Was tun, wenn's nicht mehr brennt? Wenn Träume, Socken, Ziele und Liebhaber durcheinandergeraten, Erschöpfung die Wut ablöst und
einem die Ausreden langsam ausgehen?
In einer Krise gibt es nichts Besseres als Freunde, denen es richtig mies geht. Dies ist ihre Geschichte.
«Realisten wie Clemens Meyer und Lucy Fricke reißen mit dem Schaufelbagger tiefe Löcher in den Stadtasphalt und sind einfach nur begeisterungswürdig. Große Literatur zum Anschnallen.»
WDR
einem die Ausreden langsam ausgehen?
In einer Krise gibt es nichts Besseres als Freunde, denen es richtig mies geht. Dies ist ihre Geschichte.
«Realisten wie Clemens Meyer und Lucy Fricke reißen mit dem Schaufelbagger tiefe Löcher in den Stadtasphalt und sind einfach nur begeisterungswürdig. Große Literatur zum Anschnallen.»
WDR
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2010Ein Leben voller Anschlussfehler
Scheitern im Quadrat: Lucy Fricke hat mit ihrem zweiten Roman "Ich habe Freunde mitgebracht" ein modernes Großstadtmärchen verfasst. Flucht ist hier immer eine Option.
Architektur hat mit Kunst nichts zu tun, ist reine Gedankenarbeit", hat Egon Eiermann, der Vorzeigebaumeister der deutschen Nachkriegsmoderne, einmal gesagt: "Architektur entsteht heute nach ökonomischen, konstruktiven und funktionellen Gesetzmäßigkeiten." Vielleicht täte auch der Literatur von Zeit zu Zeit eine Distanzierung vom Genialischen gut. Eine mathematisch optimierte Ökonomie des Erzählens ist schließlich nichts Verwerfliches. Es können ja nicht ausschließlich Luftschlösser errichtet werden. Alltagsliteratur kommt ohne überwältigende Fassaden aus, reüssiert auch nicht postmodern mit nach außen gekehrtem Konstruktionsprinzip, obgleich die Struktur durchaus sichtbar ist, aber sie besteht eben aus schlichten Stützwänden und Stürzen. Von diesem Schlag ist der neue, zweite und wieder höchst gewitzt erzählte Roman der Hamburg-Berliner Autorin Lucy Fricke.
Will man in der Allegorie bleiben, dann ist der Bauplan von "Ich habe Freunde mitgebracht" jener des Hauses vom Nikolaus. An den vier Ecken des Quadrats befinden sich - auch über Kreuz miteinander verbunden - die vier Thirtysomethings Martha, Henning, Betty und Jon, aus Versehen erwachsen gewordene Großstädter, die alle irgendwas mit Medien machen. Oben, am First des Daches, finden wir noch Gerl, Jons Mutter. Sie ist halbwegs zufällig Fluchtpunkt in der dunkelsten Stunde unserer Helden ("dass der vielbeschworene Zenit erreicht war, dass es von nun an bergabgehen würde, das hatte keiner geglaubt") und Ausgangspunkt einer neuen Reise: "Nur wenig später sah man einen Bus in Tukanblau die Allee hinunterrasen, am Steuer eine Frau mit Mütze und Sonnenbrille, die ein Herrenhemd trug und in das Blitzgerät winkte."
Martha und Henning sind ein Paar, Betty und Jon gäben bei aller zelebrierten Abstoßung zumindest ein gutes ab, wobei sich hier die Männer und Frauen an ihre Geschlechtsgenossen halten, wenn es etwas zu beklagen gibt, was eigentlich ständig der Fall ist. Der unverbrüchlichen Freundschaft entgegengesetzt nämlich ist ein Überbietungswettbewerb im Dreckiggehen. Ihren liebenswürdig schluffigen Charakteren gesteht die nur scheinbar glücksfeenhafte Autorin zunächst die Erfüllung der größten Sehnsüchte zu, um sie gleich darauf alle vier um so tiefer fallen zu lassen. Martha, eine neurotische Nachrichtensprecherin, die jeden Sommer "aus Nostalgie" ihren Freund zu verlassen versucht ("Flucht ist immer eine Option"), aber nicht wirklich an Alternativen interessiert scheint: "Mal mit Wetter und Verkehr geknutscht, vielleicht auch zweimal", ist endlich schwanger. Das bedeutet einen gewaltigen Schreck für Henning ("ein Kind schrie nach Ordnung, nach sicheren Verhältnissen"), doch auch der schwimmt bald auf einer Welle des Hochgefühls, schließlich bekommt er, Malocher im Zeichentrickgewerbe und doch von nordkoreanischer Billigkonkurrenz hoffnungslos unterboten, das Angebot seines Lebens: einen eigenen Comic zu veröffentlichen. Und auch Jon, Schönling und Schauspielniete, der es bislang nur bis zur Leiche gebracht hat, wird eine große Rolle angeboten: "Jon war ready. Das war seine Chance."
Für Betty, wie die Autorin vor ihrer Schriftstellerkarriere als "Script/Continuity" beim Film tätig, ist das Leben voller Anschlussfehler. Der neueste heißt "Herr M." und war wieder der Richtige und doch der Falsche: "Wenn die Kinder nicht wären, die Eigentumswohnung nicht gerade erst angezahlt, die Schwiegermutter nicht im Sterben läge, der Urlaub nicht längst gebucht und nächste Woche auch noch der Vierzigste seiner Frau, wenn sie nicht gerade den Kuchen gebacken hätten, den Fischfond angesetzt, den Braten eingelegt, wenn das ,Zeit'-Abo nicht verlängert worden wäre und die Flatrate gebucht, dann könnte alles ganz anders und auch so richtig schön, dann könnten sie die ganze Welt, könnten so richtig glücklich sein, mit allem Drum und Dran."
Betty also stürzt als Erste, randaliert bei der Arbeit, wird eingeliefert und sieht etwas theatralisch nur noch einen letzten Ausweg. Aber da durchlebt auch Martha bereits Traumatisches, und beide richten sich notdürftig aneinander auf. Hennings Comic entwickelt sich derweil sehr anders als erwartet, und Jon wird - mit Berufung auf den zuständigen Redakteur: ",Öffentlich-rechtlich', fluchte er, ,Arsch offen haben die doch.'" - vom Produzenten gefeuert, worauf er sich mit Kunstblut übergießt, die Sitze des Filmset-Wohnmobils aufschlitzt und verloren durch Berlin torkelt, wo ihn bald ein Wagen überfährt, derselbe, der zuvor Henning umgefahren hat, darin Martha und Betty. Das ist nicht unauthentisch konstruiert, sondern arithmetisch. Das Gute an der Arithmetik aber ist ihre moralische Neutralität, ja Gutmütigkeit: Wundersamerweise nämlich verschwinden negative Vorzeichen bei der Quadrierung. Nichts jedenfalls scheint zur Leidlinderung besser geeignet als Leid hoch zwei, auch wenn das den vier Autoinsassen - Betty und Martha haben die Verletzten ("Was ist bloß mit euch Frauen los?") denn doch eingesammelt - erst allmählich klar wird.
Ob und wie das alles wieder ins Lot kommt, muss man selbst lesen in diesem gutgelaunten Berlin-Roman, dessen Verfilmung mit Moritz Bleibtreu und Konsorten wohl nur eine Frage der Zeit ist. Verraten sei aber, dass das Meer, ein tukanblaues Wohnmobil, Alkohol, Sibirien und Gerls Frage: "Kann es sein, dass deine Freunde keine Eier haben?" dabei eine Rolle spielen. Schönste, gewichtlose Gedankenarbeit.
OLIVER JUNGEN
Lucy Fricke: "Ich habe Freunde mitgebracht". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. 192 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Scheitern im Quadrat: Lucy Fricke hat mit ihrem zweiten Roman "Ich habe Freunde mitgebracht" ein modernes Großstadtmärchen verfasst. Flucht ist hier immer eine Option.
Architektur hat mit Kunst nichts zu tun, ist reine Gedankenarbeit", hat Egon Eiermann, der Vorzeigebaumeister der deutschen Nachkriegsmoderne, einmal gesagt: "Architektur entsteht heute nach ökonomischen, konstruktiven und funktionellen Gesetzmäßigkeiten." Vielleicht täte auch der Literatur von Zeit zu Zeit eine Distanzierung vom Genialischen gut. Eine mathematisch optimierte Ökonomie des Erzählens ist schließlich nichts Verwerfliches. Es können ja nicht ausschließlich Luftschlösser errichtet werden. Alltagsliteratur kommt ohne überwältigende Fassaden aus, reüssiert auch nicht postmodern mit nach außen gekehrtem Konstruktionsprinzip, obgleich die Struktur durchaus sichtbar ist, aber sie besteht eben aus schlichten Stützwänden und Stürzen. Von diesem Schlag ist der neue, zweite und wieder höchst gewitzt erzählte Roman der Hamburg-Berliner Autorin Lucy Fricke.
Will man in der Allegorie bleiben, dann ist der Bauplan von "Ich habe Freunde mitgebracht" jener des Hauses vom Nikolaus. An den vier Ecken des Quadrats befinden sich - auch über Kreuz miteinander verbunden - die vier Thirtysomethings Martha, Henning, Betty und Jon, aus Versehen erwachsen gewordene Großstädter, die alle irgendwas mit Medien machen. Oben, am First des Daches, finden wir noch Gerl, Jons Mutter. Sie ist halbwegs zufällig Fluchtpunkt in der dunkelsten Stunde unserer Helden ("dass der vielbeschworene Zenit erreicht war, dass es von nun an bergabgehen würde, das hatte keiner geglaubt") und Ausgangspunkt einer neuen Reise: "Nur wenig später sah man einen Bus in Tukanblau die Allee hinunterrasen, am Steuer eine Frau mit Mütze und Sonnenbrille, die ein Herrenhemd trug und in das Blitzgerät winkte."
Martha und Henning sind ein Paar, Betty und Jon gäben bei aller zelebrierten Abstoßung zumindest ein gutes ab, wobei sich hier die Männer und Frauen an ihre Geschlechtsgenossen halten, wenn es etwas zu beklagen gibt, was eigentlich ständig der Fall ist. Der unverbrüchlichen Freundschaft entgegengesetzt nämlich ist ein Überbietungswettbewerb im Dreckiggehen. Ihren liebenswürdig schluffigen Charakteren gesteht die nur scheinbar glücksfeenhafte Autorin zunächst die Erfüllung der größten Sehnsüchte zu, um sie gleich darauf alle vier um so tiefer fallen zu lassen. Martha, eine neurotische Nachrichtensprecherin, die jeden Sommer "aus Nostalgie" ihren Freund zu verlassen versucht ("Flucht ist immer eine Option"), aber nicht wirklich an Alternativen interessiert scheint: "Mal mit Wetter und Verkehr geknutscht, vielleicht auch zweimal", ist endlich schwanger. Das bedeutet einen gewaltigen Schreck für Henning ("ein Kind schrie nach Ordnung, nach sicheren Verhältnissen"), doch auch der schwimmt bald auf einer Welle des Hochgefühls, schließlich bekommt er, Malocher im Zeichentrickgewerbe und doch von nordkoreanischer Billigkonkurrenz hoffnungslos unterboten, das Angebot seines Lebens: einen eigenen Comic zu veröffentlichen. Und auch Jon, Schönling und Schauspielniete, der es bislang nur bis zur Leiche gebracht hat, wird eine große Rolle angeboten: "Jon war ready. Das war seine Chance."
Für Betty, wie die Autorin vor ihrer Schriftstellerkarriere als "Script/Continuity" beim Film tätig, ist das Leben voller Anschlussfehler. Der neueste heißt "Herr M." und war wieder der Richtige und doch der Falsche: "Wenn die Kinder nicht wären, die Eigentumswohnung nicht gerade erst angezahlt, die Schwiegermutter nicht im Sterben läge, der Urlaub nicht längst gebucht und nächste Woche auch noch der Vierzigste seiner Frau, wenn sie nicht gerade den Kuchen gebacken hätten, den Fischfond angesetzt, den Braten eingelegt, wenn das ,Zeit'-Abo nicht verlängert worden wäre und die Flatrate gebucht, dann könnte alles ganz anders und auch so richtig schön, dann könnten sie die ganze Welt, könnten so richtig glücklich sein, mit allem Drum und Dran."
Betty also stürzt als Erste, randaliert bei der Arbeit, wird eingeliefert und sieht etwas theatralisch nur noch einen letzten Ausweg. Aber da durchlebt auch Martha bereits Traumatisches, und beide richten sich notdürftig aneinander auf. Hennings Comic entwickelt sich derweil sehr anders als erwartet, und Jon wird - mit Berufung auf den zuständigen Redakteur: ",Öffentlich-rechtlich', fluchte er, ,Arsch offen haben die doch.'" - vom Produzenten gefeuert, worauf er sich mit Kunstblut übergießt, die Sitze des Filmset-Wohnmobils aufschlitzt und verloren durch Berlin torkelt, wo ihn bald ein Wagen überfährt, derselbe, der zuvor Henning umgefahren hat, darin Martha und Betty. Das ist nicht unauthentisch konstruiert, sondern arithmetisch. Das Gute an der Arithmetik aber ist ihre moralische Neutralität, ja Gutmütigkeit: Wundersamerweise nämlich verschwinden negative Vorzeichen bei der Quadrierung. Nichts jedenfalls scheint zur Leidlinderung besser geeignet als Leid hoch zwei, auch wenn das den vier Autoinsassen - Betty und Martha haben die Verletzten ("Was ist bloß mit euch Frauen los?") denn doch eingesammelt - erst allmählich klar wird.
Ob und wie das alles wieder ins Lot kommt, muss man selbst lesen in diesem gutgelaunten Berlin-Roman, dessen Verfilmung mit Moritz Bleibtreu und Konsorten wohl nur eine Frage der Zeit ist. Verraten sei aber, dass das Meer, ein tukanblaues Wohnmobil, Alkohol, Sibirien und Gerls Frage: "Kann es sein, dass deine Freunde keine Eier haben?" dabei eine Rolle spielen. Schönste, gewichtlose Gedankenarbeit.
OLIVER JUNGEN
Lucy Fricke: "Ich habe Freunde mitgebracht". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. 192 S., geb., 16,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kunstlos, aber gut gebaut findet Oliver Jungen diesen zweiten Roman von Lucy Fricke aus dem "gutgelaunten Berlin der Thirtysomethings" mit ihren Beziehungs- und Jobproblemen "bei den Medien" (gähn). Erstaunlich: Obwohl Jungen die Verfilmung mit Moritz Bleibtreu schon vor sich sieht und er die "moralische Neutralität" (Indifferenz!) der Erzählhaltung preist, hält er das Buch für schön, weil "arithmetisch" konstruiert. Jungen muss wirklich heftig gute Laune haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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