"Mein Leben ist mein Kapital, das Kapital meiner Imagination", sagte Susan Sontag einmal. Ihre Tagebücher sind Spiegel dieses Selbstverständnisses, das bei ihr auch immer an die Politik geknüpft war. Zentral sind ihr Aufenthalt in Hanoi und ihr Engagement in den USA gegen den Vietnamkrieg, ihre Begegnung mit Mary McCarthy und Reisen nach China, Marokko und Israel. In den Jahren 1964 bis 1980, die geprägt sind von ihrer Auseinandersetzung mit der Kunst von John Cage, Marcel Duchamp, Jasper John und vor allem Joseph Brodsky, entstehen auch Sontags bedeutendste Bücher. In diesen Tagebüchern legt eine der außergewöhnlichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts das intime Zeugnis ihrer Reifejahre ab.
Die Übersetzung wurde von der Brougier-Seisser-Cleve-Werhahn-Stiftung gefördert: www.bscw-stiftung.de.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Begeistert begrüßt Rezensentin Ina Hartwig den zweiten, nun unter dem Titel "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke" von Susan Sontags Sohn David Rieff herausgegebenen Band ihrer Tagebücher, der die Jahre 1964 bis 1980 umfasst. Grund für Begeisterung gibt es inhaltlich allerdings wenig, denn wie Hartwig berichtet, erlebt sie die große Intellektuelle hier meist in tiefer Verzweiflung. Die Kritikerin erfährt anhand der meist sporadisch und nachlässig verfassten Einträge etwa von dem schwierigen Verhältnis zu ihrer alkoholkranken und depressiven Mutter, welches sich oft auch auf die Beziehungen zu Sontags Liebhaberinnen auswirkte. Auch Überraschendes tritt hier zutage, informiert Hartwig: Etwa, dass Sontag ihre Krebserkrankung in ihren Tagebüchern kaum thematisierte oder dass sie sich nicht nur als Essayistin, sondern auch als Schriftstellerin verstand, die sich gern mit berühmten Kollegen verglich. Interessiert liest die Rezensentin, wie sich Sontag auf manchmal geradezu "peinliche" Weise selbst preist, zugleich aber auch immer wieder ihre dunkle, verzweifelte Seite preisgibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2013"Im Grunde mag ich mich. Schon immer"
Diva, Mutter, öffentliche Intellektuelle: Der zweite Band von Susan Sontags Tagebüchern aus den Jahren 1964 bis 1980 ist der autobiographische Roman, den zu schreiben sie nie interessiert hat
Sie habe, stellt Susan Sontag im August 1967 in ihrem Tagebuch fest, ihre Freundinnen und Freunde eigentlich immer ausgebeutet. Wenn sie mit jemandem zusammen gewesen sei, mit Merrill, der Freundin ihrer Kindheit, Philip Rieff, dem Ehemann, mit Harriett, Irene oder den anderen Frauen und Männern, in die sie leidenschaftlich und oft unglücklich verliebt war, habe sie versucht, alles zu lernen, was diese wussten.
Alles, was sie kriegen konnte, hätte sie eingesammelt wie Schätze und sich dann aus dem Staub gemacht: "Ich eile durch die Welt und bediene mich aus den Brunnen anderer Menschen, und dann laufe ich mit meinen Eimern zurück + gieße all die Gaben in meinen Superbrunnen. Niemand soll das ganze Ausmaß sehen, die Reichtümer, die dort angesammelt sind. Mein größtes Geheimnis! Sehen sollen die anderen nur meine Fähigkeiten und die Hervorbringungen, die durch diese mühsam angesammelten Ressourcen ermöglicht werden."
Die Methode hatte Erfolg. Die wissenshungrige Schatzsammlerin, 1933 als Susan Lee Rosenblatt geboren, wurde zu einer der faszinierendsten und glamourösesten amerikanischen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts. "Ich will mich selbst erfinden", liest man schon früh in ihren Tagebüchern, deren erster Band, "Wiedergeboren", vor drei Jahren erschienen ist. Der zweite, "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke", erscheint in diesen Tagen. Er umfasst die Jahre 1964 bis 1980. Und was man hier wiederfindet und was ihrer Methode, Dinge zusammenzutragen, einzusammeln, mitzunehmen für den eigenen "Superbrunnen", so vollkommen entspricht, sind Listen.
Listen von Dingen, an die sie glaubt oder nicht, von Chinarestaurants in aller Welt, Listen von Adjektiven, die sie in ihren Romanen verwenden will, Listen von Filmen, die sie zwischen dem 17. September und dem 12. November 1965 im Kino gesehen hat, Listen von Büchern, die sie kaufen oder noch lesen will oder gerade gelesen hat: Tschechow, Melville, Gorki, Tolstoi, Nabokov, Conrad, Agatha Christie - in nur einem Monat.
Susan Sontag war unersättlich. Sie betrieb das "Projekt Susan Sontag", wie sie selbst das nannte, mit heiligem Ernst und war wohl von nichts so selbstverständlich überzeugt wie von der Wichtigkeit ihrer eigenen Person: "Im Grunde mag ich mich. Schon immer", stellt sie im November 1967 fest. "Ich glaube bloß nicht, dass andere mich mögen. Und ich ,verstehe' ihren Standpunkt. Aber - wenn ich andere Leute wäre -, dann würde ich mich sehr mögen."
Sie schreibt das auf - und meint es ernst. Ironie, Selbstironie zumal, sind ihr fremd. "Meine Mutter war überhaupt nicht ironisch", hat ihr Sohn, David Rieff, über sie gesagt und darauf hingewiesen, dass die Künstler, über die sie Essays geschrieben hat, es auch nicht waren. Dostojewskij nicht, Elias Canetti nicht, Pina Bausch nicht. Nur solle man, so David Rieff, daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass sie keinen Spaß gehabt habe im Leben: "Sie hatte eine Menge Spaß."
Im zweiten Band der Tagebücher erfährt man von diesem Spaß allerdings so gut wie nichts, wie man überhaupt von sehr vielen Dingen nichts erfährt. Nichts über den Alltag in New York, merkwürdigerweise (es sind die Jahre des Vietnamkriegs) auch nichts vom tagespolitischen Geschehen, nichts über ihre Krebsdiagnose oder die Entstehung der Essays, mit denen sie in jenen Jahren berühmt wurde. Der Verleger Roger Straus war es, der sie damals zu einer Marke machte, indem er ihre Texte nicht nur den intellektuellen Blättern, sondern auch der "Vogue" oder "Mademoiselle" anbot, Zeitschriften also, die eigentlich als "Middle Brow", als Mittelklassepublikationen, abgetan wurden. 1964 erschienen ihre "Notes on Camp", 1966 "Against Interpretation", 1977 ihr berühmter Essay über Fotografie und 1978 der über "Krankheit als Metapher". In ihrem Tagebuch findet man kaum eine Spur davon. Für Susan Sontag waren ihre Notizhefte ganz offenbar keine Arbeitsjournale.
Aber was waren sie dann? "Hauptsächlich über mich selbst zu schreiben scheint mir ein ziemlich umständlicher Weg zu Themen zu sein, über die ich schreiben möchte", hat sie einmal in einem Interview mit der "Boston Review" gesagt und hinzugefügt, dass sie nie der Ansicht gewesen sei, ihre Neigungen oder Geschicke hätten Vorbildcharakter. Ihr Sohn, der die Tagebücher herausgibt (ein dritter Band soll folgen), weist im Vorwort des neuen Bandes auf dieses Zitat hin und hebt hervor, dass das Autobiographische in ihren Texten eigentlich abwesend sei. Selbst in "Krankheit als Metapher", einem Buch, das sie ganz bestimmt nicht geschrieben hätte, wenn sie nicht am eigenen Leib die Stigmatisierung erlebt hätte, die mit einer Krebserkrankung einherging - sie erkrankte mit vierzig an Krebs -, spielt sie als Person kaum eine Rolle. In kühneren Momenten denke er, so David Rieff, dass die Tagebücher seiner Mutter nicht nur die Autobiographie darstellten, die sie letztlich nie schrieb, sondern auch den großen autobiographischen Roman, den zu schreiben sie nie interessiert habe.
Spricht man mit Menschen, die Susan Sontag gekannt haben, erinnern sich diese an sie mit oft sehr ambivalenten Gefühlen. Da ist auf der einen Seite die scharfsinnige Analytikerin, charmant, eigensinnig, eine atemberaubende Erscheinung, immer bereit, sich einzumischen, eine Frau, der viele zu Füßen lagen - und auf der anderen eine von sich selbst besessene Diva, monumental wichtig und egozentrisch bis zur Rücksichtslosigkeit, die furchtbar anstrengend sein konnte.
Den neuen Band der Tagebücher liest man mit genau diesen ambivalenten Gefühlen, nicht zuletzt weil Susan Sontag ihre eigene Widersprüchlichkeit in den Notizen voll auslebt. Immer wieder fühlt sie sich ihren Liebhaberinnen gegenüber schwach, zurückgewiesen, nicht genug geliebt. Gleichzeitig könnte sie grundsätzlicher nicht überzeugt sein von ihrer eigenen Überlegenheit: "Die anderen setzen sich so bescheidene Ziele, ermüden so schnell, sind so antriebslos."
Von ihrer Rücksichtslosigkeit konnte man sich schon in dem ersten Band der Tagebücher einen guten Eindruck verschaffen. Da packte sie ihre Koffer, um allein nach Europa zu gehen. David war knapp fünf Jahre, er war zusammen mit seinem Vater gerade verreist. Sie schrieb: "Baby, sweet boy, forgive me" - und dokumentierte den Abschied aus der gemeinsamen Wohnung.
Auch im zweiten Band findet man die enge und komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung immer wieder: "Warum ich David nicht gestillt habe: Mutter hat mich nicht gestillt. (Ich entlaste sie, indem ich es mit David genauso mache - es ist in Ordnung, ich mache es mit meinem Kind genauso)", heißt einer der ersten Einträge im zweiten Tagebuchband. Im selben Jahr: "Irene war eifersüchtig auf David, denn das war der einzige Teil meines Lebens, in dem sie nicht die Führung übernehmen konnte." Oder: "Wenn ich David nicht gehabt hätte, dann hätte ich mich letztes Jahr umgebracht."
Dass es ausgerechnet der Sohn ist, der die Tagebücher als ihr Nachlassverwalter herausgibt, erscheint einem an vielen Stellen beinahe ungeheuerlich. Wie er sich das bloß antun kann, fragt man sich. Wie er, da er so involviert ist, bei Kürzungen Objektivität wahren will.
David Rieff, der auch ein Buch über Susan Sontags letzte Tage geschrieben hat, "Tod einer Untröstlichen", hat auf Fußnoten verzichtet, er hat Vor- oder Nachnamen ergänzt und kursiv in den Text gelegentlich Kommentare oder Erklärungen eingestreut, die jedoch nie mehr sind als Andeutungen: Dass Dexamyl "eine Art Amphetamin" sei, eigentlich wie Speed, "das SS ab Mitte der sechziger Jahre zum Schreiben brauchte und bis in die frühen Achtziger nahm, wenn auch in immer geringeren Dosen", ergänzt er an einer Stelle knapp, wo man gerne mehr erfahren hätte über ihren Tablettenmissbrauch und darüber, wie sich dieser auf ihr Schreiben auswirkte.
Eine ausführlich und von anderer Seite kommentierte Ausgabe der drei Tagebuchbände könnte ein umfassendes biographisches Susan-Sontag-Dokument sein. Hier, wo so vieles Andeutung bleibt, muss der Leser aber schon sehr gut über sie Bescheid wissen, wenn sich ihm Nebenbemerkungen und Anspielungen erschließen sollen.
",Ich' spiele mich selbst", steht im Tagebuch. Dass Susan Sontag in ihren Essays auf die autobiographische Perspektive verzichtet hat, dass sie das eigene Ich keine Hauptrolle spielen ließ, sich zurücknahm, um den Dingen, über die sie nachdachte und schrieb, gewissermaßen den Vortritt zu lassen - das machte ihre Texte brillant und stellte ihre analytische Schärfe heraus. Wo sie in den Tagebuchnotizen dagegen unablässig "ich" sagt und es um nichts anderes geht als Autobiographie, wird es schnell zu laut, zu eitel, oft zu larmoyant.
So liest man den Satz "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke", zwar neugierig, voyeuristisch auch, wo es um die Liebesbeziehungen geht, schweift in den oft seitenlangen psychoanalytischen Sitzungen über die Mutter oder die tyrannischen Freundinnen und bei der Lektüre der endlosen Listen aber schnell ab.
Susan Sontag war da am besten, wo sie darauf verzichtete, "ich" zu sagen. Da rannte sie mit ihrem randvollen, geheimnisvollen "Supereimer" herum und schöpfte aus dem Vollen.
JULIA ENCKE
Susan Sontag: "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke". Tagebücher 1964-1980. Übersetzt von Kathrin Razum. Hanser, 556 Seiten, 27,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diva, Mutter, öffentliche Intellektuelle: Der zweite Band von Susan Sontags Tagebüchern aus den Jahren 1964 bis 1980 ist der autobiographische Roman, den zu schreiben sie nie interessiert hat
Sie habe, stellt Susan Sontag im August 1967 in ihrem Tagebuch fest, ihre Freundinnen und Freunde eigentlich immer ausgebeutet. Wenn sie mit jemandem zusammen gewesen sei, mit Merrill, der Freundin ihrer Kindheit, Philip Rieff, dem Ehemann, mit Harriett, Irene oder den anderen Frauen und Männern, in die sie leidenschaftlich und oft unglücklich verliebt war, habe sie versucht, alles zu lernen, was diese wussten.
Alles, was sie kriegen konnte, hätte sie eingesammelt wie Schätze und sich dann aus dem Staub gemacht: "Ich eile durch die Welt und bediene mich aus den Brunnen anderer Menschen, und dann laufe ich mit meinen Eimern zurück + gieße all die Gaben in meinen Superbrunnen. Niemand soll das ganze Ausmaß sehen, die Reichtümer, die dort angesammelt sind. Mein größtes Geheimnis! Sehen sollen die anderen nur meine Fähigkeiten und die Hervorbringungen, die durch diese mühsam angesammelten Ressourcen ermöglicht werden."
Die Methode hatte Erfolg. Die wissenshungrige Schatzsammlerin, 1933 als Susan Lee Rosenblatt geboren, wurde zu einer der faszinierendsten und glamourösesten amerikanischen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts. "Ich will mich selbst erfinden", liest man schon früh in ihren Tagebüchern, deren erster Band, "Wiedergeboren", vor drei Jahren erschienen ist. Der zweite, "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke", erscheint in diesen Tagen. Er umfasst die Jahre 1964 bis 1980. Und was man hier wiederfindet und was ihrer Methode, Dinge zusammenzutragen, einzusammeln, mitzunehmen für den eigenen "Superbrunnen", so vollkommen entspricht, sind Listen.
Listen von Dingen, an die sie glaubt oder nicht, von Chinarestaurants in aller Welt, Listen von Adjektiven, die sie in ihren Romanen verwenden will, Listen von Filmen, die sie zwischen dem 17. September und dem 12. November 1965 im Kino gesehen hat, Listen von Büchern, die sie kaufen oder noch lesen will oder gerade gelesen hat: Tschechow, Melville, Gorki, Tolstoi, Nabokov, Conrad, Agatha Christie - in nur einem Monat.
Susan Sontag war unersättlich. Sie betrieb das "Projekt Susan Sontag", wie sie selbst das nannte, mit heiligem Ernst und war wohl von nichts so selbstverständlich überzeugt wie von der Wichtigkeit ihrer eigenen Person: "Im Grunde mag ich mich. Schon immer", stellt sie im November 1967 fest. "Ich glaube bloß nicht, dass andere mich mögen. Und ich ,verstehe' ihren Standpunkt. Aber - wenn ich andere Leute wäre -, dann würde ich mich sehr mögen."
Sie schreibt das auf - und meint es ernst. Ironie, Selbstironie zumal, sind ihr fremd. "Meine Mutter war überhaupt nicht ironisch", hat ihr Sohn, David Rieff, über sie gesagt und darauf hingewiesen, dass die Künstler, über die sie Essays geschrieben hat, es auch nicht waren. Dostojewskij nicht, Elias Canetti nicht, Pina Bausch nicht. Nur solle man, so David Rieff, daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass sie keinen Spaß gehabt habe im Leben: "Sie hatte eine Menge Spaß."
Im zweiten Band der Tagebücher erfährt man von diesem Spaß allerdings so gut wie nichts, wie man überhaupt von sehr vielen Dingen nichts erfährt. Nichts über den Alltag in New York, merkwürdigerweise (es sind die Jahre des Vietnamkriegs) auch nichts vom tagespolitischen Geschehen, nichts über ihre Krebsdiagnose oder die Entstehung der Essays, mit denen sie in jenen Jahren berühmt wurde. Der Verleger Roger Straus war es, der sie damals zu einer Marke machte, indem er ihre Texte nicht nur den intellektuellen Blättern, sondern auch der "Vogue" oder "Mademoiselle" anbot, Zeitschriften also, die eigentlich als "Middle Brow", als Mittelklassepublikationen, abgetan wurden. 1964 erschienen ihre "Notes on Camp", 1966 "Against Interpretation", 1977 ihr berühmter Essay über Fotografie und 1978 der über "Krankheit als Metapher". In ihrem Tagebuch findet man kaum eine Spur davon. Für Susan Sontag waren ihre Notizhefte ganz offenbar keine Arbeitsjournale.
Aber was waren sie dann? "Hauptsächlich über mich selbst zu schreiben scheint mir ein ziemlich umständlicher Weg zu Themen zu sein, über die ich schreiben möchte", hat sie einmal in einem Interview mit der "Boston Review" gesagt und hinzugefügt, dass sie nie der Ansicht gewesen sei, ihre Neigungen oder Geschicke hätten Vorbildcharakter. Ihr Sohn, der die Tagebücher herausgibt (ein dritter Band soll folgen), weist im Vorwort des neuen Bandes auf dieses Zitat hin und hebt hervor, dass das Autobiographische in ihren Texten eigentlich abwesend sei. Selbst in "Krankheit als Metapher", einem Buch, das sie ganz bestimmt nicht geschrieben hätte, wenn sie nicht am eigenen Leib die Stigmatisierung erlebt hätte, die mit einer Krebserkrankung einherging - sie erkrankte mit vierzig an Krebs -, spielt sie als Person kaum eine Rolle. In kühneren Momenten denke er, so David Rieff, dass die Tagebücher seiner Mutter nicht nur die Autobiographie darstellten, die sie letztlich nie schrieb, sondern auch den großen autobiographischen Roman, den zu schreiben sie nie interessiert habe.
Spricht man mit Menschen, die Susan Sontag gekannt haben, erinnern sich diese an sie mit oft sehr ambivalenten Gefühlen. Da ist auf der einen Seite die scharfsinnige Analytikerin, charmant, eigensinnig, eine atemberaubende Erscheinung, immer bereit, sich einzumischen, eine Frau, der viele zu Füßen lagen - und auf der anderen eine von sich selbst besessene Diva, monumental wichtig und egozentrisch bis zur Rücksichtslosigkeit, die furchtbar anstrengend sein konnte.
Den neuen Band der Tagebücher liest man mit genau diesen ambivalenten Gefühlen, nicht zuletzt weil Susan Sontag ihre eigene Widersprüchlichkeit in den Notizen voll auslebt. Immer wieder fühlt sie sich ihren Liebhaberinnen gegenüber schwach, zurückgewiesen, nicht genug geliebt. Gleichzeitig könnte sie grundsätzlicher nicht überzeugt sein von ihrer eigenen Überlegenheit: "Die anderen setzen sich so bescheidene Ziele, ermüden so schnell, sind so antriebslos."
Von ihrer Rücksichtslosigkeit konnte man sich schon in dem ersten Band der Tagebücher einen guten Eindruck verschaffen. Da packte sie ihre Koffer, um allein nach Europa zu gehen. David war knapp fünf Jahre, er war zusammen mit seinem Vater gerade verreist. Sie schrieb: "Baby, sweet boy, forgive me" - und dokumentierte den Abschied aus der gemeinsamen Wohnung.
Auch im zweiten Band findet man die enge und komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung immer wieder: "Warum ich David nicht gestillt habe: Mutter hat mich nicht gestillt. (Ich entlaste sie, indem ich es mit David genauso mache - es ist in Ordnung, ich mache es mit meinem Kind genauso)", heißt einer der ersten Einträge im zweiten Tagebuchband. Im selben Jahr: "Irene war eifersüchtig auf David, denn das war der einzige Teil meines Lebens, in dem sie nicht die Führung übernehmen konnte." Oder: "Wenn ich David nicht gehabt hätte, dann hätte ich mich letztes Jahr umgebracht."
Dass es ausgerechnet der Sohn ist, der die Tagebücher als ihr Nachlassverwalter herausgibt, erscheint einem an vielen Stellen beinahe ungeheuerlich. Wie er sich das bloß antun kann, fragt man sich. Wie er, da er so involviert ist, bei Kürzungen Objektivität wahren will.
David Rieff, der auch ein Buch über Susan Sontags letzte Tage geschrieben hat, "Tod einer Untröstlichen", hat auf Fußnoten verzichtet, er hat Vor- oder Nachnamen ergänzt und kursiv in den Text gelegentlich Kommentare oder Erklärungen eingestreut, die jedoch nie mehr sind als Andeutungen: Dass Dexamyl "eine Art Amphetamin" sei, eigentlich wie Speed, "das SS ab Mitte der sechziger Jahre zum Schreiben brauchte und bis in die frühen Achtziger nahm, wenn auch in immer geringeren Dosen", ergänzt er an einer Stelle knapp, wo man gerne mehr erfahren hätte über ihren Tablettenmissbrauch und darüber, wie sich dieser auf ihr Schreiben auswirkte.
Eine ausführlich und von anderer Seite kommentierte Ausgabe der drei Tagebuchbände könnte ein umfassendes biographisches Susan-Sontag-Dokument sein. Hier, wo so vieles Andeutung bleibt, muss der Leser aber schon sehr gut über sie Bescheid wissen, wenn sich ihm Nebenbemerkungen und Anspielungen erschließen sollen.
",Ich' spiele mich selbst", steht im Tagebuch. Dass Susan Sontag in ihren Essays auf die autobiographische Perspektive verzichtet hat, dass sie das eigene Ich keine Hauptrolle spielen ließ, sich zurücknahm, um den Dingen, über die sie nachdachte und schrieb, gewissermaßen den Vortritt zu lassen - das machte ihre Texte brillant und stellte ihre analytische Schärfe heraus. Wo sie in den Tagebuchnotizen dagegen unablässig "ich" sagt und es um nichts anderes geht als Autobiographie, wird es schnell zu laut, zu eitel, oft zu larmoyant.
So liest man den Satz "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke", zwar neugierig, voyeuristisch auch, wo es um die Liebesbeziehungen geht, schweift in den oft seitenlangen psychoanalytischen Sitzungen über die Mutter oder die tyrannischen Freundinnen und bei der Lektüre der endlosen Listen aber schnell ab.
Susan Sontag war da am besten, wo sie darauf verzichtete, "ich" zu sagen. Da rannte sie mit ihrem randvollen, geheimnisvollen "Supereimer" herum und schöpfte aus dem Vollen.
JULIA ENCKE
Susan Sontag: "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke". Tagebücher 1964-1980. Übersetzt von Kathrin Razum. Hanser, 556 Seiten, 27,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2013Mimose aus Stahl
Der zweite Band ihrer Tagebücher aus den Jahren 1964 bis 1980
zeigt die glanzvolle Intellektuelle Susan Sontag von ihrer zweiflerischen Seite
VON INA HARTWIG
Es gibt bedeutende, belanglose und interessante Tagebücher; die von Susan Sontag (1933-2004) gehören zur dritten Kategorie. Im Unterschied zu vielen anderen Intellektuellen hat sie wohl nie deren Publikation ins Auge gefasst, zu sporadisch und nachlässig sind die Einträge. Über weite Strecken sollte man eher von Kladden, Notizen, Skizzen sprechen als von einem Journal. Selten geht Sontag ins Epische und Anekdotische. Wird sie doch einmal ausführlich, ist sie emotional aufgerieben und quält sich, meist wegen der aktuellen Liebhaberin.
Der von ihr selbst wie ein wundersames Tier bestaunte „Verstand“ sprüht hingegen nur so vor Tatendrang; ellenlange Listen von zu kaufenden Büchern werden erstellt, gesehene Filme – eine echte Obsession – aufgezählt, Projekte vom Essay bis zur Operninszenierung entworfen. Alles traut sie sich zu. Eine Gier nach großen Namen weht durch die Notate. Susan Sontag badet in Bedeutung – der eigenen und der ihrer Freunde. Ein seltsamer Kampf wird hier aufgeführt zwischen dem unverschämtesten Selbstbewusstsein und dem drückendsten Selbstzweifel.
Unter dem Titel „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“ hat Sontags Sohn David Rieff für den Tagebuchband der Jahre 1964 bis 1980 eine Auswahl aus den Heften seiner Mutter getroffen. Der erste Band „Wiedergeboren“, vor drei Jahren ebenfalls bei Hanser erschienen, umfasste die Jahre 1947 bis 1963. Ein abschließender dritter Band soll folgen. Glücklicherweise hat der Verlag sich diesmal für ein Namensregister entschieden, das im ersten Band schmerzlich fehlte. Noch besser wäre es gewesen, die Erläuterungen zu den Personen in den Anhang zu stellen, anstatt sie eingeklammert umständlich in den laufenden Text zu montieren. Egal. Es ändert nichts an der Freude daran, Einblick zu bekommen in die geistige und seelische Werkstatt einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, die hier in ihrer Lebensmitte steht.
Auf drei wichtige Punkte weist David, der Sohn aus der frühen Ehe mit Philip Rieff, in seinem Vorwort hin. Erstens: Seine Mutter habe ihre eigene, 1974, im Alter von 41 Jahren diagnostizierte schwere Krebserkrankung so gut wie gar nicht im Tagebuch thematisiert. Das ist erstaunlich angesichts des bahnbrechenden Essays „Krankheit als Metapher“ (1977), der aus dieser Erfahrung hervorgehen sollte. Im Tagebuch hält Sontag nur fest: „Ich bin ganz entschieden dagegen, Krankheit zu einem ,seelischen‘ Zustand zu erklären.“ Zweitens: Sie habe sich mindestens so sehr als Schriftstellerin gesehen wie als Essayistin. Tatsächlich, immerzu wird ein Roman entworfen oder eine Erzählung; vor Vergleichen mit berühmten Kollegen scheut sie sich nicht. Schon zu Lebzeiten musste sie allerdings enttäuscht werden; ihr Essayismus wurde definitiv ernster genommen als die Literatur. Der dritte Punkt: Sie wäre, meint David Rieff, vermutlich nicht so schnell vom utopischen Zauber des Kommunismus abgekommen, hätte sie nicht die enge Freundschaft mit dem aus der Sowjetunion verjagten Dichter Joseph Brodsky davon kuriert.
Im Mai 1968 reist Sontag mit einer Delegation amerikanischer Kriegsgegner ins nordvietnamesische Hanoi. Ihre Tagebuchnotizen lassen eine etwas verkrampfte Faszination für die „andere“ Gesellschaft erkennen. Wenige Jahre später gibt sie sich gänzlich „desillusioniert hinsichtlich der Linken“ und wirkt befreit. Aber die „erkaltende Liebe des Westens zum Kommunismus“ hält sie 1980 immer noch für ein „großes Thema“. Und wie recht sie hatte!
Von Geschmack und Neigung her war Sontag allerdings immer schon liberal bis libertär. Man denke nur an ihr Interesse für Camp und Kitsch (sehr präsent in diesem Band), für Pop, Pornografie und Pomp, Film und Fotografie, für alle Spielarten der Homosexualität, für Gewalt und Ekstase. Ihr Stilempfinden, in der Rezeption fremder Werke, war einzigartig.
Entscheidend ist hier aber etwas anderes: ihre Durchlässigkeit, die eben nur im Tagebuch zutage tritt. Denn was die Lektüre so lohnend macht, ist die dunkle Seite der schillernden, schon mit 30 Jahren berühmten Autorin. „Ich glaube, ich wusste schon als Kleinkind, dass ich nur zwei Optionen hatte: Intelligenz oder Autismus“, steht unter dem Datum des 6. Januar 1973. Für welche Option das begabte Kind sich entschied, ist bekannt.
Geboren (und gestorben) in New York, war Susan Sontag in kleinbürgerlichen, jüdischen Verhältnissen in Kalifornien aufgewachsen. Sie entwickelte eine enorme Kraft, um dem ungeliebten Milieu zu entkommen. Aber das eigentliche Problem war nicht dieses Milieu, sondern die Lieblosigkeit, Depression und Alkoholsucht einer Mutter, die manchmal erst um vier Uhr nachmittags aus dem Bett kam. Diese Mutter sei „als tragische Frau“ aus China zurückgekehrt – der Vater war dort Kaufmann –, „eine Niobe, ein Opfer des Lebens, als ich fast oder gerade eben sechs Jahre alt war. Und ich wurde dazu ausersehen, sie zu stützen, ihr Transfusionen zu verabreichen, sie für die Dauer meiner Kindheit am Leben zu halten.“
Ein trauriger Klassiker: Das Kind versucht, die Mutter zu retten, und am Ende weiß es nicht, wohin mit seiner Angst, seiner Hilflosigkeit und seinem Hass. Klar ist, dass Susan Sontag jenen Zusammenhängen, obwohl sie sich offenbar in analytische Behandlung begibt, nicht entkommt. „Die Morgen sind am schlimmsten“, schreibt sie. Und wenn sie regelmäßig in ihren schwierigen lesbischen Beziehungen an sich zweifelt, an ihrer Liebenswürdigkeit genauso wie an ihrer Attraktivität, so darf man davon ausgehen, dass eine Linie zurückführt zur der als kalt und herzlos erlebten Mutter.
Einmal wirft eine Freundin Susan Sontag vor, es mangele ihr an Humor. Die Freundin hatte recht. Todernst ist diese Intellektuelle auch dann noch, wenn der Gegenstand das gar nicht hergibt; ihre Achillesverse als Autorin. Mit eisernem Willen ist Susan Sontag in die Welt des Glamours eingetreten, aber die schönen Partys deprimieren sie, und zugleich ist sie ungern allein. Nun wird auch klar, warum Susan Sontag sich auf manchmal schon peinliche Weise selbst preist, preisen muss.
Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Carl Hanser Verlag, München 2013, 560 S., 27,90 Euro, E-Book 20,99 E.
Sie wusste schon als Kleinkind,
dass sie nur zwei Optionen hatte:
„Intelligenz oder Autismus“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der zweite Band ihrer Tagebücher aus den Jahren 1964 bis 1980
zeigt die glanzvolle Intellektuelle Susan Sontag von ihrer zweiflerischen Seite
VON INA HARTWIG
Es gibt bedeutende, belanglose und interessante Tagebücher; die von Susan Sontag (1933-2004) gehören zur dritten Kategorie. Im Unterschied zu vielen anderen Intellektuellen hat sie wohl nie deren Publikation ins Auge gefasst, zu sporadisch und nachlässig sind die Einträge. Über weite Strecken sollte man eher von Kladden, Notizen, Skizzen sprechen als von einem Journal. Selten geht Sontag ins Epische und Anekdotische. Wird sie doch einmal ausführlich, ist sie emotional aufgerieben und quält sich, meist wegen der aktuellen Liebhaberin.
Der von ihr selbst wie ein wundersames Tier bestaunte „Verstand“ sprüht hingegen nur so vor Tatendrang; ellenlange Listen von zu kaufenden Büchern werden erstellt, gesehene Filme – eine echte Obsession – aufgezählt, Projekte vom Essay bis zur Operninszenierung entworfen. Alles traut sie sich zu. Eine Gier nach großen Namen weht durch die Notate. Susan Sontag badet in Bedeutung – der eigenen und der ihrer Freunde. Ein seltsamer Kampf wird hier aufgeführt zwischen dem unverschämtesten Selbstbewusstsein und dem drückendsten Selbstzweifel.
Unter dem Titel „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“ hat Sontags Sohn David Rieff für den Tagebuchband der Jahre 1964 bis 1980 eine Auswahl aus den Heften seiner Mutter getroffen. Der erste Band „Wiedergeboren“, vor drei Jahren ebenfalls bei Hanser erschienen, umfasste die Jahre 1947 bis 1963. Ein abschließender dritter Band soll folgen. Glücklicherweise hat der Verlag sich diesmal für ein Namensregister entschieden, das im ersten Band schmerzlich fehlte. Noch besser wäre es gewesen, die Erläuterungen zu den Personen in den Anhang zu stellen, anstatt sie eingeklammert umständlich in den laufenden Text zu montieren. Egal. Es ändert nichts an der Freude daran, Einblick zu bekommen in die geistige und seelische Werkstatt einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, die hier in ihrer Lebensmitte steht.
Auf drei wichtige Punkte weist David, der Sohn aus der frühen Ehe mit Philip Rieff, in seinem Vorwort hin. Erstens: Seine Mutter habe ihre eigene, 1974, im Alter von 41 Jahren diagnostizierte schwere Krebserkrankung so gut wie gar nicht im Tagebuch thematisiert. Das ist erstaunlich angesichts des bahnbrechenden Essays „Krankheit als Metapher“ (1977), der aus dieser Erfahrung hervorgehen sollte. Im Tagebuch hält Sontag nur fest: „Ich bin ganz entschieden dagegen, Krankheit zu einem ,seelischen‘ Zustand zu erklären.“ Zweitens: Sie habe sich mindestens so sehr als Schriftstellerin gesehen wie als Essayistin. Tatsächlich, immerzu wird ein Roman entworfen oder eine Erzählung; vor Vergleichen mit berühmten Kollegen scheut sie sich nicht. Schon zu Lebzeiten musste sie allerdings enttäuscht werden; ihr Essayismus wurde definitiv ernster genommen als die Literatur. Der dritte Punkt: Sie wäre, meint David Rieff, vermutlich nicht so schnell vom utopischen Zauber des Kommunismus abgekommen, hätte sie nicht die enge Freundschaft mit dem aus der Sowjetunion verjagten Dichter Joseph Brodsky davon kuriert.
Im Mai 1968 reist Sontag mit einer Delegation amerikanischer Kriegsgegner ins nordvietnamesische Hanoi. Ihre Tagebuchnotizen lassen eine etwas verkrampfte Faszination für die „andere“ Gesellschaft erkennen. Wenige Jahre später gibt sie sich gänzlich „desillusioniert hinsichtlich der Linken“ und wirkt befreit. Aber die „erkaltende Liebe des Westens zum Kommunismus“ hält sie 1980 immer noch für ein „großes Thema“. Und wie recht sie hatte!
Von Geschmack und Neigung her war Sontag allerdings immer schon liberal bis libertär. Man denke nur an ihr Interesse für Camp und Kitsch (sehr präsent in diesem Band), für Pop, Pornografie und Pomp, Film und Fotografie, für alle Spielarten der Homosexualität, für Gewalt und Ekstase. Ihr Stilempfinden, in der Rezeption fremder Werke, war einzigartig.
Entscheidend ist hier aber etwas anderes: ihre Durchlässigkeit, die eben nur im Tagebuch zutage tritt. Denn was die Lektüre so lohnend macht, ist die dunkle Seite der schillernden, schon mit 30 Jahren berühmten Autorin. „Ich glaube, ich wusste schon als Kleinkind, dass ich nur zwei Optionen hatte: Intelligenz oder Autismus“, steht unter dem Datum des 6. Januar 1973. Für welche Option das begabte Kind sich entschied, ist bekannt.
Geboren (und gestorben) in New York, war Susan Sontag in kleinbürgerlichen, jüdischen Verhältnissen in Kalifornien aufgewachsen. Sie entwickelte eine enorme Kraft, um dem ungeliebten Milieu zu entkommen. Aber das eigentliche Problem war nicht dieses Milieu, sondern die Lieblosigkeit, Depression und Alkoholsucht einer Mutter, die manchmal erst um vier Uhr nachmittags aus dem Bett kam. Diese Mutter sei „als tragische Frau“ aus China zurückgekehrt – der Vater war dort Kaufmann –, „eine Niobe, ein Opfer des Lebens, als ich fast oder gerade eben sechs Jahre alt war. Und ich wurde dazu ausersehen, sie zu stützen, ihr Transfusionen zu verabreichen, sie für die Dauer meiner Kindheit am Leben zu halten.“
Ein trauriger Klassiker: Das Kind versucht, die Mutter zu retten, und am Ende weiß es nicht, wohin mit seiner Angst, seiner Hilflosigkeit und seinem Hass. Klar ist, dass Susan Sontag jenen Zusammenhängen, obwohl sie sich offenbar in analytische Behandlung begibt, nicht entkommt. „Die Morgen sind am schlimmsten“, schreibt sie. Und wenn sie regelmäßig in ihren schwierigen lesbischen Beziehungen an sich zweifelt, an ihrer Liebenswürdigkeit genauso wie an ihrer Attraktivität, so darf man davon ausgehen, dass eine Linie zurückführt zur der als kalt und herzlos erlebten Mutter.
Einmal wirft eine Freundin Susan Sontag vor, es mangele ihr an Humor. Die Freundin hatte recht. Todernst ist diese Intellektuelle auch dann noch, wenn der Gegenstand das gar nicht hergibt; ihre Achillesverse als Autorin. Mit eisernem Willen ist Susan Sontag in die Welt des Glamours eingetreten, aber die schönen Partys deprimieren sie, und zugleich ist sie ungern allein. Nun wird auch klar, warum Susan Sontag sich auf manchmal schon peinliche Weise selbst preist, preisen muss.
Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Carl Hanser Verlag, München 2013, 560 S., 27,90 Euro, E-Book 20,99 E.
Sie wusste schon als Kleinkind,
dass sie nur zwei Optionen hatte:
„Intelligenz oder Autismus“
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"Für die Entscheidung von David Rieff, die Tagebücher seiner Mutter zu veröffentlichen spricht, dass die Notizen Susan Sontag noch einmal als das zeigen, was sie vor allem war: einer der brilliantesten Köpfe ihrer Zeit." Claudia Voigt, DER SPIEGEL, 41/2003
"Es gibt bedeutende, belanglose und interessante Tagebücher; die von Susan Sontag gehören zur dritten Kategorie." Ina Hartwig, Süddeutsche Zeitung, 08.10.13
"Der Band führt genau in die aufregenden Jahre, in denen Susan Sontag zu Susan Sontag wurde." Susanne Mayer, Die Zeit, 26.09.13
"'Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke' in Kathrin Razums intelligenter Übersetzung auf Deutsch herausgekommen, umfassen die Jahre 1964 bis 1980. Es ist die Zeit in der Sontag einige ihrer wichtigsten Essays schreibt und zur intellektuellen Ikone aufsteigt." Andrea Köhler, 05.10.13
"1964 bis 1980 ist die Zeit, in der Susan Sontag zu Susan Sontag wird, es geht um den Moment, in dem aus der Frau ein Mythos wird. ... 'Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke' kann man lesen als Protokoll des Erwachsenwerdens einer Intellektuellen. ... Der erste Band der Aufzeichnungen war das Protokoll des Entstehens eines fühlenden Intellekts, mit dem zweiten ist er angekommen bei sich, im Dunklen wie im Hellen." Mara Delius, Die Welt, 05.10.13
"Ihre Tagebücher sind auch deshalb so lesenswert, weil Sontag, die als Essayistin und Feministin im späten 20. Jahrhundert weltweit gefeiert wurde, hier als eine Frau sichtbar wird, die das Denken aus existentiellen Gründen betrieb. ... 'Mit 13 habe ich eine Regel für mich aufgestellt: keine Träumereien.'" Claudia Voigt, Der Spiegel, 41/2013
"Es ändert nichts an der Freude, Einblicke zu bekommen in die geistige und seelische Werkstatt einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts." Süddeutsche Zeitung, 08.10.13
"Susan Sontag war da am besten, wo sie darauf verzichtete, "ich" zu sagen. Da rannte sie mit ihrem randvollen,geheimnisvollen "Supereimer" herum und schöpfte aus dem Vollen." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6.10.13
"Das poetisch-persönliche Programm einer Zweiflerin, die zugleich eine der größten Romanautorinnen, Essayistinnen und Philosophinnen unsere Zeit gewesen ist." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 05.10.13
"Eine der faszinierendsten und glamourösesten amerikanischen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.13
"Es gibt bedeutende, belanglose und interessante Tagebücher; die von Susan Sontag gehören zur dritten Kategorie." Ina Hartwig, Süddeutsche Zeitung, 08.10.13
"Der Band führt genau in die aufregenden Jahre, in denen Susan Sontag zu Susan Sontag wurde." Susanne Mayer, Die Zeit, 26.09.13
"'Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke' in Kathrin Razums intelligenter Übersetzung auf Deutsch herausgekommen, umfassen die Jahre 1964 bis 1980. Es ist die Zeit in der Sontag einige ihrer wichtigsten Essays schreibt und zur intellektuellen Ikone aufsteigt." Andrea Köhler, 05.10.13
"1964 bis 1980 ist die Zeit, in der Susan Sontag zu Susan Sontag wird, es geht um den Moment, in dem aus der Frau ein Mythos wird. ... 'Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke' kann man lesen als Protokoll des Erwachsenwerdens einer Intellektuellen. ... Der erste Band der Aufzeichnungen war das Protokoll des Entstehens eines fühlenden Intellekts, mit dem zweiten ist er angekommen bei sich, im Dunklen wie im Hellen." Mara Delius, Die Welt, 05.10.13
"Ihre Tagebücher sind auch deshalb so lesenswert, weil Sontag, die als Essayistin und Feministin im späten 20. Jahrhundert weltweit gefeiert wurde, hier als eine Frau sichtbar wird, die das Denken aus existentiellen Gründen betrieb. ... 'Mit 13 habe ich eine Regel für mich aufgestellt: keine Träumereien.'" Claudia Voigt, Der Spiegel, 41/2013
"Es ändert nichts an der Freude, Einblicke zu bekommen in die geistige und seelische Werkstatt einer der einflussreichsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts." Süddeutsche Zeitung, 08.10.13
"Susan Sontag war da am besten, wo sie darauf verzichtete, "ich" zu sagen. Da rannte sie mit ihrem randvollen,geheimnisvollen "Supereimer" herum und schöpfte aus dem Vollen." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6.10.13
"Das poetisch-persönliche Programm einer Zweiflerin, die zugleich eine der größten Romanautorinnen, Essayistinnen und Philosophinnen unsere Zeit gewesen ist." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 05.10.13
"Eine der faszinierendsten und glamourösesten amerikanischen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.13