Mitten in der Nacht klingelt das Handy der 16-jährigen Tori. Der Anrufer heißt Andy und behauptet, Tori rein zufällig angerufen zu haben. Andy bittet Tori, ihm einen einzigen Grund zu nennen, warum er nicht Selbstmord begehen soll. Ausgerechnet Tori! Sie, die beschuldigt wird, mit ihren Posts auf Facebook einen Mitschüler in den Freitod getrieben zu haben. Will Andy sie nur vorführen? Aber was, wenn er die Wahrheit sagt? Wenn er wirklich seine große Liebe verloren hat? Und nun mit seinem Wagen an der Klippe steht, bereit, sich hinunterzustürzen? Tori muss etwas einfallen, und zwar schnell! Freundschaft in den Zeiten von Social Media - ein spannender Roman zu einem aktuellen Thema.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2015Nächtliches
Tribunal
„Ich hätte es wissen müssen“, ein Roman von
Tom Leveen über jugendliches Mobbing im Netz
VON FRITZ GÖTTLER
Kann das Zufall sein? Oder sollte es eine zweite Chance bedeuten für Victoria? Eine Bewährungsprobe, eine Art Wiedergutmachung? Victoria aus dem Städtchen Canyon City in Arizona, von den Freunden und Freundinnen Tori, vom Bruder Jack auch immer wieder Vic genannt, hat Schuld auf sich geladen. Nun kriegt sie nachts einen seltsamen Anruf, da hat einer willkürlich eine Nummer gewählt und ist bei ihr gelandet. Ein Junge, den sie nicht kennt und der sich Andy nennt, er sitzt in einem Auto und es klingt erschreckend, was er vorzuhaben scheint: „Ich werde meinen Fuß von der Bremse nehmen, das Gaspedal durchtreten und einfach den Berg runter in den Abgrund fahren . . . Keine Ahnung, ob das Auto explodiert oder nicht. Wahrscheinlich passiert so etwas nur im Film. Aber ich bin ziemlich hoch oben und der Abgrund ist verdammt tief. Ich glaube, es wird reichen. Die Leitplanken sind total morsch. Ich meine, das ist fast schon lebensgefährlich hier.“
Victoria hat einen schweren Tag vor sich, sie soll vor Gericht erscheinen, mit ein paar Freunden, ist angeklagt, den Selbstmord Kevins, eines Mitschülers, verursacht zu haben. Im schlimmsten Fall drohen ihr einige Jahre Gefängnis. Vor dem Elternhaus lauert die Schar der Reporter, schrill und drängend. „Warum zählt es als Straftat, auf einen Pferdehintern zu schießen, während es gleichzeitig ungestraft bleibt, den Tod eines Jugendlichen zu provozieren?“ Mit diesem Satz hatte eine Reporterin in einem aggressiven Artikel die Jagd auf Victoria eröffnet. Kevin Cooper war in den sozialen Netzwerken böse gehänselt und gehetzt worden – „halt die fresse cooper du mieses stück scheiße. halt die fresse stirb schwuchtel.“
Auch Tori hat dabei mitgemacht, in jener Mischung aus Naivität und jugendlicher Boshaftigkeit, die die Aktivitäten auf Facebook auszeichnen. Mit wenig Gespür dafür, was sie mit ihren schnellen, rotzigen Reaktionen auslösen könnte. Ist Tori schuld, muss sie verurteilt und bestraft werden dafür, dass sie die Verzweiflung Kevins nicht ernst genommen hat? Wie kann das zur Deckung kommen, die moralische und die gesellschaftliche Schuld? Und welche Rolle spielt am Ende der Zufall – „Random“ ist der Originaltitel. Das Buch zeichnet die endlosen, quälenden Überlegungen und Erklärungen nach, in die die Kids sich in dieser Nacht verstricken. Immer wieder setzt Andy nach, und Tori bemüht sich, ihn zu retten, ihm den Selbstmord auszureden. Ein unerbittliches Tribunal, das manchmal wie eine traurige Komödie klingt.
Der Autor Tom Leveen hat lange, bevor er Romane zu schreiben begann, am Theater gearbeitet, davon hat das Buch seine Lässigkeit, aber auch einen merkwürdigen melodramatischen Touch. Es ist eine harte Nacht für alle. „Mein altes Ich“, sagt Victoria fühlt sich an, als wäre es schon vor langer zeit verschwunden. Ich bin nicht sicher, ob ich dieses Mädchen überhaupt wiedererkennen würde.“
Tom Leveen: Ich hätte es wissen müssen. Roman. Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt. Hanser, München 2015. 207 Seiten, 15,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tribunal
„Ich hätte es wissen müssen“, ein Roman von
Tom Leveen über jugendliches Mobbing im Netz
VON FRITZ GÖTTLER
Kann das Zufall sein? Oder sollte es eine zweite Chance bedeuten für Victoria? Eine Bewährungsprobe, eine Art Wiedergutmachung? Victoria aus dem Städtchen Canyon City in Arizona, von den Freunden und Freundinnen Tori, vom Bruder Jack auch immer wieder Vic genannt, hat Schuld auf sich geladen. Nun kriegt sie nachts einen seltsamen Anruf, da hat einer willkürlich eine Nummer gewählt und ist bei ihr gelandet. Ein Junge, den sie nicht kennt und der sich Andy nennt, er sitzt in einem Auto und es klingt erschreckend, was er vorzuhaben scheint: „Ich werde meinen Fuß von der Bremse nehmen, das Gaspedal durchtreten und einfach den Berg runter in den Abgrund fahren . . . Keine Ahnung, ob das Auto explodiert oder nicht. Wahrscheinlich passiert so etwas nur im Film. Aber ich bin ziemlich hoch oben und der Abgrund ist verdammt tief. Ich glaube, es wird reichen. Die Leitplanken sind total morsch. Ich meine, das ist fast schon lebensgefährlich hier.“
Victoria hat einen schweren Tag vor sich, sie soll vor Gericht erscheinen, mit ein paar Freunden, ist angeklagt, den Selbstmord Kevins, eines Mitschülers, verursacht zu haben. Im schlimmsten Fall drohen ihr einige Jahre Gefängnis. Vor dem Elternhaus lauert die Schar der Reporter, schrill und drängend. „Warum zählt es als Straftat, auf einen Pferdehintern zu schießen, während es gleichzeitig ungestraft bleibt, den Tod eines Jugendlichen zu provozieren?“ Mit diesem Satz hatte eine Reporterin in einem aggressiven Artikel die Jagd auf Victoria eröffnet. Kevin Cooper war in den sozialen Netzwerken böse gehänselt und gehetzt worden – „halt die fresse cooper du mieses stück scheiße. halt die fresse stirb schwuchtel.“
Auch Tori hat dabei mitgemacht, in jener Mischung aus Naivität und jugendlicher Boshaftigkeit, die die Aktivitäten auf Facebook auszeichnen. Mit wenig Gespür dafür, was sie mit ihren schnellen, rotzigen Reaktionen auslösen könnte. Ist Tori schuld, muss sie verurteilt und bestraft werden dafür, dass sie die Verzweiflung Kevins nicht ernst genommen hat? Wie kann das zur Deckung kommen, die moralische und die gesellschaftliche Schuld? Und welche Rolle spielt am Ende der Zufall – „Random“ ist der Originaltitel. Das Buch zeichnet die endlosen, quälenden Überlegungen und Erklärungen nach, in die die Kids sich in dieser Nacht verstricken. Immer wieder setzt Andy nach, und Tori bemüht sich, ihn zu retten, ihm den Selbstmord auszureden. Ein unerbittliches Tribunal, das manchmal wie eine traurige Komödie klingt.
Der Autor Tom Leveen hat lange, bevor er Romane zu schreiben begann, am Theater gearbeitet, davon hat das Buch seine Lässigkeit, aber auch einen merkwürdigen melodramatischen Touch. Es ist eine harte Nacht für alle. „Mein altes Ich“, sagt Victoria fühlt sich an, als wäre es schon vor langer zeit verschwunden. Ich bin nicht sicher, ob ich dieses Mädchen überhaupt wiedererkennen würde.“
Tom Leveen: Ich hätte es wissen müssen. Roman. Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt. Hanser, München 2015. 207 Seiten, 15,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass Tom Leveen am Theater gearbeitet hat, bevor er mit dem Schreiben von Romanen begann, meint Fritz Göttler aus "Ich hätte es wissen müssen" herauslesen zu können - im Guten wie im Schlechten: Einerseits lobt der Kritiker die Lässigkeit, mit der der Autor von seinen jugendlichen (Anti-)Helden und dem Thema "digitales Mobbing" erzähle. Andererseits stört sich Göttler am "merkwürdigen melodramatischen Touch" Leveens. Ansonsten lässt sich der Rezensent kaum eine klare Meinung entlocken, er konzentriert sich auf die Nacherzählung der Geschichte um einen in den Selbstmord getriebenen Schüler und die vermeintlich zweite Chance für eine der Täterinnen. Zufall spiele bei den "endlosen, quälenden Überlegungen und Erklärungen" zur Schuld der Jugendlichen eine Rolle, schreibt Göttler und verweist in diesem Zusammenhang auch auf den englischen Originaltitel "Random".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Dieses Jugendbuch geht unter die Haut und ist sicherlich eines der eindrucksvollsten zum Thema Cybermobbing. ... Die Geschichte eines gnadenlosen Mobbings aus der Sicht einer Täterin ... die dem Leser zu denken gibt. Wirklich empfehlenswert!" Dorle Neumann, Westfälische Nachrichten, 26.02.16
"Ich hätte es wissen müssen gehört definitiv zu den Geschichten, die man dieses Jahr gelesen haben muss. ... Nach der Lektüre sieht man die Welt plötzlich mit anderen Augen und beginnt sein eigenes Handeln zu überdenken." Susann Fleischer, Literaturmarkt Online, 26.11.15
"Ein spannender Roman über die Tücken von Facebook und die Gefahren von Cyber-Mobbing." Hajo Steinert/Ute Wegemann, Deutschlandfunk Büchermarkt, 03.10.15
"Dem Autor gelingt es das Phänomen Cybermobbing auf spannende Weise zu thematisieren und zugleich aufzuzeigen, wie drastisch die Folgen sein können." Christine Steffen, Neue Zürcher Zeitung, 02.09.15
"Ich hätte es wissen müssen gehört definitiv zu den Geschichten, die man dieses Jahr gelesen haben muss. ... Nach der Lektüre sieht man die Welt plötzlich mit anderen Augen und beginnt sein eigenes Handeln zu überdenken." Susann Fleischer, Literaturmarkt Online, 26.11.15
"Ein spannender Roman über die Tücken von Facebook und die Gefahren von Cyber-Mobbing." Hajo Steinert/Ute Wegemann, Deutschlandfunk Büchermarkt, 03.10.15
"Dem Autor gelingt es das Phänomen Cybermobbing auf spannende Weise zu thematisieren und zugleich aufzuzeigen, wie drastisch die Folgen sein können." Christine Steffen, Neue Zürcher Zeitung, 02.09.15