Der Roman Ich lese den Himmel ist das Ergebnis eines außergewöhnlichen künstlerischen Dialoges zwischen dem Schriftsteller Timothy O'Grady und dem Fotografen Steve Pyke. Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines nach England ausgewanderten irischen Arbeiters, der den Tod erwartet und sich an sein Leben erinnert: wie er als Kind ohne Pinsel mit bloßen Händen die Tür der Hütte streicht, wie er als Arbeiter in England Straßen pflastert und Geld nach Irland schickt, damit die zu Hause überleben. Er lernt Akkordeon spielen und die Liebe kennen. Er kann ein Fass reparieren und die Wolken lesen. Den poetischen Momentaufnahmen und burlesken Anekdoten stellt Steve Pyke seine schwarzweißen Fotografien gegenüber. Sie zeigen Gesichter und Szenen, die uns in Timothy O Gradys Roman begegnet sein könnten. Der Blickpunkt des Fotografen ist immer auf Augenhöhe der erzählten Welt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2000Nirgends tut es nicht weh
Distanzierende Verklärung: Der Roman „Ich lese den Himmel” des Iren Timothy O’Grady vereint Poesie und Realität des Arbeitslebens
Der Held von „Ich lese den Himmel” ist das Ich dieses famos poetischen Buches. Viel erfahren wir von ihm, nur nie, wie er mit Namen heißt. Das hat gleich mehrere Gründe; nicht der unwichtigste ist, dass wir hier von einem hören, der für viele steht. Zu tun haben wir es mit der archaischen Figur des Wanderers, freilich in moderner Gestalt. Es geht um die irischen Wanderarbeiter im England des 20. Jahrhunderts, für Ewigkeiten fort von daheim und doch stets sich zurückträumend nach Haus.
Das Ich dieser Prosa ist alt geworden, liegt im Bett; draußen ist es noch dunkel, oder es dämmert soeben; immer wieder erwischen wir das erinnernde Ich, wie es gerade aufwacht. „Ich will keine Träume mehr. Es gibt keinen, der mir nicht irgendwie zu schaffen machen würde. ” Woraus keineswegs folgt, dass die preisgegebenen Träume alle Albträume wären, ganz im Gegenteil. Was hier erinnert wird, vor allem aus den ganz frühen Jahren des Lebens, das ist ein echtes Idyll. In „Ich lese den Himmel” wird jenes ländliche Irland von ehedem evoziert, das Heinrich Böll so liebte, ein Irland, das ein großes Dorf war: „Daheim wissen alle immer, wo alle sind. ”
Es liegt mehr als eine Spur von Naivität in den Szenen, die uns dieses Idyll heraufbeschwören, und wenn wir ehrlich sind, müssen wir gestehen, dass das alles auch eine hochgradige Verklärung ist. Eigentlich müsste dieses Buch ausgesprochen kitschig sein, ist es aber überhaupt nicht. Das liegt daran, dass die Verklärung nicht bruchlos betrieben, sondern als notwendige Überlebensstrategie in harten Zeiten geschildert wird. Verklärung läuft hier nämlich nicht (wie so oft) auf den unsinnigen Versuch der Vergegenwärtigung hinaus, sondern ist durchweg ein Akt der Entrückung, der Distanzierung: Verklärung findet am Material einer Vergangenheit statt, von der akzeptiert wird, dass sie vergangen ist.
„Als ich jung war, hatte ich weder Vergangenheit noch Zukunft”: Das Kind braucht noch keinerlei Verklärung, sondern hat genug an seiner Gegenwart. Das ändert sich erst, als das Arbeitsleben beginnt: „Das war die Zeit, als ich eine Vergangenheit kriegte. ” Zuerst verdingt sich unser Held als Erntearbeiter beim Großbauern, wo das Abendessen aus drei Kartoffeln besteht: „Es gibt für alles ein Maß, und es ist immer klein. ” Und dann, unweigerlich, kommt die Reise über die Irische See nach England, wo ein unstetes Dasein auf Baustellen und in Fabriken beginnt. „Am ersten Tag dachte ich, England würde nur aus grauen, nass triefenden Mauern bestehen. ” England ist schlimmer als das Abendmahl aus drei Kartoffeln, denn hier ist selbst das, was aus der Erde geholt wird, anders: „Wenn ich eine Kartoffel hochhalte, verstehe ich sie nicht. ” Und England ist ein endloser Zustand. „Es gibt kein Ende. Es gibt bloß Zeiten, wo die einen stehen und die andern fallen. ”
Vom Können und Nichtkönnen
In Dutzenden von Einzelszenen und leicht elegischen Anekdoten schildert „Ich lese den Himmel” das Los derer, die sich fern der Heimat kaputt rackern, um doch selten mehr als ein paar Shilling in Händen zu halten. Wir erfahren von gruseligen Unfällen. Da ist Francie, der mit dem Pressluftbohrer in den Händen über irgendwas grinsen muss und mit diesem Grinsen im Gesicht verbrennt, weil er ein Starkstromkabel angebohrt hat. Da ist Martin, der so gern Kaninchen ausnimmt. „Eines Tages ist er in einen Ofen gefallen und war tot. ” Wir lesen den Brief, den ein im Schreiben ungeübter Saisonarbeiter beim Erzähler in Auftrag gibt, gerichtet an die Frau, die untreu ist. Wir hören von Menschen, die einfach verschwinden. „Zweiundvierzig Jahre in England ohne eine Zeile nach Hause”, auch das gibt’s. Und die Summe von alldem: „Nirgends tut es nicht weh. ”
Summen werden gezogen, immer wieder, in Form von Aufzählungen. „Was ich konnte”: Unter dieser Rubrik zählt unser Held 32 Dinge her, von „Netze flicken” und „Torf stechen” bis zu „Geschichten erzählen zum Fürchten” und „Das Meer lesen”. Das ist das irische Können. Später, in England, sieht die Liste anders aus: „Was ich damals konnte. Ich konnte meinen Namen vergessen. ” Und da ist noch eine andere Liste, ebenso lang: „Was ich nicht konnte. ” Zum Beispiel: „Geld sparen. Freude an der Arbeit in einer Fabrik haben. ”
Freude gibt es anderswo. Beschrieben werden „Tagelöhnerhände, zerschunden, vernarbt, mit eingerissenen Nägeln und einem in der Maschine zerquetschten Finger” – aber diese Hände halten ein Akkordeon, und das trotzt der mühseligen Arbeitswelt reinste Poesie ab. „Musik passiert innen. Sie bewegt das, was da ist, von einem Ort zum anderen. Sie verleiht Flügel. Sie bringt dir Heilung. ” Heilung in Gestalt von tausend erinnerten Einzelheiten, Geräuschen und Bildern, Bruchstücken der Vergangenheit. Eine Flasche Guinness, ein Hemd mit zerwetztem Kragen, ein Löffel: Alles wird hergezählt. „Ergibt das alles eine Summe?” Die Summe ist der Erinnernde. „Das bin ich. ” Oder: „Das sind wir alle. ” Die Dinge und Tätigkeiten und Orte, die in diesem Kaleidoskop von Details ausgebreitet werden, summieren sich zu einem Porträt von Individuen, zur Evokation einer Existenzweise der Selbstaufopferung.
Fotos gegen die Bilder
Geschrieben hat dieses wunderbare, Poesie und Realität des Arbeitslebens wundersam vereinende Buch der Ire Timothy O’Grady. Als zweiten Urheber nennt das Titelblatt den englischen Fotografen Steve Pyke: Er hat gut achtzig Fotos beigesteuert, die verschiedene Orte, Menschen und vor allem Gesichter beiderseits der Irischen See zeigen und fast so suggestiv sind wie O’Gradys Text. Das Problem ist nur: Statt sich gegenseitig zu bereichern, stehlen Text und Bild einander die Schau. Der Blick auf die Fotos verhindert, dass die Bilderwelt des Textes sich im Kopf des Lesers entfalten kann; der Text wiederum gibt den Fotos unangebrachte Deutungen vor. Das Doppelprojekt funktioniert nicht. Es muss dringend dazu geraten werden, beim Lesen von O’Gradys Roman die Fotos zu ignorieren, so gut es geht, und sie sich später gesondert anzusehen.
FRIEDHELM RATHJEN
TIMOTHY O’GRADY / STEVE PYKE: Ich lese den Himmel. Roman. Vorwort von John Berger. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 2000. 191 S. , 39,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Distanzierende Verklärung: Der Roman „Ich lese den Himmel” des Iren Timothy O’Grady vereint Poesie und Realität des Arbeitslebens
Der Held von „Ich lese den Himmel” ist das Ich dieses famos poetischen Buches. Viel erfahren wir von ihm, nur nie, wie er mit Namen heißt. Das hat gleich mehrere Gründe; nicht der unwichtigste ist, dass wir hier von einem hören, der für viele steht. Zu tun haben wir es mit der archaischen Figur des Wanderers, freilich in moderner Gestalt. Es geht um die irischen Wanderarbeiter im England des 20. Jahrhunderts, für Ewigkeiten fort von daheim und doch stets sich zurückträumend nach Haus.
Das Ich dieser Prosa ist alt geworden, liegt im Bett; draußen ist es noch dunkel, oder es dämmert soeben; immer wieder erwischen wir das erinnernde Ich, wie es gerade aufwacht. „Ich will keine Träume mehr. Es gibt keinen, der mir nicht irgendwie zu schaffen machen würde. ” Woraus keineswegs folgt, dass die preisgegebenen Träume alle Albträume wären, ganz im Gegenteil. Was hier erinnert wird, vor allem aus den ganz frühen Jahren des Lebens, das ist ein echtes Idyll. In „Ich lese den Himmel” wird jenes ländliche Irland von ehedem evoziert, das Heinrich Böll so liebte, ein Irland, das ein großes Dorf war: „Daheim wissen alle immer, wo alle sind. ”
Es liegt mehr als eine Spur von Naivität in den Szenen, die uns dieses Idyll heraufbeschwören, und wenn wir ehrlich sind, müssen wir gestehen, dass das alles auch eine hochgradige Verklärung ist. Eigentlich müsste dieses Buch ausgesprochen kitschig sein, ist es aber überhaupt nicht. Das liegt daran, dass die Verklärung nicht bruchlos betrieben, sondern als notwendige Überlebensstrategie in harten Zeiten geschildert wird. Verklärung läuft hier nämlich nicht (wie so oft) auf den unsinnigen Versuch der Vergegenwärtigung hinaus, sondern ist durchweg ein Akt der Entrückung, der Distanzierung: Verklärung findet am Material einer Vergangenheit statt, von der akzeptiert wird, dass sie vergangen ist.
„Als ich jung war, hatte ich weder Vergangenheit noch Zukunft”: Das Kind braucht noch keinerlei Verklärung, sondern hat genug an seiner Gegenwart. Das ändert sich erst, als das Arbeitsleben beginnt: „Das war die Zeit, als ich eine Vergangenheit kriegte. ” Zuerst verdingt sich unser Held als Erntearbeiter beim Großbauern, wo das Abendessen aus drei Kartoffeln besteht: „Es gibt für alles ein Maß, und es ist immer klein. ” Und dann, unweigerlich, kommt die Reise über die Irische See nach England, wo ein unstetes Dasein auf Baustellen und in Fabriken beginnt. „Am ersten Tag dachte ich, England würde nur aus grauen, nass triefenden Mauern bestehen. ” England ist schlimmer als das Abendmahl aus drei Kartoffeln, denn hier ist selbst das, was aus der Erde geholt wird, anders: „Wenn ich eine Kartoffel hochhalte, verstehe ich sie nicht. ” Und England ist ein endloser Zustand. „Es gibt kein Ende. Es gibt bloß Zeiten, wo die einen stehen und die andern fallen. ”
Vom Können und Nichtkönnen
In Dutzenden von Einzelszenen und leicht elegischen Anekdoten schildert „Ich lese den Himmel” das Los derer, die sich fern der Heimat kaputt rackern, um doch selten mehr als ein paar Shilling in Händen zu halten. Wir erfahren von gruseligen Unfällen. Da ist Francie, der mit dem Pressluftbohrer in den Händen über irgendwas grinsen muss und mit diesem Grinsen im Gesicht verbrennt, weil er ein Starkstromkabel angebohrt hat. Da ist Martin, der so gern Kaninchen ausnimmt. „Eines Tages ist er in einen Ofen gefallen und war tot. ” Wir lesen den Brief, den ein im Schreiben ungeübter Saisonarbeiter beim Erzähler in Auftrag gibt, gerichtet an die Frau, die untreu ist. Wir hören von Menschen, die einfach verschwinden. „Zweiundvierzig Jahre in England ohne eine Zeile nach Hause”, auch das gibt’s. Und die Summe von alldem: „Nirgends tut es nicht weh. ”
Summen werden gezogen, immer wieder, in Form von Aufzählungen. „Was ich konnte”: Unter dieser Rubrik zählt unser Held 32 Dinge her, von „Netze flicken” und „Torf stechen” bis zu „Geschichten erzählen zum Fürchten” und „Das Meer lesen”. Das ist das irische Können. Später, in England, sieht die Liste anders aus: „Was ich damals konnte. Ich konnte meinen Namen vergessen. ” Und da ist noch eine andere Liste, ebenso lang: „Was ich nicht konnte. ” Zum Beispiel: „Geld sparen. Freude an der Arbeit in einer Fabrik haben. ”
Freude gibt es anderswo. Beschrieben werden „Tagelöhnerhände, zerschunden, vernarbt, mit eingerissenen Nägeln und einem in der Maschine zerquetschten Finger” – aber diese Hände halten ein Akkordeon, und das trotzt der mühseligen Arbeitswelt reinste Poesie ab. „Musik passiert innen. Sie bewegt das, was da ist, von einem Ort zum anderen. Sie verleiht Flügel. Sie bringt dir Heilung. ” Heilung in Gestalt von tausend erinnerten Einzelheiten, Geräuschen und Bildern, Bruchstücken der Vergangenheit. Eine Flasche Guinness, ein Hemd mit zerwetztem Kragen, ein Löffel: Alles wird hergezählt. „Ergibt das alles eine Summe?” Die Summe ist der Erinnernde. „Das bin ich. ” Oder: „Das sind wir alle. ” Die Dinge und Tätigkeiten und Orte, die in diesem Kaleidoskop von Details ausgebreitet werden, summieren sich zu einem Porträt von Individuen, zur Evokation einer Existenzweise der Selbstaufopferung.
Fotos gegen die Bilder
Geschrieben hat dieses wunderbare, Poesie und Realität des Arbeitslebens wundersam vereinende Buch der Ire Timothy O’Grady. Als zweiten Urheber nennt das Titelblatt den englischen Fotografen Steve Pyke: Er hat gut achtzig Fotos beigesteuert, die verschiedene Orte, Menschen und vor allem Gesichter beiderseits der Irischen See zeigen und fast so suggestiv sind wie O’Gradys Text. Das Problem ist nur: Statt sich gegenseitig zu bereichern, stehlen Text und Bild einander die Schau. Der Blick auf die Fotos verhindert, dass die Bilderwelt des Textes sich im Kopf des Lesers entfalten kann; der Text wiederum gibt den Fotos unangebrachte Deutungen vor. Das Doppelprojekt funktioniert nicht. Es muss dringend dazu geraten werden, beim Lesen von O’Gradys Roman die Fotos zu ignorieren, so gut es geht, und sie sich später gesondert anzusehen.
FRIEDHELM RATHJEN
TIMOTHY O’GRADY / STEVE PYKE: Ich lese den Himmel. Roman. Vorwort von John Berger. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 2000. 191 S. , 39,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2001Lachfalten um Maggies Mund
Kein Photoroman: Timothy O'Gradys und Steve Pykes Irland
Bei jenen Land-und-Leute-Diashows, die landauf, landab große Säle füllen, gehört Irland (neben der Bretagne, Schottland, Norwegen, Island und Kanada) zu den beliebtesten Sujets. Die Leinwandpräsentationen gischtumtoster Steilküsten, einsamer Wiesen, verfallener Gehöfte und ins Nirgendwo verlaufender Steinmauern bedienen, auch wenn sie von sommersprossigen Irlandmädchen und rothaarigen Whiskeytrinkern aufgeheitert werden, etwa dasselbe Bedürfnis wie ein schmerzlich-schön in Moll gesetztes Musikstück.
Timothy O'Grady und Steve Pyke veranstalten gelegentlich Abende, bei denen die Photographien des einen projiziert werden und der andere seine Texte dazu liest. Manchmal auch zu irischer Musik. Aber Absicht und Wirkung dieser Veranstaltungen sind weder sentimental noch touristisch. Sie gehen auf ein Buch zurück, das 1997 im englischen Original erschien und jetzt auch auf deutsch vorliegt: "Ich lese den Himmel". Mittlerweile ist auch ein Film danach gedreht worden.
Pykes Schwarzweiß-Photographien enttäuschen einschlägige Erwartungen. Sie geben sich kunstlos, ja geradezu reduktionistisch: ein Stück Steinwüste, wo es am eintönigsten ist; ein Arbeiter in einem Tunnel, eine Reihe von Zuschauern bei einem dörflichen Fest, ein Schlafzimmer mit Christusdarstellung. Hier wird kein bewegter Augenblick festgehalten; die Szenen scheinen von selbst stehengeblieben zu sein. Und dann und wann ist da ein Gesicht. Den Betrachter, der eben noch einen Blick in ein anderes Leben zu erhaschen suchte, sehen fragende Augen an. Hält er dem musternden Blick stand, nimmt er den stummen Dialog auf? Diese Frage muß jeder Betrachter für sich beantworten.
Ein Bezug der Photographien zum Text von Timothy O'Grady ist nicht leicht auszumachen, auch wenn John Berger in seinem poetisch-pathetischen Vorwort diesen konstatiert und dies damit begründet, daß jede Kunst gerade das ihr Unmögliche anstrebe: Die Malerei will das Unsichtbare zeigen, die Literatur das Unsagbare sagen. Und beide Paradoxien, so Berger, arbeiten hier einander zu: "Die Fotos rufen uns all das in Erinnerung, was sich mit Worten nicht ausdrücken läßt. Und die Worte rufen hervor, was eine Fotografie niemals zeigen kann." Das ist ein bißchen hoch gehängt. Die Fotos stehen und bestehen für sich, der Text kann dies auch.
Der Autor Timothy O'Grady, in Chicago geboren und aufgewachsen, verbrachte nach seinem Universitätsexamen ein paar Wochen in Irland (wo sein Großvater herstammte), verliebte sich in die Insel seiner Vorfahren, ließ sich dort nieder, tat sich mit einer Irin zusammen und machte Irland zu seinem Leib- und Herzensthema. "Ich lese den Himmel" ist sein zweiter Roman; er ist die Frucht zahlreicher Unterhaltungen mit Arbeitsemigranten. Das Land, auch im zwanzigsten Jahrhundert eines der Armenhäuser Europas, mußte seine Männer in die Ferne schicken, damit deren Familien leben konnten.
Dieser historisch-soziologische Hintergrund kann aus O'Gradys Text rekonstruiert werden, er ist aber nicht Thema, sondern nur Voraussetzung seines Schreibens. Gespräche und Recherchen sind eingeflossen in eine Erzählerfigur, die am Ende eines harten Arbeitslebens zurückblickt, Kindheitseindrücke und Gefährten des Exils an sich vorüberziehen läßt. Der namenlose Erzähler betrachtet sich selbst, wie er als kleiner Junge auf dem Rücken seines Bruders sitzt und eine Holztür anstreicht - mit bloßen Händen, da ihm der Pinsel fehlt. Wie sich die Dorfbewohner über das erste Radio beugen. Wie der Bruder nach Amerika fährt und dort in einem Ofen tödlich verunglückt. Wie er selbst während eines Viehmarktes seine erste Arbeit findet. Wie auch er Irland verlassen und nach England gehen muß.
Das Elend der Arbeitsemigranten wird gerade aus sparsam eingesetzten Details schmerzhaft deutlich. Unter einem ewigen Nebel, grau in grau gehalten, folgen Bauernhöfe und Fabriken in eintöniger Reihung aufeinander. Der Erzähler klaubt Kartoffeln aus dem klammen Boden (schlafen müssen er und seine Kameraden bei den Schweinen), packt Rüben in Säcke, baut Landstraßen, reißt Luftschutzbunker ab. Einer hat ein Säckchen mit Heimaterde dabei, andere trösten sich mit Liedern oder Whiskey. Sein bester Freund geht in Flammen auf, als er mit dem Preßluftbohrer auf eine Stromleitung stößt. Ein Onkel erfriert in einer Betonröhre, die er sich zum Schlafen ausgesucht hatte. "Ich wünschte, Gott würde die Welt zerstören", sagt einer der Arbeiter.
Der Tod beherrscht auch die Reminiszenzen an die Heimat. Die Mutter stirbt, der Vater stirbt. Auch die Stute verendet, sie wird auf demselben Friedhof begraben. Auch Maggie, die junge Frau, ein Lichtstrahl im eintönigen Nebel des Lebens, bleibt dem Erzähler nicht lange erhalten.
Immerhin lange genug, um sein Leben auch nach ihrem Tod mit Präsenz zu durchglühen: "Solange ich sie auch kannte, ich habe mich nie an ihren Anblick gewöhnt. Immer war da irgend etwas: wie sie den Kopf hielt oder die Hand hob, um das Haar vor ihrem Gesicht zu richten, die Knochen ihrer Hände, der Laut, den sie machte, ehe sie losplatzte, die Lachfalten plötzlich um ihren Mund, wie ihr Fuß leise den Takt zu einer Melodie schlug, die sie sich ausdachte, wie anmutig sie sich beugen oder drehen konnte, die Art, wie sie zuhörte, als wären Worte oder Musik Wasser, das sich über sie ergoss, die Art, wie sie bis ins Herz der Dinge hineinsehen konnte, die andere taten, wie sie staunen konnte. Manchmal kam sie mir vor wie ein Forscher, wie sie mitbekam, wie Menschen waren, ihre Winkelzüge. Diese Dinge waren immer wieder neu und immer sie."
Der hier spricht, ist kein gewandter Erzähler, sondern einer, der mit viel Mühe darum kämpft, das Erinnernswerte eines armen und tristen Lebens festzuhalten. Der Autor führt dem Ungeschickten geschickt die Hand: Vergangenheit wird nicht wortmächtig wiederbelebt, sondern evoziert - sie wird im Wortsinne angerufen, und manchmal gibt sie ein Echo.
Diese Appelle an das Entschwundene geschehen über einzelne Wörter, oft über Namen, und diese Namen werden aneinandergereiht wie die Perlen auf einer Rosenkranzschnur. Bei dem, der sie ruft, lösen diese Namen heftige Schwingungen aus. Aber auch der Leser - wenn er denn einen guten Resonanzboden abgibt - kann mitschwingen.
MARTIN EBEL
Timothy O'Grady: "Ich lese den Himmel". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Uda Strätling. Mit einem Vorwort von John Berger und Photographien von Steve Pyke. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2000. 188 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Photoroman: Timothy O'Gradys und Steve Pykes Irland
Bei jenen Land-und-Leute-Diashows, die landauf, landab große Säle füllen, gehört Irland (neben der Bretagne, Schottland, Norwegen, Island und Kanada) zu den beliebtesten Sujets. Die Leinwandpräsentationen gischtumtoster Steilküsten, einsamer Wiesen, verfallener Gehöfte und ins Nirgendwo verlaufender Steinmauern bedienen, auch wenn sie von sommersprossigen Irlandmädchen und rothaarigen Whiskeytrinkern aufgeheitert werden, etwa dasselbe Bedürfnis wie ein schmerzlich-schön in Moll gesetztes Musikstück.
Timothy O'Grady und Steve Pyke veranstalten gelegentlich Abende, bei denen die Photographien des einen projiziert werden und der andere seine Texte dazu liest. Manchmal auch zu irischer Musik. Aber Absicht und Wirkung dieser Veranstaltungen sind weder sentimental noch touristisch. Sie gehen auf ein Buch zurück, das 1997 im englischen Original erschien und jetzt auch auf deutsch vorliegt: "Ich lese den Himmel". Mittlerweile ist auch ein Film danach gedreht worden.
Pykes Schwarzweiß-Photographien enttäuschen einschlägige Erwartungen. Sie geben sich kunstlos, ja geradezu reduktionistisch: ein Stück Steinwüste, wo es am eintönigsten ist; ein Arbeiter in einem Tunnel, eine Reihe von Zuschauern bei einem dörflichen Fest, ein Schlafzimmer mit Christusdarstellung. Hier wird kein bewegter Augenblick festgehalten; die Szenen scheinen von selbst stehengeblieben zu sein. Und dann und wann ist da ein Gesicht. Den Betrachter, der eben noch einen Blick in ein anderes Leben zu erhaschen suchte, sehen fragende Augen an. Hält er dem musternden Blick stand, nimmt er den stummen Dialog auf? Diese Frage muß jeder Betrachter für sich beantworten.
Ein Bezug der Photographien zum Text von Timothy O'Grady ist nicht leicht auszumachen, auch wenn John Berger in seinem poetisch-pathetischen Vorwort diesen konstatiert und dies damit begründet, daß jede Kunst gerade das ihr Unmögliche anstrebe: Die Malerei will das Unsichtbare zeigen, die Literatur das Unsagbare sagen. Und beide Paradoxien, so Berger, arbeiten hier einander zu: "Die Fotos rufen uns all das in Erinnerung, was sich mit Worten nicht ausdrücken läßt. Und die Worte rufen hervor, was eine Fotografie niemals zeigen kann." Das ist ein bißchen hoch gehängt. Die Fotos stehen und bestehen für sich, der Text kann dies auch.
Der Autor Timothy O'Grady, in Chicago geboren und aufgewachsen, verbrachte nach seinem Universitätsexamen ein paar Wochen in Irland (wo sein Großvater herstammte), verliebte sich in die Insel seiner Vorfahren, ließ sich dort nieder, tat sich mit einer Irin zusammen und machte Irland zu seinem Leib- und Herzensthema. "Ich lese den Himmel" ist sein zweiter Roman; er ist die Frucht zahlreicher Unterhaltungen mit Arbeitsemigranten. Das Land, auch im zwanzigsten Jahrhundert eines der Armenhäuser Europas, mußte seine Männer in die Ferne schicken, damit deren Familien leben konnten.
Dieser historisch-soziologische Hintergrund kann aus O'Gradys Text rekonstruiert werden, er ist aber nicht Thema, sondern nur Voraussetzung seines Schreibens. Gespräche und Recherchen sind eingeflossen in eine Erzählerfigur, die am Ende eines harten Arbeitslebens zurückblickt, Kindheitseindrücke und Gefährten des Exils an sich vorüberziehen läßt. Der namenlose Erzähler betrachtet sich selbst, wie er als kleiner Junge auf dem Rücken seines Bruders sitzt und eine Holztür anstreicht - mit bloßen Händen, da ihm der Pinsel fehlt. Wie sich die Dorfbewohner über das erste Radio beugen. Wie der Bruder nach Amerika fährt und dort in einem Ofen tödlich verunglückt. Wie er selbst während eines Viehmarktes seine erste Arbeit findet. Wie auch er Irland verlassen und nach England gehen muß.
Das Elend der Arbeitsemigranten wird gerade aus sparsam eingesetzten Details schmerzhaft deutlich. Unter einem ewigen Nebel, grau in grau gehalten, folgen Bauernhöfe und Fabriken in eintöniger Reihung aufeinander. Der Erzähler klaubt Kartoffeln aus dem klammen Boden (schlafen müssen er und seine Kameraden bei den Schweinen), packt Rüben in Säcke, baut Landstraßen, reißt Luftschutzbunker ab. Einer hat ein Säckchen mit Heimaterde dabei, andere trösten sich mit Liedern oder Whiskey. Sein bester Freund geht in Flammen auf, als er mit dem Preßluftbohrer auf eine Stromleitung stößt. Ein Onkel erfriert in einer Betonröhre, die er sich zum Schlafen ausgesucht hatte. "Ich wünschte, Gott würde die Welt zerstören", sagt einer der Arbeiter.
Der Tod beherrscht auch die Reminiszenzen an die Heimat. Die Mutter stirbt, der Vater stirbt. Auch die Stute verendet, sie wird auf demselben Friedhof begraben. Auch Maggie, die junge Frau, ein Lichtstrahl im eintönigen Nebel des Lebens, bleibt dem Erzähler nicht lange erhalten.
Immerhin lange genug, um sein Leben auch nach ihrem Tod mit Präsenz zu durchglühen: "Solange ich sie auch kannte, ich habe mich nie an ihren Anblick gewöhnt. Immer war da irgend etwas: wie sie den Kopf hielt oder die Hand hob, um das Haar vor ihrem Gesicht zu richten, die Knochen ihrer Hände, der Laut, den sie machte, ehe sie losplatzte, die Lachfalten plötzlich um ihren Mund, wie ihr Fuß leise den Takt zu einer Melodie schlug, die sie sich ausdachte, wie anmutig sie sich beugen oder drehen konnte, die Art, wie sie zuhörte, als wären Worte oder Musik Wasser, das sich über sie ergoss, die Art, wie sie bis ins Herz der Dinge hineinsehen konnte, die andere taten, wie sie staunen konnte. Manchmal kam sie mir vor wie ein Forscher, wie sie mitbekam, wie Menschen waren, ihre Winkelzüge. Diese Dinge waren immer wieder neu und immer sie."
Der hier spricht, ist kein gewandter Erzähler, sondern einer, der mit viel Mühe darum kämpft, das Erinnernswerte eines armen und tristen Lebens festzuhalten. Der Autor führt dem Ungeschickten geschickt die Hand: Vergangenheit wird nicht wortmächtig wiederbelebt, sondern evoziert - sie wird im Wortsinne angerufen, und manchmal gibt sie ein Echo.
Diese Appelle an das Entschwundene geschehen über einzelne Wörter, oft über Namen, und diese Namen werden aneinandergereiht wie die Perlen auf einer Rosenkranzschnur. Bei dem, der sie ruft, lösen diese Namen heftige Schwingungen aus. Aber auch der Leser - wenn er denn einen guten Resonanzboden abgibt - kann mitschwingen.
MARTIN EBEL
Timothy O'Grady: "Ich lese den Himmel". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Uda Strätling. Mit einem Vorwort von John Berger und Photographien von Steve Pyke. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2000. 188 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nach Martin Ebel stehen Text und Fotografien in diesem Band je für sich - einen "Bezug" kann er nicht ausmachen, doch das stört ihn nicht. Beides könnte "für sich" bestehen, findet er, allerdings räumt er ein, dass typische Irland-Klischees bei den Fotos nicht bedient werden, was mancher enttäuschend finden wird, so Ebels Vermutung. Stattdessen habe Pyke statische Schwarzweiß-Aufnahmen gemacht, die - oft eintönige - Szenen und Gesichter festhalten. "Geradezu reduktionistisch" findet dies der Rezensent, was durchaus positiv gemeint zu sein scheint. Der Roman selbst hat irische Arbeitsemigranten zum Thema, erläutert Ebel, und ein solcher ist auch der Erzähler, der auf sein hartes Leben zurückblickt: Schlafen im Schweinestall, Kälte, Tod, Armut. O'Grady lasse hier keinen "gewandten Erzähler" sprechen, sondern einen, der mühsam mit seinen Erinnerungen ringt, doch dabei führe er "dem Ungeschickten geschickt die Hand". Und sofern der Leser über einen "entsprechenden Resonanzboden" verfügt, kann das Buch durchaus "heftige Schwingungen" auslösen, findet Ebel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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