Nominiert in der Kategorie Sachbuch; ab 16
Auf der Suche nach der Vergangenheit ihrer Eltern, die beide den Holocaust erlebt haben, legt die Künstlerin Bernice Eisenstein ein sehr persönliches, unmittelbar ergreifendes Buch der Erinnerung vor.
Es gibt keine Anonymen Holocaustler, denen man beitreten könnte, es gibt kein Forum, dem man sich mitteilen könnte: Hallo zusammen, ich bin holocaust-abhängig. Inzwischen bin ich clean, ich brauche den Holocaust nicht mehr, um mein Selbstwertgefühl aufzubauen. " Sich mit Humor zu wappnen ist sicher keine schlechte Strategie, wenn man in einer Familie aufwächst, über der die schwarzen Schatten der Auslöschung liegen. Und es ist dieser couragierte Humor, der das Buch der Künstlerin Bernice Eisenstein so außergewöhnlich macht. Mit unbedingter Aufrichtigkeit stellt sie sich der Frage, was der Holocaust für ihr Leben bedeutet, wie sehr er auch ihre eigene, die zweite Generation geprägt hat. Schonungslos und ohne jedes Selbstmitleid erzählt sie von dem Kind, dem bewusst wird, dass die Eltern sich ihren Schicksalsgenossen stärker verbunden fühlen als der eigenen Tochter. Dem Kind, das lernt, den Holocaust als soziale Trumpfkarte auszuspielen. Dem Kind, das versucht, sich durch exzessive
Beschäftigung mit der Shoah auf Augenhöhe mit dem Leid der Eltern zu begeben. Bernice Eisenstein gelingt es, mit warmherziger Klugheit Unaussprechliches in Worte zu kleiden - und wo auch ihr die Sprache versagt, lässt sie Illustrationen sprechen.
Auf der Suche nach der Vergangenheit ihrer Eltern, die beide den Holocaust erlebt haben, legt die Künstlerin Bernice Eisenstein ein sehr persönliches, unmittelbar ergreifendes Buch der Erinnerung vor.
Es gibt keine Anonymen Holocaustler, denen man beitreten könnte, es gibt kein Forum, dem man sich mitteilen könnte: Hallo zusammen, ich bin holocaust-abhängig. Inzwischen bin ich clean, ich brauche den Holocaust nicht mehr, um mein Selbstwertgefühl aufzubauen. " Sich mit Humor zu wappnen ist sicher keine schlechte Strategie, wenn man in einer Familie aufwächst, über der die schwarzen Schatten der Auslöschung liegen. Und es ist dieser couragierte Humor, der das Buch der Künstlerin Bernice Eisenstein so außergewöhnlich macht. Mit unbedingter Aufrichtigkeit stellt sie sich der Frage, was der Holocaust für ihr Leben bedeutet, wie sehr er auch ihre eigene, die zweite Generation geprägt hat. Schonungslos und ohne jedes Selbstmitleid erzählt sie von dem Kind, dem bewusst wird, dass die Eltern sich ihren Schicksalsgenossen stärker verbunden fühlen als der eigenen Tochter. Dem Kind, das lernt, den Holocaust als soziale Trumpfkarte auszuspielen. Dem Kind, das versucht, sich durch exzessive
Beschäftigung mit der Shoah auf Augenhöhe mit dem Leid der Eltern zu begeben. Bernice Eisenstein gelingt es, mit warmherziger Klugheit Unaussprechliches in Worte zu kleiden - und wo auch ihr die Sprache versagt, lässt sie Illustrationen sprechen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2007Überleben, um davon zu erzählen
Darf man sich ein Bild vom Holocaust machen? Bernice Eisenstein und Digne M. Marcovicz haben es gewagt, die eine malend, die andere fotografierend - zu Wort kommen letzte Zeugen und Nachfahren.
VON ANDREAS PLATTHAUS
Als junges Mädchen erlebte die Kanadierin Bernice Eisenstein heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, unter anderem "über die Tatsache, dass ich im Sommer lieber in meinem Zimmer saß und las, statt mich draußen in die Sonne zu legen - wir stritten über alles und nichts". In diesem Fall allerdings stritt man um alles, zumindest aus der Sicht von Ben Eisenstein, der als Beryl Eisenstein 1917 in der polnischen Stadt Miechow geboren wurde und wie seine spätere Frau Regina Oksenhendler das Konzentrationslager Auschwitz überlebte. In den Gettos, Arbeits- und Vernichtungslagern, in denen die deutschen Besatzer Eisenstein als Jude gefangen hielten, herrschten Hunger und dementsprechender Vitaminmangel. Die körpereigene Produktion von Vitamin D aber kann durch UV-Licht angeregt werden, auch wenn die üblichen Lieferanten wie Fisch und Milch ausfallen. Es gibt deshalb zahlreiche Berichte aus den Gettos über die regelrechte Sucht nach Sonnenbädern, wenn es die Arbeitszeit erlaubte. Der Streit zwischen Vater und Tochter ging aus der Sicht des Überlebenden um eine Frage von Leben und Tod - auch wenn ihm das gar nicht bewusst gewesen sein mag.
In der Erinnerungsliteratur der Kinder von Schoa-Überlebenden gibt es zahlreiche solche Missverständnisse zwischen ihnen und den Eltern - Verhaltensweisen, die vom Lagerleben geprägt wurden und für die Kinder nicht mehr begreiflich waren, weil sie allem widersprachen, wie sie die Eltern sonst erlebten: Geiz, Misstrauen, Vorurteile. In Art Spiegelmans Comic "Maus" ist der daraus entstehende Konflikt am eindrucksvollsten dargestellt. Bislang hätte man dieses 1992 abgeschlossene Buch auch als die ungewöhnlichste unter den literarischen Darstellungen der Judenvernichtung bezeichnet. Doch jetzt hat Spiegelman Konkurrenz bekommen: durch die 1949 geborene Bernice Eisenstein, die als Illustratorin Karriere machte, bevor sie mit Ende fünfzig ein Buch über ihre Familie schrieb, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Es heißt "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden".
Die Lücken geschlossen.
Es ist deshalb so ungewöhnlich, weil Bernice Eisenstein einen Teil ihrer Erzählung in Bilder fasst, überwiegend in Einzelzeichnungen, aber auch in eine achtzehnseitige Comicsequenz, die mitten im Text steht. Keine von diesen Zeichnungen ist illustrativ, denn kein einziges Detail, das sich in ihnen findet, wird schriftlich vorweggenommen. Vielmehr sind die Bilder unabdingbar für das Verständnis des Buches, weil sie Lücken schließen, die der Text lässt. Nehmen wir die Schilderung des achtzigsten Geburtstags von Regina Eisenstein im Jahr 2005. "Obwohl wir die Leichtigkeit kannten, mit der meine Mutter ihre Dankbarkeit und warmen Gefühle ausdrückte, waren wir nicht vorbereitet auf das, was jetzt kam. Sie sagte, ihr halbes Leben sei zerstört worden, nun sei ihr Mann gestorben und jetzt wünsche sie sich nur noch, für ihre Familie stark zu bleiben. Ihre Worte kamen von Herzen, und klar und stark drückte sie damit ihre innersten Gefühle aus. Dann ergriff meine Tante das Wort."
Und hier endet das Kapitel. Zumindest wenn man dem normalen Erscheinungsbild eines Buches glaubte. Doch auf der nächsten Seite folgt eine Zeichnung der beiden alten Frauen, und auf dem Zettel, den Tante Jenny, auch sie Überlebende der Schoa, in der Hand hält, stehen Auszüge aus ihrer Rede auf die Jubilarin. Sie endete mit dem Satz: "Meine Liebe wächst zu dir, wie auch deine Liebe zu mir wächst." Erst das hinzugefügte Bild rundet das Geschehen ab und zeigt, dass die Familie von Regina Eisenstein größere Erwartungen an sie hat als bloße Stärke. So funktionieren alle Bilder im Buch, und besonders der Comic, der die Ankunft der Eltern 1948 in Kanada genauso in Szene setzt wie Adolf Eichmanns von Simon Wiesenthal überliefertes Zitat "Einhundert Tote sind eine Katastrophe, eine Million nur eine Zahl". Da nicht sicher ist, dass Eichmann diesen Satz gesagt hat, setzt Bernice Eisenstein ihn als Denkblase über den Mann, der da beim Jerusalemer Prozess im Glaskasten sitzt. Sein Name wird nicht genannt, man muss ihn erkennen, um das Bild zu verstehen. So sprechen die Zeichnungen aus, was Bernice Eisenstein nicht sagen will.
Der Holocaust als Droge.
Darum ist die Kombination aus Text und Bild so wichtig für das Buch. Obwohl die Autorin durchaus kein Blatt vor den Mund nimmt. "Der Holocaust ist eine Droge", sagt sie gleich am Beginn, als sie sich daran erinnert, wie sie die ersten Fotos der Leichenberge aus den Konzentrationslagern sah. "In diesem Augenblick werde ich süchtig und stelle schnell fest, dass es endlos viele Dealer gibt, die mir immer noch einen Schuss geben, mir noch einmal Zutritt zu der halluzinogenen Geisterwelt verschaffen." So etwas darf nur das Kind von Überlebenden schreiben, das einen Teil seiner Faszination angesichts des Schreckens daraus ziehen kann, dass seine Eltern ihm glücklicherweise entkommen sind.
Der Zufall will es, dass nur wenige Monate vor Bernice Eisensteins Buch ein weiterer Versuch gemacht wurde, die Schoa in Bildern zu erzählen. Die Berliner Fotografin Digne M. Marcovicz hat die Erinnerungen von zwölf Überlebenden aufgezeichnet und diese nicht nur jeweils beim Erzählen fotografiert, sondern auch einige Orte mit der Kamera aufgesucht, über die berichtet wurde. Daraus hat Digne M. Marcovicz das Buch "Massel" (jiddisch für "Glück") zusammengestellt, eine Art Fotoprotokoll der zwölf Erinnerungen. Auf jeder Seite finden sich nur einige Sätze, denen aber sowohl dokumentarische wie erklärende Aufnahmen beigegeben sind - und natürlich die Porträts der jeweils berichtenden Zeugen. Es ist der Versuch, der oft als abstrakt empfundenen Geschichtsschreibung des Massenmordes individuelle Gesichter zu verleihen; der Band richtet sich vor allem an ein junges Publikum.
Keiner der von Marcovicz befragten zwölf Zeugen ist jünger als fünfundsiebzig, und einer von ihnen, der erstaunliche Jizschak Schwersenz, der im Zweiten Weltkrieg in Berlin ausharrte, um dort jüdische Kinder zu verstecken, ist kurz nach dem Gespräch gestorben. In diesem Wissen liest man seine Erinnerungen mit noch mehr Ergriffenheit, doch die meist knallbunten Fotos und das unruhige Layout der Seiten nehmen dem Erinnern die Wucht. Wie unendlich viel subtiler ist da das Buch von Bernice Eisenstein - bis hin zur allerletzten Seite, zum Vorsatzpapier also, das oben am Rand ausgerissen ist. Es ist eine alte jüdische Tradition, zu Ehren Gottes einen kleinen Mangel ins Menschenwerk einzubauen, denn nur Gott ist perfekt. Das Buch von Bernice Eisenstein war nahe daran.
- Bernice Eisenstein: "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden". Aus dem Englischen übersetzt von Henriette Heise. Berlin Verlag, Berlin 2007. 191 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
- Digne M. Marcovicz: "Massel". Letzte Zeugen. Hanser Verlag, München 2007. 379 S., Abb., br., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Darf man sich ein Bild vom Holocaust machen? Bernice Eisenstein und Digne M. Marcovicz haben es gewagt, die eine malend, die andere fotografierend - zu Wort kommen letzte Zeugen und Nachfahren.
VON ANDREAS PLATTHAUS
Als junges Mädchen erlebte die Kanadierin Bernice Eisenstein heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, unter anderem "über die Tatsache, dass ich im Sommer lieber in meinem Zimmer saß und las, statt mich draußen in die Sonne zu legen - wir stritten über alles und nichts". In diesem Fall allerdings stritt man um alles, zumindest aus der Sicht von Ben Eisenstein, der als Beryl Eisenstein 1917 in der polnischen Stadt Miechow geboren wurde und wie seine spätere Frau Regina Oksenhendler das Konzentrationslager Auschwitz überlebte. In den Gettos, Arbeits- und Vernichtungslagern, in denen die deutschen Besatzer Eisenstein als Jude gefangen hielten, herrschten Hunger und dementsprechender Vitaminmangel. Die körpereigene Produktion von Vitamin D aber kann durch UV-Licht angeregt werden, auch wenn die üblichen Lieferanten wie Fisch und Milch ausfallen. Es gibt deshalb zahlreiche Berichte aus den Gettos über die regelrechte Sucht nach Sonnenbädern, wenn es die Arbeitszeit erlaubte. Der Streit zwischen Vater und Tochter ging aus der Sicht des Überlebenden um eine Frage von Leben und Tod - auch wenn ihm das gar nicht bewusst gewesen sein mag.
In der Erinnerungsliteratur der Kinder von Schoa-Überlebenden gibt es zahlreiche solche Missverständnisse zwischen ihnen und den Eltern - Verhaltensweisen, die vom Lagerleben geprägt wurden und für die Kinder nicht mehr begreiflich waren, weil sie allem widersprachen, wie sie die Eltern sonst erlebten: Geiz, Misstrauen, Vorurteile. In Art Spiegelmans Comic "Maus" ist der daraus entstehende Konflikt am eindrucksvollsten dargestellt. Bislang hätte man dieses 1992 abgeschlossene Buch auch als die ungewöhnlichste unter den literarischen Darstellungen der Judenvernichtung bezeichnet. Doch jetzt hat Spiegelman Konkurrenz bekommen: durch die 1949 geborene Bernice Eisenstein, die als Illustratorin Karriere machte, bevor sie mit Ende fünfzig ein Buch über ihre Familie schrieb, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Es heißt "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden".
Die Lücken geschlossen.
Es ist deshalb so ungewöhnlich, weil Bernice Eisenstein einen Teil ihrer Erzählung in Bilder fasst, überwiegend in Einzelzeichnungen, aber auch in eine achtzehnseitige Comicsequenz, die mitten im Text steht. Keine von diesen Zeichnungen ist illustrativ, denn kein einziges Detail, das sich in ihnen findet, wird schriftlich vorweggenommen. Vielmehr sind die Bilder unabdingbar für das Verständnis des Buches, weil sie Lücken schließen, die der Text lässt. Nehmen wir die Schilderung des achtzigsten Geburtstags von Regina Eisenstein im Jahr 2005. "Obwohl wir die Leichtigkeit kannten, mit der meine Mutter ihre Dankbarkeit und warmen Gefühle ausdrückte, waren wir nicht vorbereitet auf das, was jetzt kam. Sie sagte, ihr halbes Leben sei zerstört worden, nun sei ihr Mann gestorben und jetzt wünsche sie sich nur noch, für ihre Familie stark zu bleiben. Ihre Worte kamen von Herzen, und klar und stark drückte sie damit ihre innersten Gefühle aus. Dann ergriff meine Tante das Wort."
Und hier endet das Kapitel. Zumindest wenn man dem normalen Erscheinungsbild eines Buches glaubte. Doch auf der nächsten Seite folgt eine Zeichnung der beiden alten Frauen, und auf dem Zettel, den Tante Jenny, auch sie Überlebende der Schoa, in der Hand hält, stehen Auszüge aus ihrer Rede auf die Jubilarin. Sie endete mit dem Satz: "Meine Liebe wächst zu dir, wie auch deine Liebe zu mir wächst." Erst das hinzugefügte Bild rundet das Geschehen ab und zeigt, dass die Familie von Regina Eisenstein größere Erwartungen an sie hat als bloße Stärke. So funktionieren alle Bilder im Buch, und besonders der Comic, der die Ankunft der Eltern 1948 in Kanada genauso in Szene setzt wie Adolf Eichmanns von Simon Wiesenthal überliefertes Zitat "Einhundert Tote sind eine Katastrophe, eine Million nur eine Zahl". Da nicht sicher ist, dass Eichmann diesen Satz gesagt hat, setzt Bernice Eisenstein ihn als Denkblase über den Mann, der da beim Jerusalemer Prozess im Glaskasten sitzt. Sein Name wird nicht genannt, man muss ihn erkennen, um das Bild zu verstehen. So sprechen die Zeichnungen aus, was Bernice Eisenstein nicht sagen will.
Der Holocaust als Droge.
Darum ist die Kombination aus Text und Bild so wichtig für das Buch. Obwohl die Autorin durchaus kein Blatt vor den Mund nimmt. "Der Holocaust ist eine Droge", sagt sie gleich am Beginn, als sie sich daran erinnert, wie sie die ersten Fotos der Leichenberge aus den Konzentrationslagern sah. "In diesem Augenblick werde ich süchtig und stelle schnell fest, dass es endlos viele Dealer gibt, die mir immer noch einen Schuss geben, mir noch einmal Zutritt zu der halluzinogenen Geisterwelt verschaffen." So etwas darf nur das Kind von Überlebenden schreiben, das einen Teil seiner Faszination angesichts des Schreckens daraus ziehen kann, dass seine Eltern ihm glücklicherweise entkommen sind.
Der Zufall will es, dass nur wenige Monate vor Bernice Eisensteins Buch ein weiterer Versuch gemacht wurde, die Schoa in Bildern zu erzählen. Die Berliner Fotografin Digne M. Marcovicz hat die Erinnerungen von zwölf Überlebenden aufgezeichnet und diese nicht nur jeweils beim Erzählen fotografiert, sondern auch einige Orte mit der Kamera aufgesucht, über die berichtet wurde. Daraus hat Digne M. Marcovicz das Buch "Massel" (jiddisch für "Glück") zusammengestellt, eine Art Fotoprotokoll der zwölf Erinnerungen. Auf jeder Seite finden sich nur einige Sätze, denen aber sowohl dokumentarische wie erklärende Aufnahmen beigegeben sind - und natürlich die Porträts der jeweils berichtenden Zeugen. Es ist der Versuch, der oft als abstrakt empfundenen Geschichtsschreibung des Massenmordes individuelle Gesichter zu verleihen; der Band richtet sich vor allem an ein junges Publikum.
Keiner der von Marcovicz befragten zwölf Zeugen ist jünger als fünfundsiebzig, und einer von ihnen, der erstaunliche Jizschak Schwersenz, der im Zweiten Weltkrieg in Berlin ausharrte, um dort jüdische Kinder zu verstecken, ist kurz nach dem Gespräch gestorben. In diesem Wissen liest man seine Erinnerungen mit noch mehr Ergriffenheit, doch die meist knallbunten Fotos und das unruhige Layout der Seiten nehmen dem Erinnern die Wucht. Wie unendlich viel subtiler ist da das Buch von Bernice Eisenstein - bis hin zur allerletzten Seite, zum Vorsatzpapier also, das oben am Rand ausgerissen ist. Es ist eine alte jüdische Tradition, zu Ehren Gottes einen kleinen Mangel ins Menschenwerk einzubauen, denn nur Gott ist perfekt. Das Buch von Bernice Eisenstein war nahe daran.
- Bernice Eisenstein: "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden". Aus dem Englischen übersetzt von Henriette Heise. Berlin Verlag, Berlin 2007. 191 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
- Digne M. Marcovicz: "Massel". Letzte Zeugen. Hanser Verlag, München 2007. 379 S., Abb., br., 24,90 [Euro].
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"Ein herausragendes Buch -atemberaubend schön, herzzerreißendaufrichtig." - ALLAN GOULD.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Manuel Gogos zählt Bernice Eisensteins außergewöhnliches autobiografisches Buch "Ich war das Kind von Holocaust-Überlebenden" nicht zur sogenannten Auschwitz-Literatur. Gleichwohl sieht er das Werk, das für ihn Vaterbuch, Familienroman von Holocaust-Überlebenden und Einwanderungsroman gleichermaßen ist, über ein "Verweissystem aus ererbten Metaphern" mit den Erinnerungsbüchern von Holocaust-Überlebenden wie Primo Levi oder Elie Wiesel verbunden. Er hebt die unkonventionellen Illustrationen der Autorin hervor, die dem Buch die "Anmutung eines Kinderbuchs" verleihen. Den Text selbst, die Erinnerungen an den Vater, die Phantasien der Tochter, die sich ausmalt wie dieser Westernfilmheld mit der Nazibrut abrechnet, ihre obsessive Beschäftigung mit der Nazizeit, zeichnet sich für Gogos durch seine "eigentümliche Orginalität" aus. Er hebt in diesem Zusammenhang Eisensteins besondere Mischung aus "entwaffnender Naivität, skurrilen Phantasien und schlagkräftigem Sarkasmus" hervor. Bisweilen fühlt er sich dabei an Art Spiegelmans Maus-Comics erinnert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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