Als Palden Gyatso 1933 westlich von Lhasa geboren wurde, war die Welt in Tibet noch in Ordnung. Die Bevölkerung pflegte ihre jahrhundertealten Traditionen und religiösen Bräuche, die das tägliche Leben in hohem Maß bestimmten. Der junge Palden wurde zum Mönch bestimmt und zur Ausbildung in das angesehene Kloster Drepung geschickt. Der Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee 1950 veränderte das Leben der Tibeter von Grund auf. China versuchte mit großem Erfolg das kulturelle und religiöse Tibet auszuradieren. Mit seiner Zivilcourage, seinem öffentlichen Protest und seinem Widerstand geriet Mönch Palden bald in die Mühlen der chinesischen Vernichtungsmaschinierie. Nach mehr als 30 Jahren aus der Haft entkommen, machte er sich auf, überall auf der Welt auf die Greuel Chinas hinzuweisen. Mit bewundernswerter Ausdauer verfolgt er seine Ziele und ist überzeugt davon, daß Aufklärung und Widerstand schließlich zum Erfolg führen werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.1998Feuer unter dem Schnee
Der Bericht eines tibetischen Mönches über die chinesische Gewaltherrschaft
Palden Gyatso und Tsering Shakya: Ich, Palden Gyatso, Mönch aus Tibet. Aus dem Englischen von Xenia Osthelder. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1998. 304 Seiten, 38,- Mark.
"Palden Gyatso ist ein Straftäter, der immer wieder die Regierung angriff. Er versuchte unter anderem, die Regierung zu stürzen, aus der Haft zu flüchten und zu stehlen. Palden Gyatsos Bericht über seine Folterung durch Gefängnisaufseher ist unwahr. Die Folter ist in chinesischen Gefängnissen verboten."
So schrieb der chinesische Botschafter in London an eine britische Zeitung. Man fragt sich, worüber man sich mehr wundern soll: über die Dreistigkeit, mit der hier bewiesene Tatsachen mit frecher Stirn geleugnet werden, oder über die offenbar grenzenlose Nachsicht westlicher Regierungen, die solche Unverschämtheiten hinnehmen, weil sie Angst haben, ihre Wirtschaft könne auf dem riesigen chinesischen Markt zu kurz kommen, den sie als den Markt der Zukunft ansehen. Weil man "China nicht isolieren" dürfe, sind fast alle westlichen Regierungen bereit, immer wieder beide Augen zuzudrücken, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, die in Asien angeblich ohnehin "anders beurteilt" würden als in Europa und Nordamerika. "Nur wegen Tibet" will sich erst recht keine westliche Regierung mit der chinesischen Führung anlegen. Schließlich sei Tibet doch schon immer ein Teil Chinas gewesen, lautet eine Begründung, also dürfe man sich dort auch gar nicht einmischen.
Tatsächlich war Tibet bis zur chinesischen Invasion vor nunmehr bald fünfzig Jahren sehr wohl ein unabhängiger Staat, wenn auch vor der noch jungen Selbständigkeit jahrhundertelang in engem Abhängigkeitsverhältnis zu Peking. Abgesehen davon könnten sich die westlichen Erwartungen in den angeblich so gewinnträchtigen chinesischen Markt schon bald als maßlos übertrieben erweisen.
In China ist vieles auf Sand gebaut, denn fast alle chinesischen Statistiken sind geschönt oder gefälscht. Nach dem Platzen der ökonomischen Luftblasen in Chinas südostasiatischer Nachbarschaft und den zunehmenden Schwierigkeiten in Japan mag sich in China demnächst ein noch lauterer Knall ereignen, der alle westlichen Hoffnungen mit einem Schlage zunichte machen könnte. Niemand möchte China eine dramatische Abwärtsentwicklung wünschen, aber es mehren sich die Anzeichen dafür, daß nach dem Erschlaffen der kleinen asiatischen "Tiger" demnächst auch dem großen chinesischen Drachen die Luft ausgehen könnte.
Politisch wird auch nicht mehr lange alles so bleiben wie bisher. Das kommunistische System ist auf die Dauer unhaltbar. Demokratische Reformen sind unausweichlich. Einiges hat sich auch schon geändert. Die chinesische Bevölkerung genießt mehr Freiheiten und läßt sich nicht mehr alles gefallen. Aber die große Wende steht noch bevor. Tibet hat von den Veränderungen bislang am wenigsten gespürt. Dort glaubt die Partei ihre Herrschaft noch immer auf die althergebrachte Art ausüben zu müssen. Nach allem, was wir aus Berichten von Tibet-Flüchtlingen und Tibet-Reisenden wissen, arbeitet der chinesische Unterdrückungsapparat dort noch genauso, wie ihn Palden Gyatso, der vom chinesischen Botschafter in London zu Unrecht als Straftäter verunglimpfte Mönch, in seinem 1997 zuerst in englischer Sprache in London veröffentlichten und jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienenen Bericht beschrieben hat. Dieses Buch sollte man allen zur Pflichtlektüre machen, die sich immer wieder für "normale" Beziehungen zu China aussprechen. Kann es jemals "normale" Beziehungen zu einem Regime geben, das ein Land so behandelt, wie die kommunistische Führung mit Tibet und seiner Bevölkerung umgesprungen ist?
Palden Gyatso war mitnichten ein gewöhnlicher Straftäter, sondern ein einfacher Mönch, der nichts anderes wollte, als in einem Kloster seiner Wahl die buddhistischen Lehren in ihrer tibetischen Version zu studieren. Wenn er seine religiösen Überzeugungen nicht verraten wollte, mußte er allen sozialistischen Umerziehungsversuchen der fremden Besatzer widerstehen. Das hat er getan. Nur das war sein Verbrechen. Auch durch noch so lange und brutale Gefängnishaft war jedoch sein Widerstandswille nicht zu brechen. Was Palden Gyatso zu erzählen hatte, als ihm schließlich nach seiner Entlassung aus seinem letzten Arbeitslager die Flucht nach Dharamsala, dem Exilort des Dalai Lama in Indien, gelungen war, ist eine schier unglaubliche Leidensgeschichte.
Das Buch, das auf der Grundlage des in vielen Sitzungen einem heute in London lebenden tibetischen Landsmann mündlich übermittelten Berichts entstand, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es enthüllt nämlich nicht nur viele bisher unbekannte Einzelheiten über die Lage in Tibet vom Beginn des chinesischen Einmarsches bis heute, sondern der Leser erfährt auch gleichsam nebenbei mindestens ebensoviel über China und die verschiedenen von Mao ins Werk gesetzten und meist kläglich gescheiterten ideologischen Kampagnen bis hin zur Kulturrevolution und zu den Versuchen einer Korrektur. Man erkennt, daß die jeweilige Führung in Peking nicht nur den Tibetern gegenüber verbrecherisch handelte, sondern auch die eigenen Landsleute immer wieder bis aufs Blut gepeinigt hat. Das bekamen Chinesen selbst im pekingfernen Tibet zu spüren. Schon deshalb ist das Buch allen China-Enthusiasten, die gern möglichst rasch möglichst viel Gras über diese mörderischen Jahrzehnte wachsen sehen möchten, wärmstens zu empfehlen, auf daß sie endlich das Fragwürdige ihres Bemühens erkennen, alle Untaten der diversen chinesischen Diktatoren mit dem Hinweis auf die von Europa angeblich so verschiedenen "asiatischen Werte" zu bagatellisieren.
Was die Erzählungen des Mönches Palden Gyatso so authentisch und sympathisch macht, ist, daß er nicht verschweigt, wie viele seiner tibetischen Landsleute im Laufe der Jahre zu willigen Helfern der chinesischen Machthaber wurden und es bis heute geblieben sind. Auch Palden Gyatso ist als Häftling einige Male schwach geworden und hat die von seinen Folterknechten immer aufs neue befohlenen "Geständnisse" abgelegt, sich selbst oder gar einen Mithäftling irgendwelcher "konterrevolutionärer" Vergehen bezichtigt, die sie gar nicht begangen hatten. Das alles kennt die Welt aus den Erzählungen chinesischer Dissidenten, die in ihrer Heimat ähnliches durchgemacht haben, zur Genüge. In Tibet scheint indessen alles noch schrecklicher gewesen zu sein, wenn man das harte Klima auf dem Dach der Welt und das Nichtvorhandensein selbst der primitivsten sanitären Einrichtungen in den dortigen Haftanstalten und Arbeitslagern berücksichtigt.
Palden Gyatso hat das Martyrium seiner mehr als dreißig Jahre dauernden Haft nicht zuletzt deshalb durchgestanden, weil er sich vorgenommen hatte, ähnlich wie Victor Klemperer in Dresden während der Hitler-Zeit mit seinem Tagebuch "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten" die Welt ausführlich zu unterrichten über das, was die chinesische Führung seiner tibetischen Heimat antut und wie das Regime das eigene Volk behandelt.
Angesichts der wichtigen politischen und humanitären Botschaften, die dieses Buch enthält, ist man ausnahmsweise gern bereit, über alle stilistischen Unzulänglichkeiten der deutschen Übersetzung hinwegzusehen. Unverständlich bleibt allerdings, warum der Verlag glaubte, den Titel der englischsprachigen Ausgabe "Fire under the Snow" unbedingt ändern zu müssen. Es geht nicht nur um Palden Gyatso, den tapferen Mönch, auch wenn sein Schicksal im Mittelpunkt steht, sondern um Tibet, und in diesem Land brennt tatsächlich ein Feuer unter dem ewigen Schnee, das die chinesischen Machthaber eines Tages versengen könnte.
KLAUS NATORP
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Der Bericht eines tibetischen Mönches über die chinesische Gewaltherrschaft
Palden Gyatso und Tsering Shakya: Ich, Palden Gyatso, Mönch aus Tibet. Aus dem Englischen von Xenia Osthelder. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1998. 304 Seiten, 38,- Mark.
"Palden Gyatso ist ein Straftäter, der immer wieder die Regierung angriff. Er versuchte unter anderem, die Regierung zu stürzen, aus der Haft zu flüchten und zu stehlen. Palden Gyatsos Bericht über seine Folterung durch Gefängnisaufseher ist unwahr. Die Folter ist in chinesischen Gefängnissen verboten."
So schrieb der chinesische Botschafter in London an eine britische Zeitung. Man fragt sich, worüber man sich mehr wundern soll: über die Dreistigkeit, mit der hier bewiesene Tatsachen mit frecher Stirn geleugnet werden, oder über die offenbar grenzenlose Nachsicht westlicher Regierungen, die solche Unverschämtheiten hinnehmen, weil sie Angst haben, ihre Wirtschaft könne auf dem riesigen chinesischen Markt zu kurz kommen, den sie als den Markt der Zukunft ansehen. Weil man "China nicht isolieren" dürfe, sind fast alle westlichen Regierungen bereit, immer wieder beide Augen zuzudrücken, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, die in Asien angeblich ohnehin "anders beurteilt" würden als in Europa und Nordamerika. "Nur wegen Tibet" will sich erst recht keine westliche Regierung mit der chinesischen Führung anlegen. Schließlich sei Tibet doch schon immer ein Teil Chinas gewesen, lautet eine Begründung, also dürfe man sich dort auch gar nicht einmischen.
Tatsächlich war Tibet bis zur chinesischen Invasion vor nunmehr bald fünfzig Jahren sehr wohl ein unabhängiger Staat, wenn auch vor der noch jungen Selbständigkeit jahrhundertelang in engem Abhängigkeitsverhältnis zu Peking. Abgesehen davon könnten sich die westlichen Erwartungen in den angeblich so gewinnträchtigen chinesischen Markt schon bald als maßlos übertrieben erweisen.
In China ist vieles auf Sand gebaut, denn fast alle chinesischen Statistiken sind geschönt oder gefälscht. Nach dem Platzen der ökonomischen Luftblasen in Chinas südostasiatischer Nachbarschaft und den zunehmenden Schwierigkeiten in Japan mag sich in China demnächst ein noch lauterer Knall ereignen, der alle westlichen Hoffnungen mit einem Schlage zunichte machen könnte. Niemand möchte China eine dramatische Abwärtsentwicklung wünschen, aber es mehren sich die Anzeichen dafür, daß nach dem Erschlaffen der kleinen asiatischen "Tiger" demnächst auch dem großen chinesischen Drachen die Luft ausgehen könnte.
Politisch wird auch nicht mehr lange alles so bleiben wie bisher. Das kommunistische System ist auf die Dauer unhaltbar. Demokratische Reformen sind unausweichlich. Einiges hat sich auch schon geändert. Die chinesische Bevölkerung genießt mehr Freiheiten und läßt sich nicht mehr alles gefallen. Aber die große Wende steht noch bevor. Tibet hat von den Veränderungen bislang am wenigsten gespürt. Dort glaubt die Partei ihre Herrschaft noch immer auf die althergebrachte Art ausüben zu müssen. Nach allem, was wir aus Berichten von Tibet-Flüchtlingen und Tibet-Reisenden wissen, arbeitet der chinesische Unterdrückungsapparat dort noch genauso, wie ihn Palden Gyatso, der vom chinesischen Botschafter in London zu Unrecht als Straftäter verunglimpfte Mönch, in seinem 1997 zuerst in englischer Sprache in London veröffentlichten und jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienenen Bericht beschrieben hat. Dieses Buch sollte man allen zur Pflichtlektüre machen, die sich immer wieder für "normale" Beziehungen zu China aussprechen. Kann es jemals "normale" Beziehungen zu einem Regime geben, das ein Land so behandelt, wie die kommunistische Führung mit Tibet und seiner Bevölkerung umgesprungen ist?
Palden Gyatso war mitnichten ein gewöhnlicher Straftäter, sondern ein einfacher Mönch, der nichts anderes wollte, als in einem Kloster seiner Wahl die buddhistischen Lehren in ihrer tibetischen Version zu studieren. Wenn er seine religiösen Überzeugungen nicht verraten wollte, mußte er allen sozialistischen Umerziehungsversuchen der fremden Besatzer widerstehen. Das hat er getan. Nur das war sein Verbrechen. Auch durch noch so lange und brutale Gefängnishaft war jedoch sein Widerstandswille nicht zu brechen. Was Palden Gyatso zu erzählen hatte, als ihm schließlich nach seiner Entlassung aus seinem letzten Arbeitslager die Flucht nach Dharamsala, dem Exilort des Dalai Lama in Indien, gelungen war, ist eine schier unglaubliche Leidensgeschichte.
Das Buch, das auf der Grundlage des in vielen Sitzungen einem heute in London lebenden tibetischen Landsmann mündlich übermittelten Berichts entstand, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Es enthüllt nämlich nicht nur viele bisher unbekannte Einzelheiten über die Lage in Tibet vom Beginn des chinesischen Einmarsches bis heute, sondern der Leser erfährt auch gleichsam nebenbei mindestens ebensoviel über China und die verschiedenen von Mao ins Werk gesetzten und meist kläglich gescheiterten ideologischen Kampagnen bis hin zur Kulturrevolution und zu den Versuchen einer Korrektur. Man erkennt, daß die jeweilige Führung in Peking nicht nur den Tibetern gegenüber verbrecherisch handelte, sondern auch die eigenen Landsleute immer wieder bis aufs Blut gepeinigt hat. Das bekamen Chinesen selbst im pekingfernen Tibet zu spüren. Schon deshalb ist das Buch allen China-Enthusiasten, die gern möglichst rasch möglichst viel Gras über diese mörderischen Jahrzehnte wachsen sehen möchten, wärmstens zu empfehlen, auf daß sie endlich das Fragwürdige ihres Bemühens erkennen, alle Untaten der diversen chinesischen Diktatoren mit dem Hinweis auf die von Europa angeblich so verschiedenen "asiatischen Werte" zu bagatellisieren.
Was die Erzählungen des Mönches Palden Gyatso so authentisch und sympathisch macht, ist, daß er nicht verschweigt, wie viele seiner tibetischen Landsleute im Laufe der Jahre zu willigen Helfern der chinesischen Machthaber wurden und es bis heute geblieben sind. Auch Palden Gyatso ist als Häftling einige Male schwach geworden und hat die von seinen Folterknechten immer aufs neue befohlenen "Geständnisse" abgelegt, sich selbst oder gar einen Mithäftling irgendwelcher "konterrevolutionärer" Vergehen bezichtigt, die sie gar nicht begangen hatten. Das alles kennt die Welt aus den Erzählungen chinesischer Dissidenten, die in ihrer Heimat ähnliches durchgemacht haben, zur Genüge. In Tibet scheint indessen alles noch schrecklicher gewesen zu sein, wenn man das harte Klima auf dem Dach der Welt und das Nichtvorhandensein selbst der primitivsten sanitären Einrichtungen in den dortigen Haftanstalten und Arbeitslagern berücksichtigt.
Palden Gyatso hat das Martyrium seiner mehr als dreißig Jahre dauernden Haft nicht zuletzt deshalb durchgestanden, weil er sich vorgenommen hatte, ähnlich wie Victor Klemperer in Dresden während der Hitler-Zeit mit seinem Tagebuch "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten" die Welt ausführlich zu unterrichten über das, was die chinesische Führung seiner tibetischen Heimat antut und wie das Regime das eigene Volk behandelt.
Angesichts der wichtigen politischen und humanitären Botschaften, die dieses Buch enthält, ist man ausnahmsweise gern bereit, über alle stilistischen Unzulänglichkeiten der deutschen Übersetzung hinwegzusehen. Unverständlich bleibt allerdings, warum der Verlag glaubte, den Titel der englischsprachigen Ausgabe "Fire under the Snow" unbedingt ändern zu müssen. Es geht nicht nur um Palden Gyatso, den tapferen Mönch, auch wenn sein Schicksal im Mittelpunkt steht, sondern um Tibet, und in diesem Land brennt tatsächlich ein Feuer unter dem ewigen Schnee, das die chinesischen Machthaber eines Tages versengen könnte.
KLAUS NATORP
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