Dieser Lyrikband Thomas Rosenlöchers wurde aus den beiden bereits zu DDR-Zeiten erschienenen Bänden »Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz« und »Schneebier« zusammengestellt. Etwas vom Damals ins Heute retten, das will Thomas Rosenlöcher mit dem vorliegenden Band, dessen Gedichte mit dem Wegfall des alten Staates nun auch schon eine Zeitenwende hinter sich haben - und plötzlich gelten sie auch für heute. Humorvoll bis sarkastisch, mit Ironie und nicht unkritischem Auge betrachtet Thomas Rosenlöcher sich, den Zeitgenossen im Umbruch, seine Umgebung, und immer wieder wandert sein Blick auch nach oben - der Himmel über Sachsen ist der Himmel über der Welt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.1998Die betrüblichen Hosen
Thomas Rosenlöcher sitzt in Sachsen · Von Burkhard Müller
"Die verkauften Pflastersteine" hatte der Lyriker Thomas Rosenlöcher sein "Dresdner Tagebuch" genannt, das er vom September 1989 bis zum März 1990 geführt hatte. Die schönen alten Pflastersteine, die eine Dresdner Straße bedeckt hatten und von der stets devisenknappen DDR in den Westen verscherbelt worden waren, hatten den östlichen Volksmund zu einem Vers inspiriert, in dem Bitterkeit, Spott und Wehmut unentwirrbar ineinanderliefen: ,Ach wär ich nur ein Pflasterstein - dann könnt' ich längst im Westen sein!'
Das war zu der Zeit paradox; aber inzwischen sind auch die, die noch fester als ein Stein im Grund haften, in den Westen gelangt, ohne selbst einen einzigen Schritt getan zu haben. Rosenlöcher hat in seinem Tagebuch die Wende nicht als Revolution erlebt, er ist voll des Erstaunens, was ihm da passiert: daß sich Geschichte plötzlich wie in einem gewaltigen Gewitter über der altbekannten Landschaft entlädt.
Dennoch, die Landschaft währt länger, sie ist die eigentliche Konstante im Leben ihrer Bewohner. Darum wird die Gedichtzeile "Ich sitze in Sachsen und schau' in den Schnee" titelgebend für das ganze Buch. Der Titel verrät vorsätzlich nicht, daß es Gedichte sind, die aus der Zeit vor 1989 stammen - das, so scheint er zu beharren, tut nichts zur Sache, denn diese zwei Dinge, der Schnee und Sachsen, bleiben uns in jedem Fall erhalten, egal wie es kommt, und was soll man da machen als sitzen und schauen?
Ich stand
vor dem Hauptbahnhof Dresden,
und drüben war Fußball, und Ouhh!
riefen die Sachsen verloren mal wieder
Da sagte auch ich leise Ouhh,
denn ich gehörte zu ihnen,
samt diesen meinen betrüblichen
Hosen.
Das arme Sachsen. In schlechten Wintern dauert der Schnee fünf Monate, und als historisches Gebilde wird es seit einem Vierteljahrtausend vom Pech verfolgt. "Und Lenin zwischen den Rabatten / auch nur ein König aus Preußen" - an diese Reihe, so steht zu vermuten, schließen Kohl und Schröder nahtlos an.
Es ist nicht Trotz, wenn Rosenlöcher diese alten Sachen, die überwiegend in der DDR schon einmal publiziert worden waren, jetzt wieder zum Vorschein bringt, und auch nicht der Versuch, zu tun, als wäre nichts gewesen. Vielmehr druckt er sogar, "um nicht, wie üblich, damaliges Denken nachträglich verschwiegen zu haben", auch ein Gedicht über Karl Marx mit ab, was ihm um so höher anzurechnen ist, als es sich um ein ziemlich schwaches Gedicht handelt.
Diese Gedichte ruhen in ihrer Bodenständigkeit: dem Vertrauen, daß der Boden stehenbleibt, selbst wenn die Pflastersteine zu wandern anfangen. Vor dem Behagen der Heimatkunst werden sie durch die Beschaffenheit ihrer Heimat bewahrt, vor der Pose des Anklägers durch ihren Gleichmut: "Das Tal war Dampf aus über dreißig Töpfen und reich gestreut sein düsteres Gewöll. Selbst aus der Ferne grüßte noch das schüttre Fädchen eines Schlots und hielt sich, eh es rührend schmal zerrann und sicherlich mein Winken weiterreichte zum nächsten Schlot, einsam auf grünem Feld, und dies so fort, bis daß die Städte kämen und Schlot um Schlot im Tagwerk des Gestanks."
Gleichmut macht den Blick geduldig, besonders auf die trotz allem unbesiegliche Kraft der pflanzlichen Natur und des fließenden oder ruhenden Wassers:
tipp tapp, zum See. Da lag der Himmel flach
und Stille in ihm bis in tiefste Tiefen,
leicht an den Rand der Schönheit
hingelehnt,
umringt von Erlen, staunend, ein
Geflüster
Das gilt selbst dann und hat Bestand, wenn der See, wie sich im weiteren Fortgang erweist, bis zum Kragen voll ist mit "Pneus Kinderwagen Büchsen Flaschen Büchsen". Aber solcher ehrgeizlosen Gelassenheit droht eine offenkundige Gefahr: daß sie den Ton verfehlt, sei es, daß sie zur bloßen einförmigen Beschreibungsprosa herabsinkt, sei es, daß sie zu den hohen lyrischen Formen greift, die um sie dann schlackern wie ein zu weites Hemd.
Rosenlöcher ist sich der besonderen Formbedürftigkeit dieser scheinbar formlos immer weiter plaudernden Gebilde sehr bewußt, wenn er auch nicht in allen Fällen damit eine glückliche Hand gehabt hat. Ganz unbefangen lassen sich die Gedichte, die Rosenlöcher selbst als die ältesten kenntlich macht, vom Schwung des eben gelesenen Homer tragen und finden nichts dabei, auf ein leichtgewichtiges Objekt wie eine Klopapierrolle mit dem Schmiedehammer des Distichons einzuwirken. Manche anderen entfalten einen so penetranten Taktschlag, als wären sie vom Stamme jener Afra, welche sterben, wenn sie sich mit dem vierhebigen Trochäus einlassen. Eine bemerkenswerte Unbegabung läßt Rosenlöcher vor allem für den Reim erkennen: Nicht nur fügt er ohne weiteres "treibt" und "Zeit", "dich" und "Tisch" zusammen, sondern, was schwerer wiegt, es kann ein halbes Gedicht vergehen, bis man überhaupt merkt, daß es gereimt ist. Zum Glück sind es die meisten Gedichte dann doch nicht.
Alle diese Versuche muß man mißlingen haben hören, um das Ohr zu schärfen für die unscheinbare und dennoch erstaunliche Lösung, die Rosenlöcher schließlich findet und im größeren Teil des Bandes verwendet: den Blankvers. Diesen leicht angestaubten Sprechvers des klassischen Dramas funktioniert er lyrisch um und gewinnt damit genau und zuverlässig die mittlere Stilhöhe, die sein Temperament verlangt. Zugleich hat Rosenlöcher damit für sich die grundsätzliche Frage "Kurzes oder langes Gedicht?" entschieden: Der Blankvers erlangt seine Wirkung erst von einem gewissen Mindestvolumen an.
Der jambische Grundrhythmus pulst unaufdringlich unter der Oberfläche des Texts, er geht mit über Stock und Stein und selbst "Plastostereier", reagiert aber mit großer Feinheit auf jede Störung und Tonverschiebung.
Der Ausschank war geöffnet in das Dunkel
und leuchtete warm in den tiefen
von ferner Kindheit überglänzten
Schnee
So lautet der Anfang des Gedichts "Schneebier": Der zweiten Zeile fehlt eine Hebung, und der so gewonnene Leerraum lädt in überraschender Weise die eine Silbe "warm" auf, der dadurch, so kurz sie ist, inmitten von Dunkel und Schnee fokussierende Kraft zuwächst. Und das Ende: "Indes in mich eiskalte Biere rannen und ringsher um die Lampe Schneegeriesel aus meinem Mund ans Holz des Ausschanks glitzernd verstöberte. Ich trank und trank und trank."
Wie ein kleines, aber stark motorisiertes Boot kämpft sich die Syntax Rosenlöchers durch den Seegang des Metrums, angestrengt, aber zuversichtlich - und auf einmal gibt sie es auf, aller Widerstand fällt ab, und ohne alle Hemmung schwappt das Trinken plötzlich herein und macht das Maß voll als eine ungeheure Schmach und Erlösung.
Gedichte, die so gut sind wie dieses, gibt es eine ganze Reihe in diesem Buch. Und zu bedauern ist nur, daß der Suhrkamp-Verlag ihm nicht einen schöneren Umschlag gegönnt hat: Autor und Titel erscheinen in an sich schon konfuser Schrift-Verdopplung und sind plaziert auf einen unruhig lilagrauen, von weißen Tupfen überzogenen Grund, der sie vollends fast unlesbar macht.
Thomas Rosenlöcher: "Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee". 77 Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 127 S., geb., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Rosenlöcher sitzt in Sachsen · Von Burkhard Müller
"Die verkauften Pflastersteine" hatte der Lyriker Thomas Rosenlöcher sein "Dresdner Tagebuch" genannt, das er vom September 1989 bis zum März 1990 geführt hatte. Die schönen alten Pflastersteine, die eine Dresdner Straße bedeckt hatten und von der stets devisenknappen DDR in den Westen verscherbelt worden waren, hatten den östlichen Volksmund zu einem Vers inspiriert, in dem Bitterkeit, Spott und Wehmut unentwirrbar ineinanderliefen: ,Ach wär ich nur ein Pflasterstein - dann könnt' ich längst im Westen sein!'
Das war zu der Zeit paradox; aber inzwischen sind auch die, die noch fester als ein Stein im Grund haften, in den Westen gelangt, ohne selbst einen einzigen Schritt getan zu haben. Rosenlöcher hat in seinem Tagebuch die Wende nicht als Revolution erlebt, er ist voll des Erstaunens, was ihm da passiert: daß sich Geschichte plötzlich wie in einem gewaltigen Gewitter über der altbekannten Landschaft entlädt.
Dennoch, die Landschaft währt länger, sie ist die eigentliche Konstante im Leben ihrer Bewohner. Darum wird die Gedichtzeile "Ich sitze in Sachsen und schau' in den Schnee" titelgebend für das ganze Buch. Der Titel verrät vorsätzlich nicht, daß es Gedichte sind, die aus der Zeit vor 1989 stammen - das, so scheint er zu beharren, tut nichts zur Sache, denn diese zwei Dinge, der Schnee und Sachsen, bleiben uns in jedem Fall erhalten, egal wie es kommt, und was soll man da machen als sitzen und schauen?
Ich stand
vor dem Hauptbahnhof Dresden,
und drüben war Fußball, und Ouhh!
riefen die Sachsen verloren mal wieder
Da sagte auch ich leise Ouhh,
denn ich gehörte zu ihnen,
samt diesen meinen betrüblichen
Hosen.
Das arme Sachsen. In schlechten Wintern dauert der Schnee fünf Monate, und als historisches Gebilde wird es seit einem Vierteljahrtausend vom Pech verfolgt. "Und Lenin zwischen den Rabatten / auch nur ein König aus Preußen" - an diese Reihe, so steht zu vermuten, schließen Kohl und Schröder nahtlos an.
Es ist nicht Trotz, wenn Rosenlöcher diese alten Sachen, die überwiegend in der DDR schon einmal publiziert worden waren, jetzt wieder zum Vorschein bringt, und auch nicht der Versuch, zu tun, als wäre nichts gewesen. Vielmehr druckt er sogar, "um nicht, wie üblich, damaliges Denken nachträglich verschwiegen zu haben", auch ein Gedicht über Karl Marx mit ab, was ihm um so höher anzurechnen ist, als es sich um ein ziemlich schwaches Gedicht handelt.
Diese Gedichte ruhen in ihrer Bodenständigkeit: dem Vertrauen, daß der Boden stehenbleibt, selbst wenn die Pflastersteine zu wandern anfangen. Vor dem Behagen der Heimatkunst werden sie durch die Beschaffenheit ihrer Heimat bewahrt, vor der Pose des Anklägers durch ihren Gleichmut: "Das Tal war Dampf aus über dreißig Töpfen und reich gestreut sein düsteres Gewöll. Selbst aus der Ferne grüßte noch das schüttre Fädchen eines Schlots und hielt sich, eh es rührend schmal zerrann und sicherlich mein Winken weiterreichte zum nächsten Schlot, einsam auf grünem Feld, und dies so fort, bis daß die Städte kämen und Schlot um Schlot im Tagwerk des Gestanks."
Gleichmut macht den Blick geduldig, besonders auf die trotz allem unbesiegliche Kraft der pflanzlichen Natur und des fließenden oder ruhenden Wassers:
tipp tapp, zum See. Da lag der Himmel flach
und Stille in ihm bis in tiefste Tiefen,
leicht an den Rand der Schönheit
hingelehnt,
umringt von Erlen, staunend, ein
Geflüster
Das gilt selbst dann und hat Bestand, wenn der See, wie sich im weiteren Fortgang erweist, bis zum Kragen voll ist mit "Pneus Kinderwagen Büchsen Flaschen Büchsen". Aber solcher ehrgeizlosen Gelassenheit droht eine offenkundige Gefahr: daß sie den Ton verfehlt, sei es, daß sie zur bloßen einförmigen Beschreibungsprosa herabsinkt, sei es, daß sie zu den hohen lyrischen Formen greift, die um sie dann schlackern wie ein zu weites Hemd.
Rosenlöcher ist sich der besonderen Formbedürftigkeit dieser scheinbar formlos immer weiter plaudernden Gebilde sehr bewußt, wenn er auch nicht in allen Fällen damit eine glückliche Hand gehabt hat. Ganz unbefangen lassen sich die Gedichte, die Rosenlöcher selbst als die ältesten kenntlich macht, vom Schwung des eben gelesenen Homer tragen und finden nichts dabei, auf ein leichtgewichtiges Objekt wie eine Klopapierrolle mit dem Schmiedehammer des Distichons einzuwirken. Manche anderen entfalten einen so penetranten Taktschlag, als wären sie vom Stamme jener Afra, welche sterben, wenn sie sich mit dem vierhebigen Trochäus einlassen. Eine bemerkenswerte Unbegabung läßt Rosenlöcher vor allem für den Reim erkennen: Nicht nur fügt er ohne weiteres "treibt" und "Zeit", "dich" und "Tisch" zusammen, sondern, was schwerer wiegt, es kann ein halbes Gedicht vergehen, bis man überhaupt merkt, daß es gereimt ist. Zum Glück sind es die meisten Gedichte dann doch nicht.
Alle diese Versuche muß man mißlingen haben hören, um das Ohr zu schärfen für die unscheinbare und dennoch erstaunliche Lösung, die Rosenlöcher schließlich findet und im größeren Teil des Bandes verwendet: den Blankvers. Diesen leicht angestaubten Sprechvers des klassischen Dramas funktioniert er lyrisch um und gewinnt damit genau und zuverlässig die mittlere Stilhöhe, die sein Temperament verlangt. Zugleich hat Rosenlöcher damit für sich die grundsätzliche Frage "Kurzes oder langes Gedicht?" entschieden: Der Blankvers erlangt seine Wirkung erst von einem gewissen Mindestvolumen an.
Der jambische Grundrhythmus pulst unaufdringlich unter der Oberfläche des Texts, er geht mit über Stock und Stein und selbst "Plastostereier", reagiert aber mit großer Feinheit auf jede Störung und Tonverschiebung.
Der Ausschank war geöffnet in das Dunkel
und leuchtete warm in den tiefen
von ferner Kindheit überglänzten
Schnee
So lautet der Anfang des Gedichts "Schneebier": Der zweiten Zeile fehlt eine Hebung, und der so gewonnene Leerraum lädt in überraschender Weise die eine Silbe "warm" auf, der dadurch, so kurz sie ist, inmitten von Dunkel und Schnee fokussierende Kraft zuwächst. Und das Ende: "Indes in mich eiskalte Biere rannen und ringsher um die Lampe Schneegeriesel aus meinem Mund ans Holz des Ausschanks glitzernd verstöberte. Ich trank und trank und trank."
Wie ein kleines, aber stark motorisiertes Boot kämpft sich die Syntax Rosenlöchers durch den Seegang des Metrums, angestrengt, aber zuversichtlich - und auf einmal gibt sie es auf, aller Widerstand fällt ab, und ohne alle Hemmung schwappt das Trinken plötzlich herein und macht das Maß voll als eine ungeheure Schmach und Erlösung.
Gedichte, die so gut sind wie dieses, gibt es eine ganze Reihe in diesem Buch. Und zu bedauern ist nur, daß der Suhrkamp-Verlag ihm nicht einen schöneren Umschlag gegönnt hat: Autor und Titel erscheinen in an sich schon konfuser Schrift-Verdopplung und sind plaziert auf einen unruhig lilagrauen, von weißen Tupfen überzogenen Grund, der sie vollends fast unlesbar macht.
Thomas Rosenlöcher: "Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee". 77 Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 127 S., geb., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main