Briefe waren für den Jahrhundertautor Warlam Schalamow unverzichtbares Medium des Nachdenkens über Erlebtes, Gelesenes, Filme oder Ausstellungen, über seine Gedichte und seine Prosa, über das Wesen der Dichtung und der Literatur überhaupt. Briefe überbrückten räumliche Distanzen, sei es 1952-1953 zwischen ihm selbst im sibirischen Jakutien und Boris Pasternak in Moskau oder in den Sommern der 1960er-Jahre, als er sich in Moskau aufhielt und Nadeschda Mandelstam auf dem Land. Mit den Jahren ersetzten Briefe dem Ertaubten zunehmend das mündliche Gespräch. Als seine Erzählungen aus Kolyma in den informellen Kreisen des Samizdat kursierten, aber es keine Möglichkeit gab, mit den Lesern ins Gespräch zu kommen, fand Schalamow in den Briefen das ideale Medium, um sich selbst zu erklären und darzustellen. So eröffnen seine Korrespondenzen vielstimmige, oft überraschende Einblicke in sein Leben, sein Schreiben und das literarische Leben im Moskau der Nachkriegsjahrzehnte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2022Ihr wunderbares Lager ist ja ohne Läuse!
Schreiben nach Kolyma: Der russische Literat Warlam Schalamow gibt mit seinen Briefen aus der Nachkriegszeit Einblicke in die Psyche des Homo Sovieticus
"Kein sowjetischer Schriftsteller, der auf sich hält, wird seine Würde ruinieren und seine Ehre beflecken durch die Publikation seiner Werke in diesem stinkenden antisowjetischen Käseblatt." Diese Worte stammen nicht etwa von dem berüchtigten Kulturpolitiker Andrej Shdanow, der vor dem Westen warnte und gegen Boris Pasternak zu Felde zog. Sie stammen nicht einmal aus der Stalinzeit. Erst 1972 wurden sie formuliert, in einem Brief an die Zeitschrift "Literaturnaja Gaseta" und von keinem Geringeren als Warlam Schalamow. Seine Empörung galt der Tatsache, dass einige seiner "Erzählungen aus Kolyma" in der exilrussischen Zeitung "Possev" erschienen waren. Der dazugehörige Verlag war in der Tat recht schillernd. Einige Mitarbeiter hatten im Zweiten Weltkrieg den Kampf an der Seite der deutschen Armee unterstützt, 1965 aber erschienen bei Possev die "Gedichte Juri Schiwagos" in deutscher Übersetzung. Schalamow beendete seinen Brief mit der kryptischen Feststellung, die "Problematik der ,Erzählungen aus Kolyma' ist vom Leben längst aufgehoben", weshalb es den Herren von Possev nicht gelingen werde, ihn als ,antisowjetischen Untergrundautor und inneren Emigranten' zu präsentieren".
Dabei war nach dem XX. Parteitag der KPdSU auch bei Schalamow die Hoffnung aufgekeimt, "die sowjetische Öffentlichkeit werde sich mit den Terror- und Gewaltexzessen der jüngsten Geschichte auseinandersetzen". Ob und warum es bei Schalamow zu einem solchen Sinneswandel kam, lässt sich kaum sagen. Hatte die Tatsache, dass ebender Chruschtschow der Geheimrede noch im selben Jahr Panzer nach Ungarn geschickt hat, die Hoffnungen gedämpft? Wollte Schalamow eine Diskussion in der Sowjetunion, aber nicht im Westen? Oder muss er, dieser zuverlässige Chronist des Lageralltags, als unzuverlässiger Zeuge in eigener Sache betrachtet werden?
Das Konvolut aus 365 Briefen, Ergebnis einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Korrespondenz, ist in vielerlei Hinsicht ein wertvoller Fundus, lässt den Schreiber als Persönlichkeit jedoch kaum klarer hervortreten. Die Episteln sind nicht chronologisch, sondern nach Adressaten geordnet und richten sich an Schriftsteller, Verwandte und einstige Mithäftlinge.
Den Auftakt bilden Schalamows Briefe an Pasternak, die sich mit ihren poetologischen Ausführungen etwas zäh lesen. Packender ist die Korrespondenz mit Solschenizyn. Da gratuliert Schalamow dem Autor 1962 zunächst zu der "wahrhaftig bewundernswerten Erzählung" des "Iwan Denissowitsch", mahnt aber noch im selben Brief an: "Ihr Lager ist ohne Läuse". Und versteigt sich danach zu der sarkastischen Bemerkung: "Wo ist dieses wunderbare Lager? Hätte ich zu meiner Zeit auch nur ein Jährchen darin sitzen können!" In einem anderen Brief an Solschenizyn wettert er gegen Jewgenija Ginsburg, deren eindrucksvolle Autobiographie - "Gratwanderung" und "Marschroute eines Lebens" - er als "journalistische Stenographie" abtut.
Diese "Memoiren entlarven einen durch und durch falschen Menschen, eine prinzipienlose Karrieristin, die ihre ,Erinnerungen' mit weitreichenden Zielen verfasst hat".
Schalamows Rechthaberei scheint sich mit den Jahren zu verstärken. Das mag auch mit anhaltenden bürokratischen Ungeheuerlichkeiten zu erklären sein, die er erwähnt. So muss er für die Rente Nachweise vorbringen, in Kolyma im GULag tatsächlich gearbeitet zu haben. Doch selbst Mithäftlingen riss irgendwann der Geduldsfaden: "Aber ich mag weder Belehrungen noch Bewertungen aus der Position absoluter Überlegenheit. Ich glaube nicht an solche. Bei keinem."
Eines der Kernthemen des 1907 geborenen Schalamows war die Art des Schreibens nach Kolyma. "Der Leser des 20. Jahrhunderts mag keine ausgedachten Geschichten lesen, er hat keine Zeit für die endlosen ausgedachten Schicksale", schreibt er an Irina Sirotinskaja, seine letzte Liebe. Unvermittelt bekrittelt er nun den Roman Pasternaks. "Das künstlerische Scheitern des ,Doktor Shiwago' ist das Scheitern des Genres. Das Genre ist einfach 'tot'."
Was gilt, ist das Dokument, denn "ohne Dokument gibt es keine Literatur", doch auch das "Dokument reicht nicht aus. Geben muss es eine dokumentarische Prosa, erlitten wie ein Dokument." Das Unergründliche dieses Passus ist keineswegs der Übersetzung Gabriele Leupolds geschuldet, wie folgende Aussage zeigt: "Turgenjew hat Teil an der Verantwortung russischer Schriftsteller des XIX. Jahrhunderts für das Blut, das im XX. Jahrhundert vergossen wurde." Man muss sich die Worte auf der Zunge zergehen lassen. Es sind Mosaiksteine, die zeigen, wie ein Narrativ entsteht: Die Lager haben mehr mit Turgenjew als mit Stalin zu tun.
Als 1987 die Menschenrechtsorganisation Memorial entstand, gingen Hochzeitspaare in Russland nach der Trauung traditionell zur Ewigen Flamme, legten dort Blumen nieder und machten ein Foto. Daran änderte sich nichts, als drei Jahre später dank Memorial mit dem Solowezki-Stein in etlichen Städten auch ein Mahnmal für die Opfer des Stalinismus verfügbar war.
Inzwischen ist Memorial verboten. Seit 2020 hat in der Nacht zum 30. Oktober auch die von der Menschenrechtsorganisation begründete Lesung der Namen der durch politischen Terror in der Sowjetunion getöteten Menschen nicht mehr stattgefunden, angeblich wegen Corona. Schalamow wollte mit seinen "Erzählungen aus Kolyma" gegen das Vergessen anschreiben.
Dabei "war es ihm jedoch nicht so sehr um eine Abrechnung mit dem Sowjetsystem und dessen Gewaltpraktiken zu tun", wie Franziska Thun-Hohenstein, die Herausgeberin der Werke Schalamows, im ersten Band seiner Erzählungen festhält, "sondern vor allem darum, die Fragilität dessen aufzudecken, was wir gewohnt sind, als Zivilisation oder Kultur zu bezeichnen".
Wird darunter auch der Umgang mit der eigenen Geschichte gefasst, bilden Schalamows Briefe eine aufschlussreiche Quelle, um das heutige Fehlen einer Zivilgesellschaft in Russland besser zu verstehen.
Schalamows Erzählungen gehören fraglos zu den beeindruckendsten Werken der sogenannten Lagerliteratur. Ebenso wie Texte von Ginsburg oder Solschenizyn. Schreiben nach Kolyma ist sehr wohl möglich. Woran es allerdings hapert, ist die reflektierende Einordnung dieses Teils der Vergangenheit. Ein Schriftsteller kann dazu einen Beitrag leisten, er muss es aber nicht. Solange er gegen das Vergessen anschreibt, fällt die Aufgabe dafür des Deutens denen zu, die lesen. CHRISTIANE PÖHLMANN
Warlam Schalamow: "Ich kann keine Briefe schreiben". Korrespondenz 1952-1978.
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 751 S., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schreiben nach Kolyma: Der russische Literat Warlam Schalamow gibt mit seinen Briefen aus der Nachkriegszeit Einblicke in die Psyche des Homo Sovieticus
"Kein sowjetischer Schriftsteller, der auf sich hält, wird seine Würde ruinieren und seine Ehre beflecken durch die Publikation seiner Werke in diesem stinkenden antisowjetischen Käseblatt." Diese Worte stammen nicht etwa von dem berüchtigten Kulturpolitiker Andrej Shdanow, der vor dem Westen warnte und gegen Boris Pasternak zu Felde zog. Sie stammen nicht einmal aus der Stalinzeit. Erst 1972 wurden sie formuliert, in einem Brief an die Zeitschrift "Literaturnaja Gaseta" und von keinem Geringeren als Warlam Schalamow. Seine Empörung galt der Tatsache, dass einige seiner "Erzählungen aus Kolyma" in der exilrussischen Zeitung "Possev" erschienen waren. Der dazugehörige Verlag war in der Tat recht schillernd. Einige Mitarbeiter hatten im Zweiten Weltkrieg den Kampf an der Seite der deutschen Armee unterstützt, 1965 aber erschienen bei Possev die "Gedichte Juri Schiwagos" in deutscher Übersetzung. Schalamow beendete seinen Brief mit der kryptischen Feststellung, die "Problematik der ,Erzählungen aus Kolyma' ist vom Leben längst aufgehoben", weshalb es den Herren von Possev nicht gelingen werde, ihn als ,antisowjetischen Untergrundautor und inneren Emigranten' zu präsentieren".
Dabei war nach dem XX. Parteitag der KPdSU auch bei Schalamow die Hoffnung aufgekeimt, "die sowjetische Öffentlichkeit werde sich mit den Terror- und Gewaltexzessen der jüngsten Geschichte auseinandersetzen". Ob und warum es bei Schalamow zu einem solchen Sinneswandel kam, lässt sich kaum sagen. Hatte die Tatsache, dass ebender Chruschtschow der Geheimrede noch im selben Jahr Panzer nach Ungarn geschickt hat, die Hoffnungen gedämpft? Wollte Schalamow eine Diskussion in der Sowjetunion, aber nicht im Westen? Oder muss er, dieser zuverlässige Chronist des Lageralltags, als unzuverlässiger Zeuge in eigener Sache betrachtet werden?
Das Konvolut aus 365 Briefen, Ergebnis einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Korrespondenz, ist in vielerlei Hinsicht ein wertvoller Fundus, lässt den Schreiber als Persönlichkeit jedoch kaum klarer hervortreten. Die Episteln sind nicht chronologisch, sondern nach Adressaten geordnet und richten sich an Schriftsteller, Verwandte und einstige Mithäftlinge.
Den Auftakt bilden Schalamows Briefe an Pasternak, die sich mit ihren poetologischen Ausführungen etwas zäh lesen. Packender ist die Korrespondenz mit Solschenizyn. Da gratuliert Schalamow dem Autor 1962 zunächst zu der "wahrhaftig bewundernswerten Erzählung" des "Iwan Denissowitsch", mahnt aber noch im selben Brief an: "Ihr Lager ist ohne Läuse". Und versteigt sich danach zu der sarkastischen Bemerkung: "Wo ist dieses wunderbare Lager? Hätte ich zu meiner Zeit auch nur ein Jährchen darin sitzen können!" In einem anderen Brief an Solschenizyn wettert er gegen Jewgenija Ginsburg, deren eindrucksvolle Autobiographie - "Gratwanderung" und "Marschroute eines Lebens" - er als "journalistische Stenographie" abtut.
Diese "Memoiren entlarven einen durch und durch falschen Menschen, eine prinzipienlose Karrieristin, die ihre ,Erinnerungen' mit weitreichenden Zielen verfasst hat".
Schalamows Rechthaberei scheint sich mit den Jahren zu verstärken. Das mag auch mit anhaltenden bürokratischen Ungeheuerlichkeiten zu erklären sein, die er erwähnt. So muss er für die Rente Nachweise vorbringen, in Kolyma im GULag tatsächlich gearbeitet zu haben. Doch selbst Mithäftlingen riss irgendwann der Geduldsfaden: "Aber ich mag weder Belehrungen noch Bewertungen aus der Position absoluter Überlegenheit. Ich glaube nicht an solche. Bei keinem."
Eines der Kernthemen des 1907 geborenen Schalamows war die Art des Schreibens nach Kolyma. "Der Leser des 20. Jahrhunderts mag keine ausgedachten Geschichten lesen, er hat keine Zeit für die endlosen ausgedachten Schicksale", schreibt er an Irina Sirotinskaja, seine letzte Liebe. Unvermittelt bekrittelt er nun den Roman Pasternaks. "Das künstlerische Scheitern des ,Doktor Shiwago' ist das Scheitern des Genres. Das Genre ist einfach 'tot'."
Was gilt, ist das Dokument, denn "ohne Dokument gibt es keine Literatur", doch auch das "Dokument reicht nicht aus. Geben muss es eine dokumentarische Prosa, erlitten wie ein Dokument." Das Unergründliche dieses Passus ist keineswegs der Übersetzung Gabriele Leupolds geschuldet, wie folgende Aussage zeigt: "Turgenjew hat Teil an der Verantwortung russischer Schriftsteller des XIX. Jahrhunderts für das Blut, das im XX. Jahrhundert vergossen wurde." Man muss sich die Worte auf der Zunge zergehen lassen. Es sind Mosaiksteine, die zeigen, wie ein Narrativ entsteht: Die Lager haben mehr mit Turgenjew als mit Stalin zu tun.
Als 1987 die Menschenrechtsorganisation Memorial entstand, gingen Hochzeitspaare in Russland nach der Trauung traditionell zur Ewigen Flamme, legten dort Blumen nieder und machten ein Foto. Daran änderte sich nichts, als drei Jahre später dank Memorial mit dem Solowezki-Stein in etlichen Städten auch ein Mahnmal für die Opfer des Stalinismus verfügbar war.
Inzwischen ist Memorial verboten. Seit 2020 hat in der Nacht zum 30. Oktober auch die von der Menschenrechtsorganisation begründete Lesung der Namen der durch politischen Terror in der Sowjetunion getöteten Menschen nicht mehr stattgefunden, angeblich wegen Corona. Schalamow wollte mit seinen "Erzählungen aus Kolyma" gegen das Vergessen anschreiben.
Dabei "war es ihm jedoch nicht so sehr um eine Abrechnung mit dem Sowjetsystem und dessen Gewaltpraktiken zu tun", wie Franziska Thun-Hohenstein, die Herausgeberin der Werke Schalamows, im ersten Band seiner Erzählungen festhält, "sondern vor allem darum, die Fragilität dessen aufzudecken, was wir gewohnt sind, als Zivilisation oder Kultur zu bezeichnen".
Wird darunter auch der Umgang mit der eigenen Geschichte gefasst, bilden Schalamows Briefe eine aufschlussreiche Quelle, um das heutige Fehlen einer Zivilgesellschaft in Russland besser zu verstehen.
Schalamows Erzählungen gehören fraglos zu den beeindruckendsten Werken der sogenannten Lagerliteratur. Ebenso wie Texte von Ginsburg oder Solschenizyn. Schreiben nach Kolyma ist sehr wohl möglich. Woran es allerdings hapert, ist die reflektierende Einordnung dieses Teils der Vergangenheit. Ein Schriftsteller kann dazu einen Beitrag leisten, er muss es aber nicht. Solange er gegen das Vergessen anschreibt, fällt die Aufgabe dafür des Deutens denen zu, die lesen. CHRISTIANE PÖHLMANN
Warlam Schalamow: "Ich kann keine Briefe schreiben". Korrespondenz 1952-1978.
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 751 S., geb., 48,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Ilma Rakusa liest die Korrespondenz von Warlam Schalamow, herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein, mit Spannung. Der Autor ist noch zu entdecken, meint sie. Schalamows authentische Darstellungen aus dem Gulag sind für so erschütternd wie großartig, weil sie zeigen, was ein Mensch dem Grauen künstlerisch abtrotzen kann. Schalamows Briefe findet Rakusa nicht minder erschütternd, weil in ihnen der "moralische Rigorismus" und die Apodiktik eines Menschen spürbar werden, der durch die Hölle ging. In einem Brief an Pasternak schildert Schalamow detailliert die Lagerbedingungen und die Lagermentalität, so Rakusa.
© Perlentaucher Medien GmbH
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