Millicent King ist 13 Jahre alt, als sie beginnt, Tagebuch zu schreiben, und über 90, als sie mit dem Schreiben aufhört. Geboren 1901, wächst sie mit sechs Geschwistern im Süden Londons auf, wird nach dem Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg Verkäuferin, um ihre Familie mit zu ernähren. Später studiert sie, wird Lehrerin, geht als Erzieherin nach Italien und ist danach als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebt ihr Leben allein, sie hat ihre Liebhaber, lehnt aber Heiratsanträge ab. Doch dann kommt der Zweite Weltkrieg, und wieder ändert sich ihr Leben ... Mit diesem fiktiven Tagebuch der Millicent King schildert die englische Autorin Margaret Forster ein außergewöhnliches Frauenleben, das das gesamte 20. Jahrhundert umspannt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2005Lebe lieber eigensinnig
Exemplarisch: Margaret Forsters Tagebücher der Millicent King
Die ersten Eintragungen in diesem Tagebuch sind aus dem Ersten Weltkrieg, da ist Millicent King dreizehn Jahre alt. Die ältere Schwester pflegt Verwundete, der Bruder George kommt verletzt und für immer schwer gestört von der Front zurück. Wenige Jahre nach Kriegsende stirbt der Vater an einer Lungenentzündung. Die Familie gerät in Not; das Haus im Süden Londons muß verkauft werden. Millicent, die dritte von sieben Geschwistern, gibt ihre Pläne, aufs College zu gehen, auf und wird Verkäuferin. Ein schlechter Start für ihr Leben, das etwas Besonderes werden sollte.
Doch das Schicksal wendet sich: Die Mutter heiratet einen wohlhabenden Arzt und zieht mit den jüngeren Kindern nach Brighton. Millicent bekommt ein Stipendium, wird Lehrerin und belegt nebenbei Kurse für Sozialarbeiter. Sie kauft sich ein Fahrrad, schneidet sich die Haare ab als Zeichen ihrer Emanzipation und fährt allein nach Paris.
Der deutsche Titel des neuen Buchs von Margaret Forster, "Ich warte darauf, daß etwas geschieht", ist irreführend. Denn Millicent läßt sich keineswegs passiv treiben, sie ergreift Chancen, wo sie sich ihr bieten. Als Privatlehrerin eines reichen Mädchens lernt sie Italien kennen und sieht dort die ersten bedrohlichen Zeichen des Faschismus.
Der englische Titel "Diary of an Ordinary Woman" trifft aber auch nicht zu. Denn wenn Millicent auch nichts Sensationelles erlebt, eine "gewöhnliche" oder durchschnittliche Frau ist sie ganz und gar nicht. Als sie in ihrem Lehrerberuf nicht mehr zufrieden ist, wagt sie einen Wechsel. Sozialarbeit oder Journalismus - in beiden Berufen gewinnt sie Einblick in die Probleme der englischen Gesellschaft, erlebt Arbeitslosigkeit und Elend. Ihr scharfer Verstand macht es ihr schwer, sich zwischen ihren Liebhabern zu entscheiden. Schließlich erlebt sie die große Liebe zu einem verheirateten Mann, lebt ungeachtet der Mißbilligung ihrer Umgebung mit ihm zusammen. Im Zweiten Weltkrieg kommt dieser Mann in japanischer Gefangenschaft auf gräßliche Weise ums Leben.
Dieser Krieg wird für Millicent zur großen Zäsur. Sie fährt Kranken- und Lastwagen für die Armee und kümmert sich um Verwundete und Evakuierte. Und obwohl sie sich als Pazifistin fühlt, entwickelt sie patriotische Gefühle. Doch als ihre Schwester bei einem Luftangriff mit den beiden ältesten Kindern von einer Bombe getötet wird, nimmt sie die überlebenden jüngsten, die Zwillinge, zu sich und zieht mit ihnen aufs Land.
Ersatzmutter zu sein und damit die traditionelle Frauenrolle zu übernehmen hat sie sich nicht ausgesucht. Sie fühlt sich dazu aber verpflichtet und tut es gern: Sie wird gebraucht. Die Familie bildet nun wieder den Mittelpunkt ihres Lebens. Die verstörte jüngere Schwester flüchtet sich mit ihrem Kind zu ihr, Neffen und Nichten suchen ihren Rat, ihre beste Freundin erkrankt an Krebs und stirbt - Millicent ist für alle da.
Ein "gewöhnliches" Leben? Ein erfülltes auf jeden Fall. Millicent wollte immer auf eigenen Füßen stehen und ihren Interessen nachgehen. Noch in späten Jahren besucht sie Ferienkurse der Open University, beteiligt sich an Demonstrationen gegen Atombomben, sympathisiert mit feministischen Zielen. Und doch ist sie am Ende einsam und plagt sich mit Zweifeln, ob sie in ihrem langen Leben immer die richtigen Wege eingeschlagen hat. Die Tagebücher der Millicent King sind eine Chronik des vorigen Jahrhunderts mit seinen Kriegen und gesellschaftlichen Umbrüchen, dem Überleben in Tradition und zuverlässigen Werten, zu denen auch die Familie gehört.
Die Illusion, daß es sich hier um authentische Aufzeichnungen handelt, deren Herausgeberin sie ist, zerstört Margaret Forster erst am Schluß. Daß sie das Tagebuch der Millicent King als "Roman" bezeichnet, hätte allerdings schon von Anfang an stutzig machen können. Doch die kursiv gedruckten Einschübe der vorgetäuschten Herausgeberin, die den Text kommentiert und strafft, sind so überzeugend, daß Zweifel gar nicht aufkommen, zumal die Rahmengeschichte tatsächlich "echt" ist.
Millicent King existierte wirklich. Nach ihrem Tod wurde Margaret Forster von deren Nichte gebeten, die achtzig Tagebücher der Neunzigjährigen auf ihre Eignung für eine Veröffentlichung zu prüfen. Sie war dazu bereit, doch dann gab es Bedenken von seiten der Angehörigen Millicents. Margaret Forster wollte aber die Idee, gestützt auf authentische Selbstzeugnisse, ein exemplarisches Leben zu beschreiben, nicht aufgeben.
Der neue Roman setzt thematisch Margaret Forsters um Familie und Beruf kreisenden Bücher fort, in deren Mittelpunkt stets mehrere Generationen von Frauen stehen. Auch in Millicents Tagebuch gelingt es ihr, Sympathie für ihre Hauptfigur zu wecken und darüber hinaus ein realistisches Bild zu entwerfen von den Problemen unserer und ihrer Zeit.
MARIA FRISÉ
Margaret Forster: "Ich warte darauf, daß etwas geschieht". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Roseli und Saskia Bontjes van Beek. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2005. 589 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Exemplarisch: Margaret Forsters Tagebücher der Millicent King
Die ersten Eintragungen in diesem Tagebuch sind aus dem Ersten Weltkrieg, da ist Millicent King dreizehn Jahre alt. Die ältere Schwester pflegt Verwundete, der Bruder George kommt verletzt und für immer schwer gestört von der Front zurück. Wenige Jahre nach Kriegsende stirbt der Vater an einer Lungenentzündung. Die Familie gerät in Not; das Haus im Süden Londons muß verkauft werden. Millicent, die dritte von sieben Geschwistern, gibt ihre Pläne, aufs College zu gehen, auf und wird Verkäuferin. Ein schlechter Start für ihr Leben, das etwas Besonderes werden sollte.
Doch das Schicksal wendet sich: Die Mutter heiratet einen wohlhabenden Arzt und zieht mit den jüngeren Kindern nach Brighton. Millicent bekommt ein Stipendium, wird Lehrerin und belegt nebenbei Kurse für Sozialarbeiter. Sie kauft sich ein Fahrrad, schneidet sich die Haare ab als Zeichen ihrer Emanzipation und fährt allein nach Paris.
Der deutsche Titel des neuen Buchs von Margaret Forster, "Ich warte darauf, daß etwas geschieht", ist irreführend. Denn Millicent läßt sich keineswegs passiv treiben, sie ergreift Chancen, wo sie sich ihr bieten. Als Privatlehrerin eines reichen Mädchens lernt sie Italien kennen und sieht dort die ersten bedrohlichen Zeichen des Faschismus.
Der englische Titel "Diary of an Ordinary Woman" trifft aber auch nicht zu. Denn wenn Millicent auch nichts Sensationelles erlebt, eine "gewöhnliche" oder durchschnittliche Frau ist sie ganz und gar nicht. Als sie in ihrem Lehrerberuf nicht mehr zufrieden ist, wagt sie einen Wechsel. Sozialarbeit oder Journalismus - in beiden Berufen gewinnt sie Einblick in die Probleme der englischen Gesellschaft, erlebt Arbeitslosigkeit und Elend. Ihr scharfer Verstand macht es ihr schwer, sich zwischen ihren Liebhabern zu entscheiden. Schließlich erlebt sie die große Liebe zu einem verheirateten Mann, lebt ungeachtet der Mißbilligung ihrer Umgebung mit ihm zusammen. Im Zweiten Weltkrieg kommt dieser Mann in japanischer Gefangenschaft auf gräßliche Weise ums Leben.
Dieser Krieg wird für Millicent zur großen Zäsur. Sie fährt Kranken- und Lastwagen für die Armee und kümmert sich um Verwundete und Evakuierte. Und obwohl sie sich als Pazifistin fühlt, entwickelt sie patriotische Gefühle. Doch als ihre Schwester bei einem Luftangriff mit den beiden ältesten Kindern von einer Bombe getötet wird, nimmt sie die überlebenden jüngsten, die Zwillinge, zu sich und zieht mit ihnen aufs Land.
Ersatzmutter zu sein und damit die traditionelle Frauenrolle zu übernehmen hat sie sich nicht ausgesucht. Sie fühlt sich dazu aber verpflichtet und tut es gern: Sie wird gebraucht. Die Familie bildet nun wieder den Mittelpunkt ihres Lebens. Die verstörte jüngere Schwester flüchtet sich mit ihrem Kind zu ihr, Neffen und Nichten suchen ihren Rat, ihre beste Freundin erkrankt an Krebs und stirbt - Millicent ist für alle da.
Ein "gewöhnliches" Leben? Ein erfülltes auf jeden Fall. Millicent wollte immer auf eigenen Füßen stehen und ihren Interessen nachgehen. Noch in späten Jahren besucht sie Ferienkurse der Open University, beteiligt sich an Demonstrationen gegen Atombomben, sympathisiert mit feministischen Zielen. Und doch ist sie am Ende einsam und plagt sich mit Zweifeln, ob sie in ihrem langen Leben immer die richtigen Wege eingeschlagen hat. Die Tagebücher der Millicent King sind eine Chronik des vorigen Jahrhunderts mit seinen Kriegen und gesellschaftlichen Umbrüchen, dem Überleben in Tradition und zuverlässigen Werten, zu denen auch die Familie gehört.
Die Illusion, daß es sich hier um authentische Aufzeichnungen handelt, deren Herausgeberin sie ist, zerstört Margaret Forster erst am Schluß. Daß sie das Tagebuch der Millicent King als "Roman" bezeichnet, hätte allerdings schon von Anfang an stutzig machen können. Doch die kursiv gedruckten Einschübe der vorgetäuschten Herausgeberin, die den Text kommentiert und strafft, sind so überzeugend, daß Zweifel gar nicht aufkommen, zumal die Rahmengeschichte tatsächlich "echt" ist.
Millicent King existierte wirklich. Nach ihrem Tod wurde Margaret Forster von deren Nichte gebeten, die achtzig Tagebücher der Neunzigjährigen auf ihre Eignung für eine Veröffentlichung zu prüfen. Sie war dazu bereit, doch dann gab es Bedenken von seiten der Angehörigen Millicents. Margaret Forster wollte aber die Idee, gestützt auf authentische Selbstzeugnisse, ein exemplarisches Leben zu beschreiben, nicht aufgeben.
Der neue Roman setzt thematisch Margaret Forsters um Familie und Beruf kreisenden Bücher fort, in deren Mittelpunkt stets mehrere Generationen von Frauen stehen. Auch in Millicents Tagebuch gelingt es ihr, Sympathie für ihre Hauptfigur zu wecken und darüber hinaus ein realistisches Bild zu entwerfen von den Problemen unserer und ihrer Zeit.
MARIA FRISÉ
Margaret Forster: "Ich warte darauf, daß etwas geschieht". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Roseli und Saskia Bontjes van Beek. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2005. 589 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Barbara von Becker ist von der "kunstvollen Camouflage", die Margaret Forster mit ihrer fiktiven Biografie der Millicent King unternimmt, beeindruckt und bemerkt eingenommen, dass der britischen Autorin damit eine faszinierende "Chronik eines Frauenlebens" des vergangenen Jahrhunderts gelungen ist. Forster gibt sich in ihrem jüngsten Buch als Herausgeberin von achtzig Tagebüchern, die die 98-jährige Millicent zur Veröffentlichung freigibt und in denen eine Biografie zu Tage tritt, die als geradezu typisch für die Generation von Frauen scheint, die beide Weltkriege miterlebt haben. Insbesondere die "Ambivalenz" der Millicent King, die im Zweiten Weltkrieg einer Bomberstaffel angehörte, sich aber in der Nachkriegszeit auf eine traditionellere Rolle ohne "wirkliches emanzipatorisches Bewusstsein" festlegen lässt, lobt Becker als "authentisch", ebenso wie die "dokumentarische Präzision" dieser fiktiven Biografie. Forster verliere trotz der überzeugenden "Tagebuchprosa" ihren eigenen "literarischen Gestus" nicht, schwärmt die Rezensentin, die sich zudem freut, dass die "souveräne wie einfühlsame Übersetzung" von Roselie und Saskia Bontjes van Beek diese Qualität erhält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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