Marktplatzangebote
7 Angebote ab € 1,00 €
  • Broschiertes Buch

Mitten im besten Restaurant Berns erschießt der brave Beamte Wilhelm Gess einen friedlich speisenden Bundesrat. Da er nach seiner Verhaftung hartnäckig schweigt, macht sich ein Journalist daran, das Leben des Täters zu rekonstruieren und seine Motive zu klären. Er stößt auf eine verblüffende, schillernde Vergangenheit.

Produktbeschreibung
Mitten im besten Restaurant Berns erschießt der brave Beamte Wilhelm Gess einen friedlich speisenden Bundesrat. Da er nach seiner Verhaftung hartnäckig schweigt, macht sich ein Journalist daran, das Leben des Täters zu rekonstruieren und seine Motive zu klären. Er stößt auf eine verblüffende, schillernde Vergangenheit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.1996

Beben am Mythenstein
Verstehen wir: Christoph Keller hätte die Schweiz gern flach

In Schweizer Restaurants, so scheint es, ißt man gefährlich. Noch ist der Schuß vom März 1955 auf den Germanistik-Professor und Alt-Kantonsrat Adolf Winter im Zürcher Café "Du Théâtre" in guter Erinnerung, da hören wir von dem Mord am Bundesrat Hans Lüthi im Berner "National", gleich gegenüber dem Bundeshaus. Sollten prominente Eidgenossen ihre Rösti besser in schußsicherer Weste verzehren?

Die Taten gleichen einander. Beide Male betrat ein bisher unbescholtener Schweizer Bürger ein vollbesetztes Restaurant, näherte sich dem arglos und allein speisenden Opfer, grüßte es sogar in einem Fall, schoß es dann nieder, so daß der Kopf in die Tournedos Rossini beziehungsweise den Apfelstrudel kippte, und verließ sodann seelenruhig und ungehindert das Lokal. Der eine Täter ging ins Konzert, der andere nach Hause, aber keiner machte auch nur den geringsten Versuch, sich der Justiz zu entziehen. Ja, es hat sogar den Anschein, als ob das, was nun folgte, der eigentliche Anlaß zur Tat gewesen war.

Der erste Fall erregte beträchtliches Aufsehen, allerdings nicht in den Nachrichtenspalten der Blätter, sondern im Feuilleton. Regisseur der Tat war Friedrich Dürrenmatt, der in seinem letzten Roman "Justiz" aus dem Jahr 1985 dem Mord am Tisch und seinen verschlungenen Motiven nachging. Der zweite Mord, der sich am 16. Juni 1993 zugetragen haben soll, wartet noch auf solches Aufsehen, aber immerhin hat er seinem Regisseur, dem jungen Schweizer Autor Christoph Keller, bereits einen Literaturpreis eingebracht.

Nachahmungstaten im Bereich der Literatur pflegt man Plagiate zu nennen. Einen offenen oder verstohlenen und zugleich dankbaren Verweis auf Dürrenmatt habe ich bei Keller nicht gefunden. Aber Schießen ist bei den Schweizern wohl eine nationale Selbstverständlichkeit, und das nicht nur wegen der amtlichen Maschinenpistole im Kleiderschrank aller wehrfähigen Bürger. Denn ist nicht die ganze Schweizer Nation letztlich auf eine Armbrust gegründet? Kellers Mörder ist der zur Tatzeit zweiunddreißigjährige Wilhelm Gess, Sachbearbeiter bei der Ausgleichskasse St. Gallen und Vater eines Sohnes namens Walter. Wir spüren das Beben am Mythenstein. Tell und Geßler diesmal in einer Person?

Als Max Frischs "Wilhelm Tell für die Schule" 1971 erschien, war Keller zwölf. Vermutlich hat die Lektion gefruchtet, denn Heroisches ist diesem Gess nicht abzugewinnen. Der Männerbund, dem er angehört und der sich an geheimen Orten trifft, widmet sich der Kochkunst statt der Rütlischwüre. Was Gess zur Tat treibt, wird auch am Ende des Romans nicht offenbar. Es dennoch erraten zu lassen, wurde das Buch geschrieben.

Kellers Fiktion ist die des untersuchenden Journalisten, dem es nicht zukommt, ein Urteil zu fällen. So erfahren die Leser am Ende nur das, was Angehörige und Zeugen erzählen, und das ist im Grunde nicht viel. Für Politik hat sich dieser Wilhelm Gess nicht interessiert, Waffen mag er erst recht nicht, und den Supermärkten zieht er die Feinkostgeschäfte vor. Ehrgeiz fehlt ihm, dafür liest er viel und bekennt seiner Mutter: "Das Leben ist ein Märchen, erzählt von einem Narren, voller Schall und Wut und ohne Bedeutung." Befreit er sich als ein moderner Herostrat durch den Schuß "von seiner Mittelmäßigkeit", wie sein Bruder August meint?

Nicht im Vaterland, dem teuren, liegen die Wurzeln der Kraft dieses neuen Tell. Er ist fest eingebunden in das Netz von Familienbeziehungen, das sein Autor sorgfältig zwischen den Figuren knüpft. Eine Schillersche Hedwig ("Bei jedem Abschied zittert mir das Herz") ist diesem Wilhelm nicht gegeben. Sonja, die im Fitness-Studio arbeitet, ist eine von jenen "selbstsüchtigen Zicken", die die Männer sitzen lassen, wenn sie alles von ihnen bekommen haben. Das jedenfalls meint Franz Gess, der Vater, was ihn nicht hindert, sondern eher anregt, mit der Schwiegertochter zu schlafen - soweit man seiner Aussage glauben darf.

Hätte Wilhelm Gess statt Lüthi lieber Sonja oder "seine Mutter erschießen" sollen, die nach Meinung des Vaters der "Ursprung aller seiner Komplexe" war? Ist am Ende die eigene Ehe oder die gescheiterte der Eltern schuld an seiner Tat? Oder hat er, wiederum nach Ansicht des Vaters, dann doch vielmehr "den Apfelschuß korrigiert" und damit "die zeitgenössische Version dieses lästigen Mythos" geliefert, der die Schweiz hindert, "eine moderne Nation zu sein"? Trifft er mit dem Nationalrat auch sein Land mitten ins Herz, allerdings mit der Wirkung, daß dadurch die Schweiz "europafähig" wird, weil nun auch sie ihren Terroristen hat?

Daß Deutsche, die etwas auf sich halten, ihr Vaterland nicht mögen, versteht sich von selbst. Weshalb soll man einem jungen Schweizer Autor nicht Gleiches zugestehen? Nur sind die Versuche, ein anderer sein zu wollen als der, der man ist, gewöhnlich weder sehr überzeugend noch sehr eindrucksvoll. Daß man das Land gern flach hätte, wenn man im Gebirge wohnt, ist kein besonders produktiver Wunsch. So aber lautet der Titel von Kellers Buch, nur sind es freilich nicht seine eigenen Worte, sondern es ist Zitat aus dem Gedicht "Nomaden" von Günter Eich. Ein weiteres Mal ankert der Roman im Boden der Literatur. Nadine, die Großmutter von Gess, hat ihrem Sohn die Lyrik Eichs nahegebracht, sozusagen als Antidot zu den religiösen Traktaten der katholischen Schwiegertochter, und der Vater hat das Interesse an den Sohn weitergegeben.

Die Sensibilisierung durch Eichs Verse und Prosa hatte nun allerdings so etwas wie eine Desozialisation von Sohn und Enkel zur Folge. Das mag eine erwünschte Reaktion in einer saturierten, selbstgefälligen Gesellschaft sein, aber es könnte im vorliegenden Fall auch so etwas wie die Übersetzung von Eichs sanftem Anarchismus in einen blutigen bedeuten. So war es aber wohl nicht gemeint.

Kellers Denkmal für Günter Eich ist jedenfalls eine verdiente Ehrung. Aber sie hat einen Haken. In einem Roman ist sie selbst Literatur und eine Metapher. Die Kunst des Lesens besteht wesentlich darin, Metaphernsprache zu entziffern und zu verstehen, die Kunst des Schreibens in dem Geschick, sie lesbar zu machen. Wie hoch man auch von Eichs Werk denken mag - der Bezug darauf ist eine Sache für Eingeweihte, und als zentrale Metapher für einen Roman bringt sie diesen um jene öffentliche Wirkung, die die Tat seines Helden haben sollte. Keller erzählt also letztlich auch von der Mühsal des Geschichtenerzählens bei so viel vorhandener Literatur. GERHARD SCHULZ

Christoph Keller: "Ich hätte das Land gern flach". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1996. 287 S., geb., 38,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr