++++ Warum braucht im 21. Jahrhundert alles ein Gesicht? ++++
Große Augen, lächelnde Münder: Gesichter auf Plakatwänden sollen Gefühle erzeugen, Vertrauen, Intimität - alles Leitbegriffe der Werbung im 21. Jahrhundert. Aber der Glaube an die Wirkung von Gesichtern hat eine lange Vorgeschichte. Ihren Spuren geht der Historiker und Publizist Valentin Groebner in seinem klugen, elegant geschriebenen Essay nach. Ob Heiligenbilder, Renaissanceporträts oder Fotografien, alle diese Bilder sagen viel über die Fertigkeiten ihrer Macher aus, doch wenig über die dargestellten Menschen. Am Ende stellt sich die Frage, wie sehr wir diesen Gesichtern wirklich gleichen wollen - denn autonome Ich-Gesichter gibt es nicht.
Der Band enthält 37 s/w-Abbildungen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Große Augen, lächelnde Münder: Gesichter auf Plakatwänden sollen Gefühle erzeugen, Vertrauen, Intimität - alles Leitbegriffe der Werbung im 21. Jahrhundert. Aber der Glaube an die Wirkung von Gesichtern hat eine lange Vorgeschichte. Ihren Spuren geht der Historiker und Publizist Valentin Groebner in seinem klugen, elegant geschriebenen Essay nach. Ob Heiligenbilder, Renaissanceporträts oder Fotografien, alle diese Bilder sagen viel über die Fertigkeiten ihrer Macher aus, doch wenig über die dargestellten Menschen. Am Ende stellt sich die Frage, wie sehr wir diesen Gesichtern wirklich gleichen wollen - denn autonome Ich-Gesichter gibt es nicht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2015Sieh! Mich! An!
Unser Bild vom Menschen: Valentin Groebner geht der Frage nach, was in gemalten und fotografierten Gesichtern wirklich zur Darstellung kommt - ob auf Werbeplakaten oder alten Porträts.
Dieses Buch kann zu unverhofften Begegnungen führen. Mit Menschen, die sich von Litfaßsäulen oder Plakaten herab an den Betrachter wenden. Die Werbeplakate, die der in Luzern lehrende Historiker Valentin Groebner in den Blick nimmt, zeigen nämlich ein Gesicht: ein soziales Display, das per se als Träger von Emotionen und Verteiler von Botschaften wahrgenommen wird. Und obwohl wir wissen, dass es sich nicht um wirkliche Menschen, sondern um "Werbeträger" handelt, gelingt es diesen Gesichtern, ein verlockendes Identifikationsangebot auszusenden: "Vom Gesicht auf dem Bild", so Groebner, "führen dicke, mit starken Wünschen und Identifikationsmechanismen aufgeladene Kabel zurück zu demjenigen, der es anschaut."
Angesichts der Tatsache, von diesen Gesichtern und Botschaften tagtäglich umstellt zu sein, liegt es nahe, das konsum- oder kulturkritische Lied von der - wie es der Schriftsteller Max Picard angesichts der Fotografie nannte - "Geheimnislosigkeit" des Gesichts in der massenhaften Reproduktion anzustimmen, oder gleich - wie weiland Jean Baudrillard - zu konstatieren: "Die Großaufnahme eines Gesichts ist ebenso obszön wie ein von nahe beobachtetes Geschlechtsteil."
Valentin Groebner erliegt dieser Versuchung nicht, im Gegenteil, er scheint mit der Gelassenheit eines seinen Quellen vertrauenden Historikers zu sagen: Was wollt ihr eigentlich? Bilder des menschlichen Gesichts waren immer schon oder zumindest sehr lange "Aufmerksamkeitsmaschinen" dieser Art. Nicht die gemachten und vervielfältigten Bilder sind das Problem, sondern die Betrachter, die auf ihnen echte, lebendige Personen sehen wollen, die den Bildern unterstellen, in irgendeiner Weise "wahr" zu sein. Es ist dieser Mythos des "wahren" Bildes, auf den es Groebner abgesehen hat.
Schon die mittelalterliche Ikonenmalerei strebte nicht die natur- oder lebensgetreue Abbildung Christi oder der Heiligen an, sondern lässt Personen erscheinen, die unendlich oft kopiert wurden, ohne dass es ein reales Vorbild gegeben hätte. Erst in der Renaissance - so der kulturgeschichtliche Common Sense - ist das Interesse am Individuum erwacht und mit ihm die Darstellung vermeintlich "echter" Personen. Menschen, die "ich" sagen, die uns aus dem Bild heraus und über die Zeiten hinweg ansprechen: die ersten wirklichen Vorläufer der Ich-Plakate.
Sowohl die theoretische Auseinandersetzung über Malerei als auch Briefe von Porträtierten und Malern lassen Groebner skeptisch werden gegenüber der kunsthistorisch gebetsmühlenhaft wiederholten Rede von der Entdeckung des authentischen Ichs, das in den Porträts des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts seinen Ausdruck finde: "An die Fähigkeit der Maler, jemandes Aussehen naturgetreu und lebensecht abzubilden, haben die Experten des 19. und 20. Jahrhunderts um einiges fester geglaubt als die Kunden und Auftraggeber dieser Maler vierhundert Jahre früher." Die Präsentation der Person stand gegenüber der Repräsentation eines Körpers in der Malerei im Vordergrund.
So glaubte etwa der Florentiner Humanist Leon Battista Alberti in seinem Traktat über die Malerei von 1435/36, dass Bilder grundsätzlich täuschen, Ähnlichkeit simulieren und malerisch organisieren. Nur deshalb könnten sie als Träger von Botschaften und Emotionen funktionieren. Weil viele Porträts nicht "nach der Natur" entstanden seien, sondern nach Vorlagen, sei nicht das Verhältnis vom Bild zum Abgebildeten relevant, sondern das vom Bild zu anderen Bildern: "Für die Zeitgenossen signalisierten diese Bilder nicht Individualität und Authentizität, sondern die besonderen Fähigkeiten derjenigen, die sie herstellen ... Bilder von Gesichtern waren deswegen wirksam, weil sie etwas Bestehendes nicht einfach wiedergaben, sondern es verwandelten und vervielfältigten."
Von der Porträtmalerei scheint es also nur ein kleiner Sprung zu den Ich-Plakaten von heute. Gäbe es da nicht eine riesige Hürde: die Fotografie, die immerhin verspricht, das wahre Bild einer wirklichen Person zeigen zu können. Doch auch im Wirklichkeitsmedium der Fotografie entzaubert Groebner den Mythos vom "wahren" Bild. Und zwar deshalb, weil er seinen Blick nicht darauf richtet, wer auf den Fotografien abgebildet wird, sondern darauf achtet, wie und wozu diese Technik gebraucht wurde.
Mit dem Beginn der Fotografie beginnt für Groebner auch die Lust am inszenierten, retuschierten Bild, an Bildern, die zu massenhafter Selbstvermarktung, etwa in Form von Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weitverbreiteten Fotovisitenkarten, verwendet werden. So erzählt Groebner die Geschichte der Porträtfotografie als eine der Erzeugung und Verbreitung von "Aufmerksamkeitsmaschinen", etwa über populäre Medien wie Porträtbildpostkarten oder standardisierte Fotos für Verbrecherdateien. Er durchforstet die Archive auf der Suche nach "Volksgesichtern", also Porträtaufnahmen, die prototypisch für Kollektive stehen, bis hin zur Eroberung des öffentlichen Raums durch großformatige Werbeflächen oder allgegenwärtige Abbildungen in Zeitungen und Magazinen, in denen dann die Produkte selbst, wie der Londoner Werber William Crawford 1937 formulierte, ein Gesicht bekommen.
Dass man auf Berliner Plakatwänden und Litfaßsäulen derzeit häufig einer Frau in einem langen dunkelblauen Mantel begegnet, aus deren grünlichem Gesicht eine Sprechblase fragt "Seltsame Nacht, oder?", wirkt wie eine Bestätigung, wenn nicht gar eine Überbietung von Groebners Thesen. Denn hier wird nicht nur ein Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner in ein Ich-Plakat verwandelt, das für eine Kunstausstellung wirbt, sondern dieses Plakat zeigt, wie Ich-Plakate überhaupt funktionieren: Sie machen ein Bild von einem Menschen und lassen es sprechen. Und wir folgen ihm. Manchmal sogar in eine Ausstellung.
THORSTEN JANTSCHEK.
Valentin Groebner: "Ich-Plakate". Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 204 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unser Bild vom Menschen: Valentin Groebner geht der Frage nach, was in gemalten und fotografierten Gesichtern wirklich zur Darstellung kommt - ob auf Werbeplakaten oder alten Porträts.
Dieses Buch kann zu unverhofften Begegnungen führen. Mit Menschen, die sich von Litfaßsäulen oder Plakaten herab an den Betrachter wenden. Die Werbeplakate, die der in Luzern lehrende Historiker Valentin Groebner in den Blick nimmt, zeigen nämlich ein Gesicht: ein soziales Display, das per se als Träger von Emotionen und Verteiler von Botschaften wahrgenommen wird. Und obwohl wir wissen, dass es sich nicht um wirkliche Menschen, sondern um "Werbeträger" handelt, gelingt es diesen Gesichtern, ein verlockendes Identifikationsangebot auszusenden: "Vom Gesicht auf dem Bild", so Groebner, "führen dicke, mit starken Wünschen und Identifikationsmechanismen aufgeladene Kabel zurück zu demjenigen, der es anschaut."
Angesichts der Tatsache, von diesen Gesichtern und Botschaften tagtäglich umstellt zu sein, liegt es nahe, das konsum- oder kulturkritische Lied von der - wie es der Schriftsteller Max Picard angesichts der Fotografie nannte - "Geheimnislosigkeit" des Gesichts in der massenhaften Reproduktion anzustimmen, oder gleich - wie weiland Jean Baudrillard - zu konstatieren: "Die Großaufnahme eines Gesichts ist ebenso obszön wie ein von nahe beobachtetes Geschlechtsteil."
Valentin Groebner erliegt dieser Versuchung nicht, im Gegenteil, er scheint mit der Gelassenheit eines seinen Quellen vertrauenden Historikers zu sagen: Was wollt ihr eigentlich? Bilder des menschlichen Gesichts waren immer schon oder zumindest sehr lange "Aufmerksamkeitsmaschinen" dieser Art. Nicht die gemachten und vervielfältigten Bilder sind das Problem, sondern die Betrachter, die auf ihnen echte, lebendige Personen sehen wollen, die den Bildern unterstellen, in irgendeiner Weise "wahr" zu sein. Es ist dieser Mythos des "wahren" Bildes, auf den es Groebner abgesehen hat.
Schon die mittelalterliche Ikonenmalerei strebte nicht die natur- oder lebensgetreue Abbildung Christi oder der Heiligen an, sondern lässt Personen erscheinen, die unendlich oft kopiert wurden, ohne dass es ein reales Vorbild gegeben hätte. Erst in der Renaissance - so der kulturgeschichtliche Common Sense - ist das Interesse am Individuum erwacht und mit ihm die Darstellung vermeintlich "echter" Personen. Menschen, die "ich" sagen, die uns aus dem Bild heraus und über die Zeiten hinweg ansprechen: die ersten wirklichen Vorläufer der Ich-Plakate.
Sowohl die theoretische Auseinandersetzung über Malerei als auch Briefe von Porträtierten und Malern lassen Groebner skeptisch werden gegenüber der kunsthistorisch gebetsmühlenhaft wiederholten Rede von der Entdeckung des authentischen Ichs, das in den Porträts des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts seinen Ausdruck finde: "An die Fähigkeit der Maler, jemandes Aussehen naturgetreu und lebensecht abzubilden, haben die Experten des 19. und 20. Jahrhunderts um einiges fester geglaubt als die Kunden und Auftraggeber dieser Maler vierhundert Jahre früher." Die Präsentation der Person stand gegenüber der Repräsentation eines Körpers in der Malerei im Vordergrund.
So glaubte etwa der Florentiner Humanist Leon Battista Alberti in seinem Traktat über die Malerei von 1435/36, dass Bilder grundsätzlich täuschen, Ähnlichkeit simulieren und malerisch organisieren. Nur deshalb könnten sie als Träger von Botschaften und Emotionen funktionieren. Weil viele Porträts nicht "nach der Natur" entstanden seien, sondern nach Vorlagen, sei nicht das Verhältnis vom Bild zum Abgebildeten relevant, sondern das vom Bild zu anderen Bildern: "Für die Zeitgenossen signalisierten diese Bilder nicht Individualität und Authentizität, sondern die besonderen Fähigkeiten derjenigen, die sie herstellen ... Bilder von Gesichtern waren deswegen wirksam, weil sie etwas Bestehendes nicht einfach wiedergaben, sondern es verwandelten und vervielfältigten."
Von der Porträtmalerei scheint es also nur ein kleiner Sprung zu den Ich-Plakaten von heute. Gäbe es da nicht eine riesige Hürde: die Fotografie, die immerhin verspricht, das wahre Bild einer wirklichen Person zeigen zu können. Doch auch im Wirklichkeitsmedium der Fotografie entzaubert Groebner den Mythos vom "wahren" Bild. Und zwar deshalb, weil er seinen Blick nicht darauf richtet, wer auf den Fotografien abgebildet wird, sondern darauf achtet, wie und wozu diese Technik gebraucht wurde.
Mit dem Beginn der Fotografie beginnt für Groebner auch die Lust am inszenierten, retuschierten Bild, an Bildern, die zu massenhafter Selbstvermarktung, etwa in Form von Mitte des neunzehnten Jahrhunderts weitverbreiteten Fotovisitenkarten, verwendet werden. So erzählt Groebner die Geschichte der Porträtfotografie als eine der Erzeugung und Verbreitung von "Aufmerksamkeitsmaschinen", etwa über populäre Medien wie Porträtbildpostkarten oder standardisierte Fotos für Verbrecherdateien. Er durchforstet die Archive auf der Suche nach "Volksgesichtern", also Porträtaufnahmen, die prototypisch für Kollektive stehen, bis hin zur Eroberung des öffentlichen Raums durch großformatige Werbeflächen oder allgegenwärtige Abbildungen in Zeitungen und Magazinen, in denen dann die Produkte selbst, wie der Londoner Werber William Crawford 1937 formulierte, ein Gesicht bekommen.
Dass man auf Berliner Plakatwänden und Litfaßsäulen derzeit häufig einer Frau in einem langen dunkelblauen Mantel begegnet, aus deren grünlichem Gesicht eine Sprechblase fragt "Seltsame Nacht, oder?", wirkt wie eine Bestätigung, wenn nicht gar eine Überbietung von Groebners Thesen. Denn hier wird nicht nur ein Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner in ein Ich-Plakat verwandelt, das für eine Kunstausstellung wirbt, sondern dieses Plakat zeigt, wie Ich-Plakate überhaupt funktionieren: Sie machen ein Bild von einem Menschen und lassen es sprechen. Und wir folgen ihm. Manchmal sogar in eine Ausstellung.
THORSTEN JANTSCHEK.
Valentin Groebner: "Ich-Plakate". Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 204 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Einen weiten Bogen von spätmittelalterlichen Heiligenporträts über die Renaissance bis hin zu Werbeplakaten des 21. Jahrhunderts schlage der Luzerner Geschichtsprofessor Valentin Groebner in seinem Buch, schreibt Oliver Pfohlmann. Das besondere Interesse des Autors gelte schließlich der Frage, ob jene heutigen "Ich-Plakate", in denen uns freundliche Gesichter direkt anblicken und eine Botschaft vermitteln wollen, historische Vorläufer haben. Der Rezensent Pfohlmann zeichnet Groebners Argumentationswege in groben Zügen nach, wobei ihm auffällt, dass der Autor den Kunstwissenschaften eine gewisse Unbedarftheit im Umgang mit (vermeintlichen) Porträts unterstellt. Groebners Überlegungen findet Pfohlmann insgesamt kenntnisreich und gut lesbar, der Kritiker lobt die reichhaltigen Beispiele. Letztlich vermisst er allerdings die Frage, "ob die Wirkung der 'Ich-Plakate' nicht auch oder sogar in erster Linie von der […] Andersheit des Anderen herrührt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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einen der coolsten Geschichtswissenschaftler momentan überhaupt Jan Feddersen litera.taz 20151013