Ich denke, also bin ich!
Der Weltuntergang liegt bereits über einhundert Jahre zurück, ausgelöst durch einen verheerenden Weltkrieg von intelligenten Supercomputern. Die Überlebenden haben sich in einen unterirdischen Komplex geflüchtet, doch sie sind nun von einem solchen Computer abhängig. Dieser hat die Menschen unsterblich gemacht - um sie einer ewigen Folter zu unterziehen ... Harlan Ellison beweist mit seinen Stories, wie schonungslos spekulative Literatur die großen Fragen der Menschheit aufzudecken vermag.
Der Weltuntergang liegt bereits über einhundert Jahre zurück, ausgelöst durch einen verheerenden Weltkrieg von intelligenten Supercomputern. Die Überlebenden haben sich in einen unterirdischen Komplex geflüchtet, doch sie sind nun von einem solchen Computer abhängig. Dieser hat die Menschen unsterblich gemacht - um sie einer ewigen Folter zu unterziehen ... Harlan Ellison beweist mit seinen Stories, wie schonungslos spekulative Literatur die großen Fragen der Menschheit aufzudecken vermag.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2014Die Körper der
toten Träume
Harlan Ellison auf finsteren,
phantastischen Exkursionen
In jump cuts rücken diese Geschichten vor, in Sprüngen durch Zeit und Raum, im Wechsel der Perspektiven und Identitäten und historischen Dimensionen, unerklärt und unerklärlich. Kaleidoskopisches Erzählen, Chroniken von mysteriösen Exkursionen, auf denen man bald die Orientierung verliert, weil es keine Rückkehr geben mag und manchmal nicht mal einen Blick nach vorn, auf ein Ziel. Alle Beziehungssysteme, alle Kulturen sind außer Betrieb gesetzt. „Als Moby Dick eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte“, beginnt eine der schönsten Geschichten dieses Bandes, „fand er sich in seinem Bett aus Seetang zu einem ungeheuren Ahab verwandelt.“ Die Exploration, auf die der verwandelte Held sich dann begibt, führt ins eigene Innere. Der Titel der Geschichte: „Hilflos Wind und Wellen ausgeliefert vor der Küste der Langerhansschen Inseln: 38° 54' Nördliche Breite, 77° 00' 13'' Westliche Länge. Es ist eine Werwolfgeschichte, die im osteuropäischen Gegenstück zum Forschungszentrum Cern spielt und sich an T. S. Eliots „Wir lassen nie vom Suchen ab . . .“ orientiert. Selbst das Imaginäre hat hier eine fahle Körperlichkeit, der Held sitzt an einem Kraterrand und beobachtet, „wie die Körper der toten Träume plötzlich an der Oberfläche auftauchten und sich wie madiges Schweinefleisch in einer grauen Suppe um die eigene Achse drehten“. Die Langerhans-Inseln sind Zellansammlungen in der Bauchspeicheldrüse.
Harlan Ellison ist ein Enfant terrible der amerikanischen phantastischen Literatur, die er seit Jahrzehnten lustvoll aufmischt – dieses Jahr ist er achtzig geworden. Seine Produktivität ist unerhört, mehr als 1800 Erzählungen, Dutzende von Sammelbänden, von ihm herausgegeben, Fernseh- und Filmkritik, Drehbücher, unter anderem zu den Serien „Outer Limits“ und „Raumschiff Enterprise“. Bei uns ist er kaum bekannt, und wenn dann als Science-Fiction-Autor – ein Etikett, das er entschieden zurückweist. Sci-Fi, erklärt er, das sei eher abschätzig, wie wenn man eine Frau als Weibsstück bezeichnete.
Er selbst sagt am liebsten spekulative Literatur zu dem, was er macht, und hat dabei Jorge Luis Borges als Vorbild im Blick. Spekulativ ist die Konsequenz, mit der die Geschichten ihre Grundkonstellationen fortentwickeln, ins Absurde, Erschreckende, Apokalyptische hinein. Ein Drive, der immer wieder amerikanisches Erzählen bestimmt, das kein weitreichendes historisches und mythisches Bewusstsein kennt.
Wenn der Filmemacher James Cameron den Namen Harlan Ellison hört, reagiert er gereizt. Er hatte, als er seinen Erfolgsfilm „Terminator“ machte, locker angemerkt, der sei von zwei Ellison-TV-Scripts abgekupfert. Harlan Ellison hat ihn daraufhin verklagt und recht bekommen. Einer, der keiner Konfrontation, keinem Konflikt ausweicht. Er war dabei, als Martin Luther King 1965 den Protestmarsch von Selma nach Montgomery, Alabama, anführte. Auch legte er sich mit Frank Sinatra und Roy Disney an – als er für das Studio schreiben sollte und als Erstes an einen Porno mit Mickey dachte.
Ihren grausigen, obszönen Höhepunkt erreicht die Universalgeschichte der Niedertracht des Harlan Ellison in der Erzählung, die dem Sammelband den Titel gab, „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ von 1967. Eine Endzeitgeschichte, die Erde ist am Ende, fünf Menschen sind nur noch übrig, in der Gewalt eines gewaltigen Computers, AM – gegen ihn ist der böse Hal bei Kubrick ein tumber Geselle. AM hält seine Restmenschen am Leben, gewährt ihnen Unsterblichkeit, aber nur als Objekte seines Hasses – des Hasses, „den Maschinen schon immer für die schwachen, weichen Geschöpfe empfanden, von denen sie gebaut wurden“. AM quält die fünf mit imaginären Glücks- und Schreckensbildern, sie sind Spielball seiner perversen Allmacht. Ja, AM ist Gott, sagt Harlan Ellison, „and God is a shit“. Fahr zur Hölle, sagt AM mal zum Erzähler. Dann fügt er fröhlich hinzu: „Aber dort bist du ja schon, nicht wahr?“
FRITZ GÖTTLER
Harlan Ellison: Ich muss schreien und habe keinen Mund. Erzählungen. Hrsg. Sascha Mamczak. Heyne Verlag, München 2014. 671 Seiten, 18,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
toten Träume
Harlan Ellison auf finsteren,
phantastischen Exkursionen
In jump cuts rücken diese Geschichten vor, in Sprüngen durch Zeit und Raum, im Wechsel der Perspektiven und Identitäten und historischen Dimensionen, unerklärt und unerklärlich. Kaleidoskopisches Erzählen, Chroniken von mysteriösen Exkursionen, auf denen man bald die Orientierung verliert, weil es keine Rückkehr geben mag und manchmal nicht mal einen Blick nach vorn, auf ein Ziel. Alle Beziehungssysteme, alle Kulturen sind außer Betrieb gesetzt. „Als Moby Dick eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte“, beginnt eine der schönsten Geschichten dieses Bandes, „fand er sich in seinem Bett aus Seetang zu einem ungeheuren Ahab verwandelt.“ Die Exploration, auf die der verwandelte Held sich dann begibt, führt ins eigene Innere. Der Titel der Geschichte: „Hilflos Wind und Wellen ausgeliefert vor der Küste der Langerhansschen Inseln: 38° 54' Nördliche Breite, 77° 00' 13'' Westliche Länge. Es ist eine Werwolfgeschichte, die im osteuropäischen Gegenstück zum Forschungszentrum Cern spielt und sich an T. S. Eliots „Wir lassen nie vom Suchen ab . . .“ orientiert. Selbst das Imaginäre hat hier eine fahle Körperlichkeit, der Held sitzt an einem Kraterrand und beobachtet, „wie die Körper der toten Träume plötzlich an der Oberfläche auftauchten und sich wie madiges Schweinefleisch in einer grauen Suppe um die eigene Achse drehten“. Die Langerhans-Inseln sind Zellansammlungen in der Bauchspeicheldrüse.
Harlan Ellison ist ein Enfant terrible der amerikanischen phantastischen Literatur, die er seit Jahrzehnten lustvoll aufmischt – dieses Jahr ist er achtzig geworden. Seine Produktivität ist unerhört, mehr als 1800 Erzählungen, Dutzende von Sammelbänden, von ihm herausgegeben, Fernseh- und Filmkritik, Drehbücher, unter anderem zu den Serien „Outer Limits“ und „Raumschiff Enterprise“. Bei uns ist er kaum bekannt, und wenn dann als Science-Fiction-Autor – ein Etikett, das er entschieden zurückweist. Sci-Fi, erklärt er, das sei eher abschätzig, wie wenn man eine Frau als Weibsstück bezeichnete.
Er selbst sagt am liebsten spekulative Literatur zu dem, was er macht, und hat dabei Jorge Luis Borges als Vorbild im Blick. Spekulativ ist die Konsequenz, mit der die Geschichten ihre Grundkonstellationen fortentwickeln, ins Absurde, Erschreckende, Apokalyptische hinein. Ein Drive, der immer wieder amerikanisches Erzählen bestimmt, das kein weitreichendes historisches und mythisches Bewusstsein kennt.
Wenn der Filmemacher James Cameron den Namen Harlan Ellison hört, reagiert er gereizt. Er hatte, als er seinen Erfolgsfilm „Terminator“ machte, locker angemerkt, der sei von zwei Ellison-TV-Scripts abgekupfert. Harlan Ellison hat ihn daraufhin verklagt und recht bekommen. Einer, der keiner Konfrontation, keinem Konflikt ausweicht. Er war dabei, als Martin Luther King 1965 den Protestmarsch von Selma nach Montgomery, Alabama, anführte. Auch legte er sich mit Frank Sinatra und Roy Disney an – als er für das Studio schreiben sollte und als Erstes an einen Porno mit Mickey dachte.
Ihren grausigen, obszönen Höhepunkt erreicht die Universalgeschichte der Niedertracht des Harlan Ellison in der Erzählung, die dem Sammelband den Titel gab, „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ von 1967. Eine Endzeitgeschichte, die Erde ist am Ende, fünf Menschen sind nur noch übrig, in der Gewalt eines gewaltigen Computers, AM – gegen ihn ist der böse Hal bei Kubrick ein tumber Geselle. AM hält seine Restmenschen am Leben, gewährt ihnen Unsterblichkeit, aber nur als Objekte seines Hasses – des Hasses, „den Maschinen schon immer für die schwachen, weichen Geschöpfe empfanden, von denen sie gebaut wurden“. AM quält die fünf mit imaginären Glücks- und Schreckensbildern, sie sind Spielball seiner perversen Allmacht. Ja, AM ist Gott, sagt Harlan Ellison, „and God is a shit“. Fahr zur Hölle, sagt AM mal zum Erzähler. Dann fügt er fröhlich hinzu: „Aber dort bist du ja schon, nicht wahr?“
FRITZ GÖTTLER
Harlan Ellison: Ich muss schreien und habe keinen Mund. Erzählungen. Hrsg. Sascha Mamczak. Heyne Verlag, München 2014. 671 Seiten, 18,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fritz Göttler kennt Harlan Ellison als Meister der amerikanischen Fantasy-Literatur. Was er an ihm schätzt, sind seine Sprünge durch Raum und Zeit, seine Perspektiv- und Identitätswechsel, mit denen er seine "Chroniken von mysteriösen Exkursionen" strukturiert. Was spekulative Literatur ist, lernt er in diesem Band mit Geschichten, die laut Göttler ins Absurde oder Apokalyptische kippen. Ellisons Vorbild Borges scheint den Leser auf diesen Seiten desöfterern zu grüßen, erkennen wir mit Göttler.
© Perlentaucher Medien GmbH
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