"In meiner Kindheit verlor ich zwei Vaterländer." Das eine war seine Geburtsstadt Lemberg, aus der die Familie 1945 fliehen musste, das andere war das Land der Wahrheit, aus dem ihn die sowjetische Herrschaft in Polen vertrieb. Von dem nüchternen Gleiwitz, in dem er den größten Teil seiner Kindheit verbrachte, zog es ihn nach Krakau, wo er ein drittes Vaterland, "eine Stadt der Einbildungskraft" fand. In Momentaufnahmen, gleichsam aus der Vogelperspektive, erzählt Zagajewski vom Krakau der sechziger Jahre. Vom Stöbern nach verbotenen Büchern im Antiquariat, von den schmackhaften und mörderischen Buletten der Zimmerwirtin, vom ausgestorbenen und verwahrlosten ehemaligen Kazimierz, von einem jungen Geistlichen namens Karol Woityla, der bei seiner Tante ein und aus ging, und von einem merkwürdigen Gedicht auf einen Orchestermusiker, der während des Konzerts in Ohnmacht fiel - es wurde Zagajewskis poetisches Debüt. Sein persönlicher Stil und seine kluge Beobachtung faszinieren auch in die ser Prosa, nicht zuletzt in dem hinreißenden Doppelporträt von Gleiwitz und Lemberg, das diese Erinnerungsbilder beschließt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2000Orangenwunder
Adam Zagajewski schwebt über den Dingen und über Krakau
Das geheime Zentrum dieses Buches ist Roman Ingarden, und zwar nicht so sehr seine Person wie seine Methode. Als Person ist dem bekannten Philosophieprofessor und -theoretiker allerdings auch eines der vielen hübschen Miniporträts dieser Memoiren (darunter das eines jungen Geistlichen namens Karol Wojtila) gewidmet. Es ist ein liebevolles Porträt des alten Philosophen, den der Verfasser nicht mehr als Dozenten erlebt (er rechnet sich zu den "Unglücklichen, die zu spät an die Uni gekommen sind, um den Zauber, die Präzision und Suggestivität des Ingardenschen Vortrags erlebt zu haben"), sondern als "alten Meister" in Krakau hat herumspuken sehen. Aber die Berichte der älteren Kommilitonen, die noch zu seinen Füßen gesessen hatten, werden wiedergegeben und sind so lebendig, als stammten sie von Zagajewski selbst (und wir haben keinerlei Gewähr, daß dies nicht tatsächlich der Fall ist).
Ingarden soll so intensiv über die vor ihm auf dem Katheder stehende Wasserkaraffe gesprochen haben, daß "das bescheidene, nicht einmal kristallene Gefäß, das wir unter anderen Umständen keines Blickes gewürdigt hätten, daß diese Karaffe eine lange Stunde schöner war als alle Paläste des Kaisers von Indien". Ingarden war "ein Poet der Gegenstände", der deren Geheimnis, "ihren Kern, ihr Herz, ihre Wurzel", in seinen Vorlesungen bloßzulegen verstand. Wenn er von einer Apfelsine redete, sah man sie in ihrer Rundung voller Saft und ewiger Jugend. So sehr verwandelte dieser Zauberer die Welt, daß der Verfasser einer sonderbaren Vision erliegt, die gleichzeitig ein Beispiel für seinen skurrilen Humor ist. Er meint, Ingarden habe buchstäblich vor Augen seiner Zuhörer Dutzende von Gegenständen erschaffen, die der hinkende Hausmeister später, fluchend ob der unbezahlten Überstunden, aus dem Seminarraum habe tragen müssen.
Damit ist aber nicht nur die phänomenologische époche Edmund Husserls, Ingardens eigenen Lehrers - die berühmte Suspendierung von konventionellem Urteil und hergebrachter Überzeugung -, auf drastische Weise dargestellt, sondern auch die in Zagajewskis Buch selbst angewandte Wesensschau der Phänomene seiner Umwelt, der Stadt Krakau, die er als junger Universitätsstudent während der kommunistischen Zeit erlebt hat. Erst durch diese Übertragung der Ingardenschen Vortragsweise auf die Vorgänge in Zagajewskis Memoiren erwacht im Leser das Verständnis, was das Sammelsurium von Personen, Geschehnissen, Reflexionen, Baulichkeiten, Natureindrücken, Kunsterlebnissen bezweckt, aus dem seine Reminiszenzen bestehen. Der Ingardenschen Methode lebendigster Darstellung, die sich der Verfasser zu eigen gemacht hat, ist die innere Zusammengehörigkeit aller der äußerst heterogenen Episoden, Menschen, Aphorismen, gewagten Gleichnisse, Anekdoten, Porträts - von der Klassik bis zum Jazz, von Tolstoi bis zur polnischen Dichtergruppe Teraz (Jetzt) - zu verdanken. Zusammen sollen sie Krakau erstehen lassen: intensivste Vergegenwärtigung einer Stadt, einer Epoche und des Wahrnehmungsapparats eines begabten Dichters, Dissidenten (politischer, aber auch kultureller Observanz) und autobiographischen Schriftstellers.
EGON SCHWARZ.
Adam Zagajewski: "Ich schwebe über Krakau. Erinnerungsbilder". Aus dem Polnischen übersetzt von Henryk Bereska. Carl Hanser Verlag, München 2000. 222 Seiten, geb., 36 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Adam Zagajewski schwebt über den Dingen und über Krakau
Das geheime Zentrum dieses Buches ist Roman Ingarden, und zwar nicht so sehr seine Person wie seine Methode. Als Person ist dem bekannten Philosophieprofessor und -theoretiker allerdings auch eines der vielen hübschen Miniporträts dieser Memoiren (darunter das eines jungen Geistlichen namens Karol Wojtila) gewidmet. Es ist ein liebevolles Porträt des alten Philosophen, den der Verfasser nicht mehr als Dozenten erlebt (er rechnet sich zu den "Unglücklichen, die zu spät an die Uni gekommen sind, um den Zauber, die Präzision und Suggestivität des Ingardenschen Vortrags erlebt zu haben"), sondern als "alten Meister" in Krakau hat herumspuken sehen. Aber die Berichte der älteren Kommilitonen, die noch zu seinen Füßen gesessen hatten, werden wiedergegeben und sind so lebendig, als stammten sie von Zagajewski selbst (und wir haben keinerlei Gewähr, daß dies nicht tatsächlich der Fall ist).
Ingarden soll so intensiv über die vor ihm auf dem Katheder stehende Wasserkaraffe gesprochen haben, daß "das bescheidene, nicht einmal kristallene Gefäß, das wir unter anderen Umständen keines Blickes gewürdigt hätten, daß diese Karaffe eine lange Stunde schöner war als alle Paläste des Kaisers von Indien". Ingarden war "ein Poet der Gegenstände", der deren Geheimnis, "ihren Kern, ihr Herz, ihre Wurzel", in seinen Vorlesungen bloßzulegen verstand. Wenn er von einer Apfelsine redete, sah man sie in ihrer Rundung voller Saft und ewiger Jugend. So sehr verwandelte dieser Zauberer die Welt, daß der Verfasser einer sonderbaren Vision erliegt, die gleichzeitig ein Beispiel für seinen skurrilen Humor ist. Er meint, Ingarden habe buchstäblich vor Augen seiner Zuhörer Dutzende von Gegenständen erschaffen, die der hinkende Hausmeister später, fluchend ob der unbezahlten Überstunden, aus dem Seminarraum habe tragen müssen.
Damit ist aber nicht nur die phänomenologische époche Edmund Husserls, Ingardens eigenen Lehrers - die berühmte Suspendierung von konventionellem Urteil und hergebrachter Überzeugung -, auf drastische Weise dargestellt, sondern auch die in Zagajewskis Buch selbst angewandte Wesensschau der Phänomene seiner Umwelt, der Stadt Krakau, die er als junger Universitätsstudent während der kommunistischen Zeit erlebt hat. Erst durch diese Übertragung der Ingardenschen Vortragsweise auf die Vorgänge in Zagajewskis Memoiren erwacht im Leser das Verständnis, was das Sammelsurium von Personen, Geschehnissen, Reflexionen, Baulichkeiten, Natureindrücken, Kunsterlebnissen bezweckt, aus dem seine Reminiszenzen bestehen. Der Ingardenschen Methode lebendigster Darstellung, die sich der Verfasser zu eigen gemacht hat, ist die innere Zusammengehörigkeit aller der äußerst heterogenen Episoden, Menschen, Aphorismen, gewagten Gleichnisse, Anekdoten, Porträts - von der Klassik bis zum Jazz, von Tolstoi bis zur polnischen Dichtergruppe Teraz (Jetzt) - zu verdanken. Zusammen sollen sie Krakau erstehen lassen: intensivste Vergegenwärtigung einer Stadt, einer Epoche und des Wahrnehmungsapparats eines begabten Dichters, Dissidenten (politischer, aber auch kultureller Observanz) und autobiographischen Schriftstellers.
EGON SCHWARZ.
Adam Zagajewski: "Ich schwebe über Krakau. Erinnerungsbilder". Aus dem Polnischen übersetzt von Henryk Bereska. Carl Hanser Verlag, München 2000. 222 Seiten, geb., 36 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Was Adam Zagajewski da an Erinnerungen, Reflexionen und Aphorismen "locker aneinandergereiht" hat, kann unseren Rezensenten ganz und gar nicht überzeugen. Eher als mit der Schilderung von "Geschichte aus der Sicht eines souveränen Menschen" - wie es dem Autor vorschwebte - fühlt sich Jörg Plath mit einem "müden Alterswerk" konfrontiert. Dabei, so Plath, habe Zagajewski als bekannter polnischer Dissident so einiges erlebt. Zwischen "Exil, Gedächtnis, Verlust und der Kraft der Imagination" - diesen zusammenhängenden "Erinnerungsbildern", die Plath herauspräpariert hat - hebe der Autor mitunter ab ins "Orbit der Metaphysik". Handfeste Fragen, die sich dem Rezensenten stellen, etwa zum Verhältnis von Angst und Engagement, bleiben dagegen unbeantwortet. Düster klingt sein Fazit: Nichts Atmosphärisches, Faktisches oder Persönliches über weite Strecken des Buches. Die von Plath ebenfalls monierte "oft etwas bemüht gravitätische" Übersetzung wiegt da eigentlich leicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Eine gelungene Mischung aus Historie, Anekdoten, funkelnden Aphorismen und geistreichen Reflexionen ... Zagajewskis 'Erinnerungsbilder' sind unterhaltsam, komisch und manchmal auch melancholisch."
Brigitte, 18.10.2000
"Die zahlreichen Reflexionen über Literatur, Philosophie und Musik, die kunstvollen Aphorismen, die überraschenden Gleichnisse, mit denen Zagajewskis Buch durchsetzt ist, lassen keinen Zweifel aufkommen, dass Krakau, die 'Stadt der Einbildungskraft', eine gute Schule des Denkens und Empfindens gewesen sein muss."
Marta Kijowska, Süddeutsche Zeitung, 2./3.12.00
Brigitte, 18.10.2000
"Die zahlreichen Reflexionen über Literatur, Philosophie und Musik, die kunstvollen Aphorismen, die überraschenden Gleichnisse, mit denen Zagajewskis Buch durchsetzt ist, lassen keinen Zweifel aufkommen, dass Krakau, die 'Stadt der Einbildungskraft', eine gute Schule des Denkens und Empfindens gewesen sein muss."
Marta Kijowska, Süddeutsche Zeitung, 2./3.12.00