, um den Mut aufzubringen, sentimental zu sein".
Auch diesen Mut darf man Houellebecq, dem Don Quijote der Glückssuche, attestieren. Sein größtes Kapital ist die Authentizität als Schmerzensmann. "Über sich selbst zu reden ist mühsam und sogar widerlich. Doch in der Literatur ist es die einzige Sache, die sich lohnt", schreibt er. Denn "die Menschen gleichen einander viel mehr, als sie sich in ihrer Überheblichkeit ausmalen" - und so stellt der Schriftsteller Allgemeingültigkeit her, indem er möglichst taktlos von sich selbst spricht.
Michel Houellebecq: "Ich habe einen Traum". Neue Interventionen. Aus dem Französischen von Hella Faust.
DuMont Verlag, Köln 2010. 109 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In seinen Romanen lässt es der stets provokationsfreudige Michel Houellebecq an großen und größeren Thesen, und seien sie auch implizit formuliert, selten fehlen. Eigentlich, denkt Wolfgang Schneider erst mal, müsste ihn das doch zum glänzenden und spannenden Essayisten prädestinieren. Leider aber ist er das, wie die Lektüre dieses Bandes dem Rezensenten verdeutlicht, dann doch nicht, oder jedenfalls nur bei eher selten aufblitzender Gelegenheit. Gewiss, die "strong opinions" bleiben vorhanden, nur hängen sie, ohne Figuren, die sie verkörpern oder auf die der Autor sie appliziert, oft sehr in der Luft. Es geht thematisch in dieser Sammlung um aus den Romanen Vertrautes, von scharfer Islamkritik bis zu noch schärferer Kritik an der eigenen konsumistischen Kältekultur. Der Bezug auf innerfranzösische Debatten hat dabei zu starken Kürzungen in der deutschen Ausgabe geführt, wie Schneider ohne großes Bedauern ausführt. Am überzeugendsten findet er Houellebecq letztlich immer dann, wenn er sich selbst als "authentischen Schmerzensmann" ins Spiel bringt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Mit flotten, mitunter derben Strichen wirft Houellebecq ein Panorama der Kunst- und Medienszene des frühen 21. Jahrhunderts hin." BUCHKULTUR