Der Roman Ich lese den Himmel ist das Ergebnis eines außergewöhnlichen künstlerischen Dialoges zwischen dem Schriftsteller Timothy O'Grady und dem Fotografen Steve Pyke. Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines nach England ausgewanderten irischen Arbeiters, der den Tod erwartet und sich an sein Leben erinnert: wie er als Kind ohne Pinsel mit bloßen Händen die Tür der Hütte streicht, wie er als Arbeiter in England Straßen pflastert und Geld nach Irland schickt, damit die zu Hause überleben. Er lernt Akkordeon spielen und die Liebe kennen. Er kann ein Fass reparieren und die Wolken lesen. Den poetischen Momentaufnahmen und burlesken Anekdoten stellt Steve Pyke seine schwarzweißen Fotografien gegenüber. Sie zeigen Gesichter und Szenen, die uns in Timothy O Gradys Roman begegnet sein könnten. Der Blickpunkt des Fotografen ist immer auf Augenhöhe der erzählten Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2001Lachfalten um Maggies Mund
Kein Photoroman: Timothy O'Gradys und Steve Pykes Irland
Bei jenen Land-und-Leute-Diashows, die landauf, landab große Säle füllen, gehört Irland (neben der Bretagne, Schottland, Norwegen, Island und Kanada) zu den beliebtesten Sujets. Die Leinwandpräsentationen gischtumtoster Steilküsten, einsamer Wiesen, verfallener Gehöfte und ins Nirgendwo verlaufender Steinmauern bedienen, auch wenn sie von sommersprossigen Irlandmädchen und rothaarigen Whiskeytrinkern aufgeheitert werden, etwa dasselbe Bedürfnis wie ein schmerzlich-schön in Moll gesetztes Musikstück.
Timothy O'Grady und Steve Pyke veranstalten gelegentlich Abende, bei denen die Photographien des einen projiziert werden und der andere seine Texte dazu liest. Manchmal auch zu irischer Musik. Aber Absicht und Wirkung dieser Veranstaltungen sind weder sentimental noch touristisch. Sie gehen auf ein Buch zurück, das 1997 im englischen Original erschien und jetzt auch auf deutsch vorliegt: "Ich lese den Himmel". Mittlerweile ist auch ein Film danach gedreht worden.
Pykes Schwarzweiß-Photographien enttäuschen einschlägige Erwartungen. Sie geben sich kunstlos, ja geradezu reduktionistisch: ein Stück Steinwüste, wo es am eintönigsten ist; ein Arbeiter in einem Tunnel, eine Reihe von Zuschauern bei einem dörflichen Fest, ein Schlafzimmer mit Christusdarstellung. Hier wird kein bewegter Augenblick festgehalten; die Szenen scheinen von selbst stehengeblieben zu sein. Und dann und wann ist da ein Gesicht. Den Betrachter, der eben noch einen Blick in ein anderes Leben zu erhaschen suchte, sehen fragende Augen an. Hält er dem musternden Blick stand, nimmt er den stummen Dialog auf? Diese Frage muß jeder Betrachter für sich beantworten.
Ein Bezug der Photographien zum Text von Timothy O'Grady ist nicht leicht auszumachen, auch wenn John Berger in seinem poetisch-pathetischen Vorwort diesen konstatiert und dies damit begründet, daß jede Kunst gerade das ihr Unmögliche anstrebe: Die Malerei will das Unsichtbare zeigen, die Literatur das Unsagbare sagen. Und beide Paradoxien, so Berger, arbeiten hier einander zu: "Die Fotos rufen uns all das in Erinnerung, was sich mit Worten nicht ausdrücken läßt. Und die Worte rufen hervor, was eine Fotografie niemals zeigen kann." Das ist ein bißchen hoch gehängt. Die Fotos stehen und bestehen für sich, der Text kann dies auch.
Der Autor Timothy O'Grady, in Chicago geboren und aufgewachsen, verbrachte nach seinem Universitätsexamen ein paar Wochen in Irland (wo sein Großvater herstammte), verliebte sich in die Insel seiner Vorfahren, ließ sich dort nieder, tat sich mit einer Irin zusammen und machte Irland zu seinem Leib- und Herzensthema. "Ich lese den Himmel" ist sein zweiter Roman; er ist die Frucht zahlreicher Unterhaltungen mit Arbeitsemigranten. Das Land, auch im zwanzigsten Jahrhundert eines der Armenhäuser Europas, mußte seine Männer in die Ferne schicken, damit deren Familien leben konnten.
Dieser historisch-soziologische Hintergrund kann aus O'Gradys Text rekonstruiert werden, er ist aber nicht Thema, sondern nur Voraussetzung seines Schreibens. Gespräche und Recherchen sind eingeflossen in eine Erzählerfigur, die am Ende eines harten Arbeitslebens zurückblickt, Kindheitseindrücke und Gefährten des Exils an sich vorüberziehen läßt. Der namenlose Erzähler betrachtet sich selbst, wie er als kleiner Junge auf dem Rücken seines Bruders sitzt und eine Holztür anstreicht - mit bloßen Händen, da ihm der Pinsel fehlt. Wie sich die Dorfbewohner über das erste Radio beugen. Wie der Bruder nach Amerika fährt und dort in einem Ofen tödlich verunglückt. Wie er selbst während eines Viehmarktes seine erste Arbeit findet. Wie auch er Irland verlassen und nach England gehen muß.
Das Elend der Arbeitsemigranten wird gerade aus sparsam eingesetzten Details schmerzhaft deutlich. Unter einem ewigen Nebel, grau in grau gehalten, folgen Bauernhöfe und Fabriken in eintöniger Reihung aufeinander. Der Erzähler klaubt Kartoffeln aus dem klammen Boden (schlafen müssen er und seine Kameraden bei den Schweinen), packt Rüben in Säcke, baut Landstraßen, reißt Luftschutzbunker ab. Einer hat ein Säckchen mit Heimaterde dabei, andere trösten sich mit Liedern oder Whiskey. Sein bester Freund geht in Flammen auf, als er mit dem Preßluftbohrer auf eine Stromleitung stößt. Ein Onkel erfriert in einer Betonröhre, die er sich zum Schlafen ausgesucht hatte. "Ich wünschte, Gott würde die Welt zerstören", sagt einer der Arbeiter.
Der Tod beherrscht auch die Reminiszenzen an die Heimat. Die Mutter stirbt, der Vater stirbt. Auch die Stute verendet, sie wird auf demselben Friedhof begraben. Auch Maggie, die junge Frau, ein Lichtstrahl im eintönigen Nebel des Lebens, bleibt dem Erzähler nicht lange erhalten.
Immerhin lange genug, um sein Leben auch nach ihrem Tod mit Präsenz zu durchglühen: "Solange ich sie auch kannte, ich habe mich nie an ihren Anblick gewöhnt. Immer war da irgend etwas: wie sie den Kopf hielt oder die Hand hob, um das Haar vor ihrem Gesicht zu richten, die Knochen ihrer Hände, der Laut, den sie machte, ehe sie losplatzte, die Lachfalten plötzlich um ihren Mund, wie ihr Fuß leise den Takt zu einer Melodie schlug, die sie sich ausdachte, wie anmutig sie sich beugen oder drehen konnte, die Art, wie sie zuhörte, als wären Worte oder Musik Wasser, das sich über sie ergoss, die Art, wie sie bis ins Herz der Dinge hineinsehen konnte, die andere taten, wie sie staunen konnte. Manchmal kam sie mir vor wie ein Forscher, wie sie mitbekam, wie Menschen waren, ihre Winkelzüge. Diese Dinge waren immer wieder neu und immer sie."
Der hier spricht, ist kein gewandter Erzähler, sondern einer, der mit viel Mühe darum kämpft, das Erinnernswerte eines armen und tristen Lebens festzuhalten. Der Autor führt dem Ungeschickten geschickt die Hand: Vergangenheit wird nicht wortmächtig wiederbelebt, sondern evoziert - sie wird im Wortsinne angerufen, und manchmal gibt sie ein Echo.
Diese Appelle an das Entschwundene geschehen über einzelne Wörter, oft über Namen, und diese Namen werden aneinandergereiht wie die Perlen auf einer Rosenkranzschnur. Bei dem, der sie ruft, lösen diese Namen heftige Schwingungen aus. Aber auch der Leser - wenn er denn einen guten Resonanzboden abgibt - kann mitschwingen.
MARTIN EBEL
Timothy O'Grady: "Ich lese den Himmel". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Uda Strätling. Mit einem Vorwort von John Berger und Photographien von Steve Pyke. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2000. 188 S., geb., 39,90 DM.
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Kein Photoroman: Timothy O'Gradys und Steve Pykes Irland
Bei jenen Land-und-Leute-Diashows, die landauf, landab große Säle füllen, gehört Irland (neben der Bretagne, Schottland, Norwegen, Island und Kanada) zu den beliebtesten Sujets. Die Leinwandpräsentationen gischtumtoster Steilküsten, einsamer Wiesen, verfallener Gehöfte und ins Nirgendwo verlaufender Steinmauern bedienen, auch wenn sie von sommersprossigen Irlandmädchen und rothaarigen Whiskeytrinkern aufgeheitert werden, etwa dasselbe Bedürfnis wie ein schmerzlich-schön in Moll gesetztes Musikstück.
Timothy O'Grady und Steve Pyke veranstalten gelegentlich Abende, bei denen die Photographien des einen projiziert werden und der andere seine Texte dazu liest. Manchmal auch zu irischer Musik. Aber Absicht und Wirkung dieser Veranstaltungen sind weder sentimental noch touristisch. Sie gehen auf ein Buch zurück, das 1997 im englischen Original erschien und jetzt auch auf deutsch vorliegt: "Ich lese den Himmel". Mittlerweile ist auch ein Film danach gedreht worden.
Pykes Schwarzweiß-Photographien enttäuschen einschlägige Erwartungen. Sie geben sich kunstlos, ja geradezu reduktionistisch: ein Stück Steinwüste, wo es am eintönigsten ist; ein Arbeiter in einem Tunnel, eine Reihe von Zuschauern bei einem dörflichen Fest, ein Schlafzimmer mit Christusdarstellung. Hier wird kein bewegter Augenblick festgehalten; die Szenen scheinen von selbst stehengeblieben zu sein. Und dann und wann ist da ein Gesicht. Den Betrachter, der eben noch einen Blick in ein anderes Leben zu erhaschen suchte, sehen fragende Augen an. Hält er dem musternden Blick stand, nimmt er den stummen Dialog auf? Diese Frage muß jeder Betrachter für sich beantworten.
Ein Bezug der Photographien zum Text von Timothy O'Grady ist nicht leicht auszumachen, auch wenn John Berger in seinem poetisch-pathetischen Vorwort diesen konstatiert und dies damit begründet, daß jede Kunst gerade das ihr Unmögliche anstrebe: Die Malerei will das Unsichtbare zeigen, die Literatur das Unsagbare sagen. Und beide Paradoxien, so Berger, arbeiten hier einander zu: "Die Fotos rufen uns all das in Erinnerung, was sich mit Worten nicht ausdrücken läßt. Und die Worte rufen hervor, was eine Fotografie niemals zeigen kann." Das ist ein bißchen hoch gehängt. Die Fotos stehen und bestehen für sich, der Text kann dies auch.
Der Autor Timothy O'Grady, in Chicago geboren und aufgewachsen, verbrachte nach seinem Universitätsexamen ein paar Wochen in Irland (wo sein Großvater herstammte), verliebte sich in die Insel seiner Vorfahren, ließ sich dort nieder, tat sich mit einer Irin zusammen und machte Irland zu seinem Leib- und Herzensthema. "Ich lese den Himmel" ist sein zweiter Roman; er ist die Frucht zahlreicher Unterhaltungen mit Arbeitsemigranten. Das Land, auch im zwanzigsten Jahrhundert eines der Armenhäuser Europas, mußte seine Männer in die Ferne schicken, damit deren Familien leben konnten.
Dieser historisch-soziologische Hintergrund kann aus O'Gradys Text rekonstruiert werden, er ist aber nicht Thema, sondern nur Voraussetzung seines Schreibens. Gespräche und Recherchen sind eingeflossen in eine Erzählerfigur, die am Ende eines harten Arbeitslebens zurückblickt, Kindheitseindrücke und Gefährten des Exils an sich vorüberziehen läßt. Der namenlose Erzähler betrachtet sich selbst, wie er als kleiner Junge auf dem Rücken seines Bruders sitzt und eine Holztür anstreicht - mit bloßen Händen, da ihm der Pinsel fehlt. Wie sich die Dorfbewohner über das erste Radio beugen. Wie der Bruder nach Amerika fährt und dort in einem Ofen tödlich verunglückt. Wie er selbst während eines Viehmarktes seine erste Arbeit findet. Wie auch er Irland verlassen und nach England gehen muß.
Das Elend der Arbeitsemigranten wird gerade aus sparsam eingesetzten Details schmerzhaft deutlich. Unter einem ewigen Nebel, grau in grau gehalten, folgen Bauernhöfe und Fabriken in eintöniger Reihung aufeinander. Der Erzähler klaubt Kartoffeln aus dem klammen Boden (schlafen müssen er und seine Kameraden bei den Schweinen), packt Rüben in Säcke, baut Landstraßen, reißt Luftschutzbunker ab. Einer hat ein Säckchen mit Heimaterde dabei, andere trösten sich mit Liedern oder Whiskey. Sein bester Freund geht in Flammen auf, als er mit dem Preßluftbohrer auf eine Stromleitung stößt. Ein Onkel erfriert in einer Betonröhre, die er sich zum Schlafen ausgesucht hatte. "Ich wünschte, Gott würde die Welt zerstören", sagt einer der Arbeiter.
Der Tod beherrscht auch die Reminiszenzen an die Heimat. Die Mutter stirbt, der Vater stirbt. Auch die Stute verendet, sie wird auf demselben Friedhof begraben. Auch Maggie, die junge Frau, ein Lichtstrahl im eintönigen Nebel des Lebens, bleibt dem Erzähler nicht lange erhalten.
Immerhin lange genug, um sein Leben auch nach ihrem Tod mit Präsenz zu durchglühen: "Solange ich sie auch kannte, ich habe mich nie an ihren Anblick gewöhnt. Immer war da irgend etwas: wie sie den Kopf hielt oder die Hand hob, um das Haar vor ihrem Gesicht zu richten, die Knochen ihrer Hände, der Laut, den sie machte, ehe sie losplatzte, die Lachfalten plötzlich um ihren Mund, wie ihr Fuß leise den Takt zu einer Melodie schlug, die sie sich ausdachte, wie anmutig sie sich beugen oder drehen konnte, die Art, wie sie zuhörte, als wären Worte oder Musik Wasser, das sich über sie ergoss, die Art, wie sie bis ins Herz der Dinge hineinsehen konnte, die andere taten, wie sie staunen konnte. Manchmal kam sie mir vor wie ein Forscher, wie sie mitbekam, wie Menschen waren, ihre Winkelzüge. Diese Dinge waren immer wieder neu und immer sie."
Der hier spricht, ist kein gewandter Erzähler, sondern einer, der mit viel Mühe darum kämpft, das Erinnernswerte eines armen und tristen Lebens festzuhalten. Der Autor führt dem Ungeschickten geschickt die Hand: Vergangenheit wird nicht wortmächtig wiederbelebt, sondern evoziert - sie wird im Wortsinne angerufen, und manchmal gibt sie ein Echo.
Diese Appelle an das Entschwundene geschehen über einzelne Wörter, oft über Namen, und diese Namen werden aneinandergereiht wie die Perlen auf einer Rosenkranzschnur. Bei dem, der sie ruft, lösen diese Namen heftige Schwingungen aus. Aber auch der Leser - wenn er denn einen guten Resonanzboden abgibt - kann mitschwingen.
MARTIN EBEL
Timothy O'Grady: "Ich lese den Himmel". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Uda Strätling. Mit einem Vorwort von John Berger und Photographien von Steve Pyke. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2000. 188 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nach Martin Ebel stehen Text und Fotografien in diesem Band je für sich - einen "Bezug" kann er nicht ausmachen, doch das stört ihn nicht. Beides könnte "für sich" bestehen, findet er, allerdings räumt er ein, dass typische Irland-Klischees bei den Fotos nicht bedient werden, was mancher enttäuschend finden wird, so Ebels Vermutung. Stattdessen habe Pyke statische Schwarzweiß-Aufnahmen gemacht, die - oft eintönige - Szenen und Gesichter festhalten. "Geradezu reduktionistisch" findet dies der Rezensent, was durchaus positiv gemeint zu sein scheint. Der Roman selbst hat irische Arbeitsemigranten zum Thema, erläutert Ebel, und ein solcher ist auch der Erzähler, der auf sein hartes Leben zurückblickt: Schlafen im Schweinestall, Kälte, Tod, Armut. O'Grady lasse hier keinen "gewandten Erzähler" sprechen, sondern einen, der mühsam mit seinen Erinnerungen ringt, doch dabei führe er "dem Ungeschickten geschickt die Hand". Und sofern der Leser über einen "entsprechenden Resonanzboden" verfügt, kann das Buch durchaus "heftige Schwingungen" auslösen, findet Ebel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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