Eine junge Schriftstellerin lebt in Amsterdam in einer kinderlosen, erfüllten Beziehung mit ihrem Partner und schreibt an ihrem zweiten Roman. Aber muss das schon alles gewesen sein? Sie könnte ja auch einen kleinen Sohn haben und in Scheidung leben. Oder auf einem Festival eine andere Schriftstellerin kennengelernt und sich in sie verliebt haben. Und sie könnte im Roman ihrer Freundin M bei einem Skiunfall ums Leben gekommen sein. Oder einen Hund haben. Welches dieser Leben wäre das richtige, das authentische? Und wie gut muss man sich kennen, um diese Frage zu beantworten?
Niña Weijers gibt sich nicht mit der Wirklichkeit zufrieden. Mit Ich. Sie. Die Frau hat sie einen wunderbar vertrackten, berührenden, gut gelaunten Roman geschrieben über die Veränderlichkeit von Lebensentscheidungen, über Freundschaft, Sexualität, Lust und Scham und Erinnerung. Und über die Frage, was geschehen wäre, wenn ...
Niña Weijers gibt sich nicht mit der Wirklichkeit zufrieden. Mit Ich. Sie. Die Frau hat sie einen wunderbar vertrackten, berührenden, gut gelaunten Roman geschrieben über die Veränderlichkeit von Lebensentscheidungen, über Freundschaft, Sexualität, Lust und Scham und Erinnerung. Und über die Frage, was geschehen wäre, wenn ...
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensentin Viktoria Willenborg ist Nina Weijers neuer Roman natürlich keine Frauenliteratur. Das Buch über die Doppelmoral hipper Kreativer und Intellektueller auf Selbstsuche findet sie klug und komisch in seiner Abstraktheit und in seinen genauen Beobachtungen. Dass die Autorin ihren Protagonisten nicht mal Namen gibt und der Leserin so Identifikationsmöglichkeiten verstellt, findet Willenborg spannend und anregend, weil sie so gezwungen ist, genauer hinzusehen. Sprachlich überzeugt der Roman die Rezensentin mit Direktheit und Bildhaftigkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2021Ausbruch einer Figur
Niña Weijers' Roman "Ich. Sie. Die Frau"
Sie erinnert sich und träumt. Sie ist Schriftstellerin und sucht nicht weniger als den Sinn ihres Lebens. Die namenlose Hauptfigur hinterfragt ihren Beruf und probt in kleinen Affären mit Männern und Frauen den Aufstand. "Ich. Sie. Die Frau" heißt der Roman, es ist der zweite der Niederländerin Niña Weijers, einer Literaturwissenschaftlerin. Dem Thema der nach sich selbst suchenden Kreativen bleibt sie treu. Bereits ihr preisgekröntes Debüt handelte von einer jungen bejubelten Künstlerin, die ihr eigenes Leben und die Kunstszene seziert.
Die Geschichte ist komplex, aber unterhaltsam. Muster und Struktur sind außergewöhnlich, die Sprache bildhaft und direkt. Sinnbildlich für die Atmosphäre schreibt die Erzählerin über die Piefigkeit der Universitäten und den Ausbruch daraus: "Wände und Türen. Darauf lief es hinaus. Doch sie war dreiundzwanzig und wollte grelles, blendendes und notfalls kaltes Licht. Sie wollte Leben, keine abgeleitete Form von Leben. Sie war jung, darauf lief es hinaus." Immer geht es um die Frage, wie spektakulär ein Leben und eine Liebe sein müssen, um beschrieben werden zu dürfen. Als gäbe es im Chaos einen Anspruch auf Beständigkeit durch Aufschreiben. Permanente Suche nach und Betonung von Authentizität. Philosophische Träumereien wechseln sich ab mit urkomischen Begegnungen. Etwa, wenn Weijers die Doppelmoral der Besserverdienenden, die den Minimalismus feiern, als klassistisch enttarnt. Auf Skifahren folgt Entwaldung der Alpen folgt Buddha. Nonchalant rechnet das Buch mit den vermeintlich hippen Insidern aus dem gehobenen Intellektuellenmilieu ab und persifliert die Gesellschaft in ihrem albernen Streben nach Individualität.
Weijers verzichtet auf die Benennung wichtiger Figuren und versieht sie stattdessen mit einem Buchstaben oder einer Eigenschaft: der Künstler, die Kleine, M. oder auch die Schmale. Die Autorin nimmt dem Leser die Identifikationsmöglichkeit mit Altbewährtem und zwingt ihn stattdessen dazu, alles neu zu denken. Nur unwichtige Randfiguren erhalten einen Namen - ein spannender Twist, um Leser ankerlos zurückzulassen. Außerdem erzählen die Figuren viel über andere Figuren. Die Protagonistin hingegen wird ausgespart, über sie erfährt man kaum etwas.
Die Figuren skizziert Weijers derart präzise und eindeutig, dass sie als Abziehbilder von Menschen taugen. Man meint, ihnen bei einem Bummel durch das reale Leben begegnen zu können. Sie sind schillernd, komisch und haben einen klugen Humor. Sie sind anrührend in ihrer Unperfektion: so etwa M., die fünfunddreißigjährige Freundin der Schriftstellerin, die alles zusammenhält und sie zurückholt, wenn die Zweifelnde in ihrer Sinnsuche versinkt. Oder der misogyne unsympathische Künstler, mit dem die jüngere Schriftstellerin eine Affäre auf einer Insel beginnt.
Auf charmante Art wird dem Leser stets deutlich gemacht, dass er gerade ein Buch liest. Es hat mindestens drei Ebenen. So erzählt die Protagonistin einer anderen Schriftstellerin, dass sie ihr Buch in der dritten Person schreibe. Gerade, wenn man in deren Geschichte eintaucht, stört die Icherzählerin die Harmonie: "Ich könnte die Medaillons mit schwarzen Sonnen oder leeren Augenhöhlen vergleichen, aber vielleicht greife ich dann den Dingen vor." Sie ist unzuverlässig: Sobald es spannend wird, schläft sie ein, kann sich nicht mehr erinnern oder hat das Ende vergessen. Die dritte Ebene ist die Auseinandersetzung mit der Literaturproduktion. Weijers lässt ihre Schriftstellerin Bücher und Textnachrichten lesen, die die "vierte Wand" des Romans endgültig durchbrechen: "Theo, dem ich laut meiner Lektorin Bedeutung verleihen sollte, war im Gebüsch neben dem Freilaufgelände verschwunden."
Früher hätte man ein so feinsinniges Werk voller Raffinement, auch aufgrund des abstrakten Titels, vielleicht als Frauenliteratur bezeichnet, eine furchtbare Kategorie. Nein, dieses Buch eignet sich für alle, die überrascht werden wollen. Das Buch ist lebenshungrig und zieht uns hinein mit seinen präzisen Beobachtungen zwischenmenschlicher Komik. VIKTORIA WILLENBORG.
Niña Weijers: "Ich. Sie. Die Frau". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 234 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Niña Weijers' Roman "Ich. Sie. Die Frau"
Sie erinnert sich und träumt. Sie ist Schriftstellerin und sucht nicht weniger als den Sinn ihres Lebens. Die namenlose Hauptfigur hinterfragt ihren Beruf und probt in kleinen Affären mit Männern und Frauen den Aufstand. "Ich. Sie. Die Frau" heißt der Roman, es ist der zweite der Niederländerin Niña Weijers, einer Literaturwissenschaftlerin. Dem Thema der nach sich selbst suchenden Kreativen bleibt sie treu. Bereits ihr preisgekröntes Debüt handelte von einer jungen bejubelten Künstlerin, die ihr eigenes Leben und die Kunstszene seziert.
Die Geschichte ist komplex, aber unterhaltsam. Muster und Struktur sind außergewöhnlich, die Sprache bildhaft und direkt. Sinnbildlich für die Atmosphäre schreibt die Erzählerin über die Piefigkeit der Universitäten und den Ausbruch daraus: "Wände und Türen. Darauf lief es hinaus. Doch sie war dreiundzwanzig und wollte grelles, blendendes und notfalls kaltes Licht. Sie wollte Leben, keine abgeleitete Form von Leben. Sie war jung, darauf lief es hinaus." Immer geht es um die Frage, wie spektakulär ein Leben und eine Liebe sein müssen, um beschrieben werden zu dürfen. Als gäbe es im Chaos einen Anspruch auf Beständigkeit durch Aufschreiben. Permanente Suche nach und Betonung von Authentizität. Philosophische Träumereien wechseln sich ab mit urkomischen Begegnungen. Etwa, wenn Weijers die Doppelmoral der Besserverdienenden, die den Minimalismus feiern, als klassistisch enttarnt. Auf Skifahren folgt Entwaldung der Alpen folgt Buddha. Nonchalant rechnet das Buch mit den vermeintlich hippen Insidern aus dem gehobenen Intellektuellenmilieu ab und persifliert die Gesellschaft in ihrem albernen Streben nach Individualität.
Weijers verzichtet auf die Benennung wichtiger Figuren und versieht sie stattdessen mit einem Buchstaben oder einer Eigenschaft: der Künstler, die Kleine, M. oder auch die Schmale. Die Autorin nimmt dem Leser die Identifikationsmöglichkeit mit Altbewährtem und zwingt ihn stattdessen dazu, alles neu zu denken. Nur unwichtige Randfiguren erhalten einen Namen - ein spannender Twist, um Leser ankerlos zurückzulassen. Außerdem erzählen die Figuren viel über andere Figuren. Die Protagonistin hingegen wird ausgespart, über sie erfährt man kaum etwas.
Die Figuren skizziert Weijers derart präzise und eindeutig, dass sie als Abziehbilder von Menschen taugen. Man meint, ihnen bei einem Bummel durch das reale Leben begegnen zu können. Sie sind schillernd, komisch und haben einen klugen Humor. Sie sind anrührend in ihrer Unperfektion: so etwa M., die fünfunddreißigjährige Freundin der Schriftstellerin, die alles zusammenhält und sie zurückholt, wenn die Zweifelnde in ihrer Sinnsuche versinkt. Oder der misogyne unsympathische Künstler, mit dem die jüngere Schriftstellerin eine Affäre auf einer Insel beginnt.
Auf charmante Art wird dem Leser stets deutlich gemacht, dass er gerade ein Buch liest. Es hat mindestens drei Ebenen. So erzählt die Protagonistin einer anderen Schriftstellerin, dass sie ihr Buch in der dritten Person schreibe. Gerade, wenn man in deren Geschichte eintaucht, stört die Icherzählerin die Harmonie: "Ich könnte die Medaillons mit schwarzen Sonnen oder leeren Augenhöhlen vergleichen, aber vielleicht greife ich dann den Dingen vor." Sie ist unzuverlässig: Sobald es spannend wird, schläft sie ein, kann sich nicht mehr erinnern oder hat das Ende vergessen. Die dritte Ebene ist die Auseinandersetzung mit der Literaturproduktion. Weijers lässt ihre Schriftstellerin Bücher und Textnachrichten lesen, die die "vierte Wand" des Romans endgültig durchbrechen: "Theo, dem ich laut meiner Lektorin Bedeutung verleihen sollte, war im Gebüsch neben dem Freilaufgelände verschwunden."
Früher hätte man ein so feinsinniges Werk voller Raffinement, auch aufgrund des abstrakten Titels, vielleicht als Frauenliteratur bezeichnet, eine furchtbare Kategorie. Nein, dieses Buch eignet sich für alle, die überrascht werden wollen. Das Buch ist lebenshungrig und zieht uns hinein mit seinen präzisen Beobachtungen zwischenmenschlicher Komik. VIKTORIA WILLENBORG.
Niña Weijers: "Ich. Sie. Die Frau". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 234 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dieses Buch eignet sich für alle, die überrascht werden wollen ... [Ich. Sie. Die Frau] ist lebenshungrig und zieht uns hinein mit seinen präzisen Beobachtungen zwischenmenschlicher Komik.« Viktoria Willenborg Frankfurter Allgemeine Zeitung 20210908