Mit einer Einladung fängt alles an. Herr W. soll an einer Podiumsdiskussion unbekannter Untergrunddichter teilnehmen. Dumm nur, dass Herr W. sich überhaupt nicht erinnern kann, je schriftstellerisch tätig gewesen zu sein. Herr W. stellt Nachforschungen an und nimmt schließlich Einsicht in seine Stasi-Akte. Was für ein Fund: Tatsächlich sind hier seine lyrischen Gehversuche unter dem Titel "Mögliche Exekution des Konjunktivs" abgeheftet, dazu sämtliche Liebesbriefe an Liane in München ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2009Die Schnüffelphilologie wittert überall tickende Lyrikbomben
Das war die DDR: lethargisch, aber auch lustig, vorausgesetzt, man hatte selbst Humor. Rayk Wieland hat einen verblüffend leichthändigen Roman zum Wendejahr geschrieben.
Von Edo Reents
Kann man mit Büchern die Welt verändern?", fragte die "Titanic" im Herbst 1986. Zu sehen war Ronald Reagan, der "Yes, Sir!" antwortete und mit einer Schwarte auf den roten Knopf schlug, mit dem man die Atombomben zündete. Dass drei Jahre später mit dem ganzen Ostblock auch die DDR zu Bruch ging, muss aber nicht unbedingt kollektiver Lesewut zugeschrieben werden. Die Ursachenforschung für den Republik-Untergang hat seither gleichermaßen Erinnerungen und literarische Phantasien freigesetzt, die den einen immer noch zu wenig sind - irgendwie wartet man ja immer noch auf den Wenderoman -, den anderen schon zu viel oder aufdringlich, den wieder anderen zu larmoyant oder feierlich.
Einen unerhörten Ton schlägt nun Rayk Wieland an. Sein Roman "Ich schlage vor, dass wir uns küssen" signalisiert im Titel die frech-sympathische Unbekümmertheit mancher Schlager und hält sich ansonsten an den intelligenten, informierten Humorbegriff des "Titanic"-Umfelds, dem Wieland persönlich auch zuzurechnen ist. Dieser aus Leipzig stammende Autor und Journalist unterzieht das letzte DDR-Jahrzehnt einer Erinnerungsprozedur, die zu dem bräsigen, zuweilen auch wehleidigen Ernst sonstiger Vergangenheitsbewältigung denkbar weiten Abstand hält. Wenn man den Artikel noch im Kopf hat, den Wieland vor zwei Jahren in der Wochenendbeilage der "Süddeutschen Zeitung" geschrieben hat, dann muss man annehmen, dass die Geschichte des 1965 geborenen, in Ost-Berlin wohnenden W. im Kern wahr und selbst erlebt, weniger durchlitten ist: W. bekommt eines Tages eine Einladung zu einem Symposion "Dichter. Dramen. Diktatur. Nebenwirkungen und Risiken der Untergrundliteratur in der DDR". Offenbar hält man ihn, der als Schriftsteller bisher nicht hervorgetreten ist, für einen ehemals regimekritischen Autor. Und er erinnert sich: an Briefe, die er jahrelang einer in München lebenden Geliebten schrieb und die voll waren mit Liebesgedichten, die zeigen, dass er seinen Peter Hacks kennt. Die Stasi liest das aber ganz anders und wittert, in Gestalt des Oberleutnants Schnatz, noch in einer Shakespeare- oder Schiller-Anspielung einen Oppositionsgeist, der W. im Grunde abgeht. Wo die ihm attestierte Intelligenz kein Kompliment, sondern eine "Gefahrenbeschreibung" ist, da dient das Nichtwissen dem sozialen Frieden.
So wird, durch fehlgeleitete Schnüffelphilologie, aus warmherzigen, politisch irrelevanten Äußerungen eine einzige "tickende Lyrikbombe", auf deren Entschärfung man die Mühe verwendet, die andernorts womöglich mehr geholfen hätte: "Gut möglich, daß dieser Staat, der einen grotesk überschätzten Liedermacher mit Hängeschnauzer sogar ausbürgerte, am Ende durch die obsessive Konzentration seiner Spezialkräfte auf harmlose Hobby-Existentialisten wie mich völlig konfus wurde." Diese fast komödiantische Ausgangssituation erlaubt Wieland einen verblüffend spielerischen, aber nie verharmlosenden Umgang mit der aus heutiger Sicht nur noch schwer verständlichen Paranoia eines Landes, das buchstäblich von der Last seiner Stasiakten erdrückt wurde. Die Chiffre "Mauerbau", immer noch der DDR-Sündenfall, wird hier ins Harmlos-Kauzige gewendet: W. gründet die "Gruppe 61", die sich eine allgemeine Entschleunigung zur Aufgabe macht.
Die Zeitreise, auf die W. sich zurück-in-die-zukunft-haft begibt, gerät zu einer eigenen Reflexion über Erinnerungspolitik. Damit kriegt der Erzähler sein eigentliches Thema zu fassen, das eben auch ein genuin literarisches ist: Worauf kommt es an, wenn wir zurückdenken - auf den "Krempel" in Form von Fotos und Hausrat oder auf das, was die Menschen aus- und unvergesslich macht? "Dinge, die einfach verschwinden, einzelne Sätze, Gespräche, für immer gelöscht, komplette Nächte verschollen. Die Leute verlieren nicht nur Haare, sondern auch Namen und Gesicht. Es gibt Personengruppen von der Größe einer Kleinstadt, die niemals wiederauftauchen, für alle Zeit verduftete Augenblicke, Küsse, Schatten, Zahnschmerzen". Dies ist die einzige Stelle, an der Wieland sentimental wird. Fast könnte einem Goethe in den Sinn kommen: "So verrauschte Scherz und Kuß / Und die Treue so". Inmitten einer mit bemerkenswert leichter Hand geschriebenen, auf ihre Pointen hin kalauernd zurechtgeschnittenen Autobiographie stellt sich plötzlich die Frage nach der Haltbarkeit von Empfindungen.
Wieland lässt sie offen und beschreibt stattdessen ein Leben von angenehmer Normalität, das W. im Dunstkreis von Tagedieben und Gaunern führt, ein originell denkender, charmanter Taugenichts, der auf Reisen und anderen Luxus gut verzichten kann. Das akribische Erzählen ist seine Sache dabei weniger; das Verfahren hat eher etwas Nummernrevuehaftes und vermag aus der kalauerhaften Abwandlung abgestandener Redewendungen jene Funken zu schlagen, die bei handelsüblicher Erinnerungsarbeit selten abfallen: "Ich würde gern optimistischer in die Vergangenheit schauen, vor allem in die eigene." Irgendwann sucht W. die Kantine des Werks auf, wo er eine Elektrikerlehre absolvierte, und sieht ein altes Wandbild. Dieser "Altar" wird ihm nun zum Symbol einer mit sinnlosem Eifer durchstrukturierten Arbeitswelt, das jene "Dynamik der Lethargie", jene "eindrucksvolle Passion der Bitterkeit" zum Ausdruck bringt, die das DDR-Leben prägten innerhalb derer man aber durchaus seine Nischen finden konnte. Das Symposion, zu dem W. eingeladen wird, erweist sich als komplettes Missverständnis: W. will hier das "Lob der Mauer" singen und rechnet mit einer Mehrheitsmeinung ab, die mit dem Opferstatus Politik und manchen mundtot macht. Beim Mauerfall sieht man ihn, fast wie Franz Beckenbauer 1990 auf römischem Rasen, grübelnd abseits wandeln; der allgemeine Jubel ist ihm einfach zu würdelos.
Man muss leider befürchten, dass es Leser gibt, denen das zu frivol ist. Die DDR und die Ironie standen, auch das wird witzig entwickelt, nicht auf bestem Fuße miteinander. Vielleicht besteht wenigstens im Nachhinein Hoffnung. Sei es drum. Man muss mit Büchern nicht gleich die Welt verändern. Es ist schon viel gewonnen, wenn man damit die Tonlage eines Gedenkjahres zum Heiter-Unverkrampften hin ändert.
Rayk Wieland: "Ich schlage vor, dass wir uns küssen". Roman. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 210 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das war die DDR: lethargisch, aber auch lustig, vorausgesetzt, man hatte selbst Humor. Rayk Wieland hat einen verblüffend leichthändigen Roman zum Wendejahr geschrieben.
Von Edo Reents
Kann man mit Büchern die Welt verändern?", fragte die "Titanic" im Herbst 1986. Zu sehen war Ronald Reagan, der "Yes, Sir!" antwortete und mit einer Schwarte auf den roten Knopf schlug, mit dem man die Atombomben zündete. Dass drei Jahre später mit dem ganzen Ostblock auch die DDR zu Bruch ging, muss aber nicht unbedingt kollektiver Lesewut zugeschrieben werden. Die Ursachenforschung für den Republik-Untergang hat seither gleichermaßen Erinnerungen und literarische Phantasien freigesetzt, die den einen immer noch zu wenig sind - irgendwie wartet man ja immer noch auf den Wenderoman -, den anderen schon zu viel oder aufdringlich, den wieder anderen zu larmoyant oder feierlich.
Einen unerhörten Ton schlägt nun Rayk Wieland an. Sein Roman "Ich schlage vor, dass wir uns küssen" signalisiert im Titel die frech-sympathische Unbekümmertheit mancher Schlager und hält sich ansonsten an den intelligenten, informierten Humorbegriff des "Titanic"-Umfelds, dem Wieland persönlich auch zuzurechnen ist. Dieser aus Leipzig stammende Autor und Journalist unterzieht das letzte DDR-Jahrzehnt einer Erinnerungsprozedur, die zu dem bräsigen, zuweilen auch wehleidigen Ernst sonstiger Vergangenheitsbewältigung denkbar weiten Abstand hält. Wenn man den Artikel noch im Kopf hat, den Wieland vor zwei Jahren in der Wochenendbeilage der "Süddeutschen Zeitung" geschrieben hat, dann muss man annehmen, dass die Geschichte des 1965 geborenen, in Ost-Berlin wohnenden W. im Kern wahr und selbst erlebt, weniger durchlitten ist: W. bekommt eines Tages eine Einladung zu einem Symposion "Dichter. Dramen. Diktatur. Nebenwirkungen und Risiken der Untergrundliteratur in der DDR". Offenbar hält man ihn, der als Schriftsteller bisher nicht hervorgetreten ist, für einen ehemals regimekritischen Autor. Und er erinnert sich: an Briefe, die er jahrelang einer in München lebenden Geliebten schrieb und die voll waren mit Liebesgedichten, die zeigen, dass er seinen Peter Hacks kennt. Die Stasi liest das aber ganz anders und wittert, in Gestalt des Oberleutnants Schnatz, noch in einer Shakespeare- oder Schiller-Anspielung einen Oppositionsgeist, der W. im Grunde abgeht. Wo die ihm attestierte Intelligenz kein Kompliment, sondern eine "Gefahrenbeschreibung" ist, da dient das Nichtwissen dem sozialen Frieden.
So wird, durch fehlgeleitete Schnüffelphilologie, aus warmherzigen, politisch irrelevanten Äußerungen eine einzige "tickende Lyrikbombe", auf deren Entschärfung man die Mühe verwendet, die andernorts womöglich mehr geholfen hätte: "Gut möglich, daß dieser Staat, der einen grotesk überschätzten Liedermacher mit Hängeschnauzer sogar ausbürgerte, am Ende durch die obsessive Konzentration seiner Spezialkräfte auf harmlose Hobby-Existentialisten wie mich völlig konfus wurde." Diese fast komödiantische Ausgangssituation erlaubt Wieland einen verblüffend spielerischen, aber nie verharmlosenden Umgang mit der aus heutiger Sicht nur noch schwer verständlichen Paranoia eines Landes, das buchstäblich von der Last seiner Stasiakten erdrückt wurde. Die Chiffre "Mauerbau", immer noch der DDR-Sündenfall, wird hier ins Harmlos-Kauzige gewendet: W. gründet die "Gruppe 61", die sich eine allgemeine Entschleunigung zur Aufgabe macht.
Die Zeitreise, auf die W. sich zurück-in-die-zukunft-haft begibt, gerät zu einer eigenen Reflexion über Erinnerungspolitik. Damit kriegt der Erzähler sein eigentliches Thema zu fassen, das eben auch ein genuin literarisches ist: Worauf kommt es an, wenn wir zurückdenken - auf den "Krempel" in Form von Fotos und Hausrat oder auf das, was die Menschen aus- und unvergesslich macht? "Dinge, die einfach verschwinden, einzelne Sätze, Gespräche, für immer gelöscht, komplette Nächte verschollen. Die Leute verlieren nicht nur Haare, sondern auch Namen und Gesicht. Es gibt Personengruppen von der Größe einer Kleinstadt, die niemals wiederauftauchen, für alle Zeit verduftete Augenblicke, Küsse, Schatten, Zahnschmerzen". Dies ist die einzige Stelle, an der Wieland sentimental wird. Fast könnte einem Goethe in den Sinn kommen: "So verrauschte Scherz und Kuß / Und die Treue so". Inmitten einer mit bemerkenswert leichter Hand geschriebenen, auf ihre Pointen hin kalauernd zurechtgeschnittenen Autobiographie stellt sich plötzlich die Frage nach der Haltbarkeit von Empfindungen.
Wieland lässt sie offen und beschreibt stattdessen ein Leben von angenehmer Normalität, das W. im Dunstkreis von Tagedieben und Gaunern führt, ein originell denkender, charmanter Taugenichts, der auf Reisen und anderen Luxus gut verzichten kann. Das akribische Erzählen ist seine Sache dabei weniger; das Verfahren hat eher etwas Nummernrevuehaftes und vermag aus der kalauerhaften Abwandlung abgestandener Redewendungen jene Funken zu schlagen, die bei handelsüblicher Erinnerungsarbeit selten abfallen: "Ich würde gern optimistischer in die Vergangenheit schauen, vor allem in die eigene." Irgendwann sucht W. die Kantine des Werks auf, wo er eine Elektrikerlehre absolvierte, und sieht ein altes Wandbild. Dieser "Altar" wird ihm nun zum Symbol einer mit sinnlosem Eifer durchstrukturierten Arbeitswelt, das jene "Dynamik der Lethargie", jene "eindrucksvolle Passion der Bitterkeit" zum Ausdruck bringt, die das DDR-Leben prägten innerhalb derer man aber durchaus seine Nischen finden konnte. Das Symposion, zu dem W. eingeladen wird, erweist sich als komplettes Missverständnis: W. will hier das "Lob der Mauer" singen und rechnet mit einer Mehrheitsmeinung ab, die mit dem Opferstatus Politik und manchen mundtot macht. Beim Mauerfall sieht man ihn, fast wie Franz Beckenbauer 1990 auf römischem Rasen, grübelnd abseits wandeln; der allgemeine Jubel ist ihm einfach zu würdelos.
Man muss leider befürchten, dass es Leser gibt, denen das zu frivol ist. Die DDR und die Ironie standen, auch das wird witzig entwickelt, nicht auf bestem Fuße miteinander. Vielleicht besteht wenigstens im Nachhinein Hoffnung. Sei es drum. Man muss mit Büchern nicht gleich die Welt verändern. Es ist schon viel gewonnen, wenn man damit die Tonlage eines Gedenkjahres zum Heiter-Unverkrampften hin ändert.
Rayk Wieland: "Ich schlage vor, dass wir uns küssen". Roman. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 210 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Entzückt zeigt sich Rezensentin Susanne Messmer von Rayk Wielands "wunderbar leichtem" DDR-Roman "Ich schlage vor, dass wir uns küssen". Gerade weil das Buch weder "nostalgisch oder moralisch noch monumental oder neunmalschlau" ist, sondern "leicht und lustig", hält sie es für einen der besten Romane über die DDR, die in den letzten Jahren geschrieben wurden. Im Mittelpunkt sieht sie die Liebesgeschichte zwischen einem Jungen aus Ostberlin und einem Mädchen aus München, die sich leidenschaftliche Briefe schreiben, deren Romanze nach dem Mauerfall aber schnell vorbei ist. Zwanzig Jahre später muss der Junge, nun Schriftsteller, entdecken, dass seine Briefe damals von der Stasi gelesen und als staatsfeindlich eingestuft wurden. Besonders haben Messmer die Liebesgedichte des Jungen sowie die Schilderung des Mauerfalls gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2009Ich würde gern / Dir Näheres vor Ort erklärn
Die achtziger Jahre in Prenzlauer Berg: Rayk Wielands quietschvergnügter Roman „Ich schlage vor, dass wir uns küssen”
Dieser Roman ist so erfrischend, weil er genau dort vom Genuss her argumentiert, wo Genuss offiziell nicht vorkommt. Das Stasi-Unwesen der späteren und spätesten DDR mag grau, drückend und menschenverachtend gewesen sein; der 1965 in Leipzig geborene Rayk Wieland aber sieht das nicht so eng und vor allem einmal anders. In fröhlicher Opposition zum Tenor des laufenden Gedenkjahres schwelgt er in seinen ganz privaten Erinnerungen – oder aber, und das ist die eigentliche Pointe dieses mit Pointen reich gespickten Buches, in seinen noch viel privateren Erinnerungslücken. Und aus Lücken besteht „Ich schlage vor, dass wir uns küssen” geradezu. Die achtziger Jahre im Prenzlauer Berg, anhand Wielands mal stockender, mal komplett fehlender Erinnerungen nachvollzogen, treten als kolossal klaffende, nicht im Ansatz gefüllte Zeit hervor.
Etwas Kunst machen, viel Alkohol trinken und noch viel mehr einfach nur diffus vor sich hin warten: Wenn dieser Dornröschenschwipps einem ganzen Milieu über lange Jahre hinweg Alltag sein konnte, ist weder ihm noch seinem seltsamen Mutterland mit akribischer Erinnerungsarbeit beizukommen. Für dieses angenehm kesse Erzählkonzept kann Wieland pedantischste Schützenhilfe ins Feld führen. Wieland hat nämlich, zuerst im SZ-Wochenende, auch seine eigene DDR-Geschichte öffentlich gemacht. Und die gleicht der Romanhandlung besonders darin aufs Haar, dass jeder bloße Schimmer von Erinnerung einzig und allein durch die Spitzeleien der Staatssicherheit konserviert wurde: „Wozu braucht man ein Gedächtnis, wenn man eine Akte hat.”
Über Wieland und ebenso nun über Wielands Roman-Stellvertreter W. legte die Stasi umfangreiche Dossiers an, dies jedoch in vollkommener Verkennung eines zwar poetisch, jedoch kaum staatskritisch gestimmten Gemüts: „Gut möglich, daß dieser Staat, der einen grotesk überschätzten Liedermacher mit Hängeschnauzer sogar ausbürgerte, am Ende durch die obsessive Konzentration seiner Spezialkräfte auf harmlose Hobby-Existenzialisten wie mich völlig konfus wurde.” Wielands Erzähler verliebt sich heftig in ein Mädchen aus München, über die Zonengrenze hinweg schicken die beiden sich bündelweise Briefe. Diese Briefe, besonders aber von W. zusätzlich beigelegte Gedichte, wandern Mal für Mal über den Schreibtisch eines Stasi-Oberleutnants, der äußerste Konspiration argwöhnt: „Ich will zu dir. Und zwar ins Bett. / Was wir da tun? Ich würde gern / Dir Näheres vor Ort erklärn” – Vor Ort? Das riecht doch nach geplanter Republikflucht!
Der verkannte Untergrund
Die Tschekisten observieren und unterwandern W.s frühe Mannesjahre nach allen Regeln der Kunst. W., ein rechter Nichtsnutz, bekommt davon und überhaupt vom „chronischen Kontrollzwang” der DDR fast gar nichts mit. Außer Warten, Trinken und bisweilen Lyrik schreiben – Letzteres aber bitte schön bloß zum Zeitvertreib und natürlich möglichst ebenfalls betrunken – treibt ihn nur seine Fernliebe um, selbst diese aber in der eher entspannt zurückgelehnten Version. Bei so viel lässigem Schlendrian wundert es kaum, dass Wieland und W. beiderseits erst etliche Jahre nach dem Mauerfall auf ihre vermeintliche Rolle in der Konterrevolution gestoßen wurden.
Wieland, der heute viel für die Zeitschrift Titanic und die „Wahrheit”-Seite der taz schreibt, lässt lustvoll kein erinnerungspolitisches Fettnäpfchen aus, wenn er einen „Verein der unbekannten Untergrunddichter Deutschland” erfindet, der W. zu einem Symposium über „Risiken und Nebenwirkungen der Untergrundliteratur in der DDR” einlädt: „Gerade Ihr Werk bezeugt in exemplarischer Weise, welchen Widrigkeiten junge und kritische Literatur im Realsozialismus ausgesetzt war.”
W., der sich weder eines eigenen dichterischen Werkes noch realsozialistischer Widrigkeiten entsinnen kann, beantragt erst einmal Akteneinsicht. Anhand seiner von der Stasi zerpflückten Gelegenheitsgedichte besinnt er sich vor allem anderen auf all das, woran er sich eben gerade nicht konkret erinnert; eben an ein Jahrzehnt im Wartezustand, befasst mit nichts als genüsslich durchlittenem Zeittotschlag. Mehr noch als die hohe Kunst des eleganten Schenkelklopfers, auf die der Roman sich von Kalauer zu Kalauer besser versteht, ist es diese Grundierung wonnevoller Unambitioniertheit, die ihn so vergnüglich macht.
Das einzige und für immer letzte Mal in ein Ereignis übertragen wird sie mit ihrem Verfallsdatum, der Nacht des Mauerfalls: W., eine Nicaragua-Solidaritäts-Zigarre in der Hand, nähert sich dem Grenzübergang Bornholmer Straße so gefasst und widerstrebend, wie das zugleich ein paar Übergänge weiter von westberlinerischer Seite her auch sein direkter Geistesbruder in Sachen geschichtsabgewandter Müßiggang, Sven Regeners Wahlkreuzberger „Herr Lehmann” unternimmt. Über beide gleichermaßen werden künftig andere, schnellgängigere Zeiten hinwegbrechen; nur W. aber wird sich des 9. November 1989 als seines persönlichen „Ritterschlags der Sinnlosigkeit” erinnern – oder eben eher nicht erinnern. FLORIAN KESSLER
RAYK WIELAND: Ich schlage vor, dass wir uns küssen. Roman. Antje Kunstmann Verlag, München 2009. 210 Seiten, 17,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Die achtziger Jahre in Prenzlauer Berg: Rayk Wielands quietschvergnügter Roman „Ich schlage vor, dass wir uns küssen”
Dieser Roman ist so erfrischend, weil er genau dort vom Genuss her argumentiert, wo Genuss offiziell nicht vorkommt. Das Stasi-Unwesen der späteren und spätesten DDR mag grau, drückend und menschenverachtend gewesen sein; der 1965 in Leipzig geborene Rayk Wieland aber sieht das nicht so eng und vor allem einmal anders. In fröhlicher Opposition zum Tenor des laufenden Gedenkjahres schwelgt er in seinen ganz privaten Erinnerungen – oder aber, und das ist die eigentliche Pointe dieses mit Pointen reich gespickten Buches, in seinen noch viel privateren Erinnerungslücken. Und aus Lücken besteht „Ich schlage vor, dass wir uns küssen” geradezu. Die achtziger Jahre im Prenzlauer Berg, anhand Wielands mal stockender, mal komplett fehlender Erinnerungen nachvollzogen, treten als kolossal klaffende, nicht im Ansatz gefüllte Zeit hervor.
Etwas Kunst machen, viel Alkohol trinken und noch viel mehr einfach nur diffus vor sich hin warten: Wenn dieser Dornröschenschwipps einem ganzen Milieu über lange Jahre hinweg Alltag sein konnte, ist weder ihm noch seinem seltsamen Mutterland mit akribischer Erinnerungsarbeit beizukommen. Für dieses angenehm kesse Erzählkonzept kann Wieland pedantischste Schützenhilfe ins Feld führen. Wieland hat nämlich, zuerst im SZ-Wochenende, auch seine eigene DDR-Geschichte öffentlich gemacht. Und die gleicht der Romanhandlung besonders darin aufs Haar, dass jeder bloße Schimmer von Erinnerung einzig und allein durch die Spitzeleien der Staatssicherheit konserviert wurde: „Wozu braucht man ein Gedächtnis, wenn man eine Akte hat.”
Über Wieland und ebenso nun über Wielands Roman-Stellvertreter W. legte die Stasi umfangreiche Dossiers an, dies jedoch in vollkommener Verkennung eines zwar poetisch, jedoch kaum staatskritisch gestimmten Gemüts: „Gut möglich, daß dieser Staat, der einen grotesk überschätzten Liedermacher mit Hängeschnauzer sogar ausbürgerte, am Ende durch die obsessive Konzentration seiner Spezialkräfte auf harmlose Hobby-Existenzialisten wie mich völlig konfus wurde.” Wielands Erzähler verliebt sich heftig in ein Mädchen aus München, über die Zonengrenze hinweg schicken die beiden sich bündelweise Briefe. Diese Briefe, besonders aber von W. zusätzlich beigelegte Gedichte, wandern Mal für Mal über den Schreibtisch eines Stasi-Oberleutnants, der äußerste Konspiration argwöhnt: „Ich will zu dir. Und zwar ins Bett. / Was wir da tun? Ich würde gern / Dir Näheres vor Ort erklärn” – Vor Ort? Das riecht doch nach geplanter Republikflucht!
Der verkannte Untergrund
Die Tschekisten observieren und unterwandern W.s frühe Mannesjahre nach allen Regeln der Kunst. W., ein rechter Nichtsnutz, bekommt davon und überhaupt vom „chronischen Kontrollzwang” der DDR fast gar nichts mit. Außer Warten, Trinken und bisweilen Lyrik schreiben – Letzteres aber bitte schön bloß zum Zeitvertreib und natürlich möglichst ebenfalls betrunken – treibt ihn nur seine Fernliebe um, selbst diese aber in der eher entspannt zurückgelehnten Version. Bei so viel lässigem Schlendrian wundert es kaum, dass Wieland und W. beiderseits erst etliche Jahre nach dem Mauerfall auf ihre vermeintliche Rolle in der Konterrevolution gestoßen wurden.
Wieland, der heute viel für die Zeitschrift Titanic und die „Wahrheit”-Seite der taz schreibt, lässt lustvoll kein erinnerungspolitisches Fettnäpfchen aus, wenn er einen „Verein der unbekannten Untergrunddichter Deutschland” erfindet, der W. zu einem Symposium über „Risiken und Nebenwirkungen der Untergrundliteratur in der DDR” einlädt: „Gerade Ihr Werk bezeugt in exemplarischer Weise, welchen Widrigkeiten junge und kritische Literatur im Realsozialismus ausgesetzt war.”
W., der sich weder eines eigenen dichterischen Werkes noch realsozialistischer Widrigkeiten entsinnen kann, beantragt erst einmal Akteneinsicht. Anhand seiner von der Stasi zerpflückten Gelegenheitsgedichte besinnt er sich vor allem anderen auf all das, woran er sich eben gerade nicht konkret erinnert; eben an ein Jahrzehnt im Wartezustand, befasst mit nichts als genüsslich durchlittenem Zeittotschlag. Mehr noch als die hohe Kunst des eleganten Schenkelklopfers, auf die der Roman sich von Kalauer zu Kalauer besser versteht, ist es diese Grundierung wonnevoller Unambitioniertheit, die ihn so vergnüglich macht.
Das einzige und für immer letzte Mal in ein Ereignis übertragen wird sie mit ihrem Verfallsdatum, der Nacht des Mauerfalls: W., eine Nicaragua-Solidaritäts-Zigarre in der Hand, nähert sich dem Grenzübergang Bornholmer Straße so gefasst und widerstrebend, wie das zugleich ein paar Übergänge weiter von westberlinerischer Seite her auch sein direkter Geistesbruder in Sachen geschichtsabgewandter Müßiggang, Sven Regeners Wahlkreuzberger „Herr Lehmann” unternimmt. Über beide gleichermaßen werden künftig andere, schnellgängigere Zeiten hinwegbrechen; nur W. aber wird sich des 9. November 1989 als seines persönlichen „Ritterschlags der Sinnlosigkeit” erinnern – oder eben eher nicht erinnern. FLORIAN KESSLER
RAYK WIELAND: Ich schlage vor, dass wir uns küssen. Roman. Antje Kunstmann Verlag, München 2009. 210 Seiten, 17,90 Euro.
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