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Christian Lehnert ist ein Dichter, der sich Zeit läßt, einer, für den Zeit offenbar in einem ganz anderen Rhythmus verläuft. Das mag damit zusammenhängen, daß die Orte seiner Gedichte mit dem hiesigen Alltag zunächst wenig zu tun zu haben scheinen: es sind Orte der geschichtlichen Überlieferung, der Bibel, Orte in Palästina, im Nahen Osten, in Spanien - Stationen seines Lebenswegs, der den noch nicht 35jährigen von Sachsen aus in die Ferne führte und wieder zurück in einen kleinen Ort bei Dresden, wo Christian Lehnert heute als Pfarrer arbeitet. Lehnert hört "auf die Sätze, die aus der Stille…mehr

Produktbeschreibung
Christian Lehnert ist ein Dichter, der sich Zeit läßt, einer, für den Zeit offenbar in einem ganz anderen Rhythmus verläuft. Das mag damit zusammenhängen, daß die Orte seiner Gedichte mit dem hiesigen Alltag zunächst wenig zu tun zu haben scheinen: es sind Orte der geschichtlichen Überlieferung, der Bibel, Orte in Palästina, im Nahen Osten, in Spanien - Stationen seines Lebenswegs, der den noch nicht 35jährigen von Sachsen aus in die Ferne führte und wieder zurück in einen kleinen Ort bei Dresden, wo Christian Lehnert heute als Pfarrer arbeitet. Lehnert hört "auf die Sätze, die aus der Stille heraufsickern", er gibt dem Schläfer poetische Stimme, dem Soldaten, dem Physiker oder dem taubstummen Tänzer, besingt den Vulkan, die Autobahn, die Brache in einer Sprache äußerster Verdichtung, die nie auf Effekte aus ist.
Autorenporträt
Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen im Suhrkamp Verlag Gedichtbücher und Prosabände, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis für Nature Writing (2018).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004

In der Nacht eines Gottes, der nie war
Neue Gedichte von Christian Lehnert / Von Harald Hartung

Plötzlich, Mitte der neunziger Jahre, als ein für seine Skepsis bekannter Autor vom Blatt aufsieht, steht ein Engel im Zimmer: "Ein ganz gemeiner Engel, vermutlich unterste Charge." Er erscheint in Enzensbergers Gedicht "Die Visite" und belehrt uns, daß der Mensch nicht weiß, wie entbehrlich er ist. Der Dichter scheint unfähig zu reagieren: "Ich rührte mich nicht. Ich wartete, / bis er verschwunden war, schweigend." Er gehört einer Generation an, die sich an Benns Satz hielt, wonach Gott ein "schlechtes Stilprinzip" sei.

Solche thematischen Vorbehalte gelten für die jungen Autoren nicht mehr. Religiöse Motive erscheinen manchem von ihnen wieder interessant, ja dringlich. So dem Lyriker Christian Lehnert, Jahrgang 1969, der als Pfarrer bei Dresden lebt. Bisher hat er drei Bände vorgelegt: "Der gefesselte Sänger" (1997) handelt von den Altlasten der deutsch-deutschen Geschichte, den historischen "Bruchzonen" zwischen Auschwitz und Dresden. "Der Augen Aufgang" (2000) befragt im Bild der Wüste die Möglichkeit eines neuen Glaubens. "Finisterre" (2002) versteht sich im Sinne des alten Jakobswegs als Beginn einer Pilgerschaft.

Sein neues Buch schlägt in seinem Titel das Motiv der Verheißung an: "Ich werde sehen, schweigen und hören." Doch der emphatische Ton dieses Satzes relativiert sich, wenn man den gleichnamigen Zyklus liest, der Gartengedichte enthält. Wir lesen Verse über Tomatenpflanzen, über Salbei, Giersch und einen kranken Pfirsichbaum, über Sonnenblumen, Knoblauch, die Zaunwinde und den Nußbaum. Ist das ein Pfarrersgarten? Ist da wer tätig, munterer als Mörike? Angesichts der Tomatenpflanzen übt das lyrische Ich sich in Beschwörung: "Der Klang deiner Stimme düngt sie." Immerhin hat es zuvor die Pflanzen an Pfähle gebunden und das Unkraut um sie herum weggehackt. Der Dichter ist ein Sorgender. Er kümmert sich um den kranken Pfirsichbaum: "Ich lege meine Hand / in die Wunde am Stamm." Diese Geste läßt an den ungläubigen Thomas denken, ohne daß der Autor diesen Bezug weiter ausdeutet. Er sieht in der Natur die Zeichen des Leidens.

Die naturfromme Gartenidylle ist ein Ruhepunkt in Lehnerts Band. Ihr gehen Gedichte voraus, die das religiöse Motiv existentieller fassen. Sie beschwören "Nacht eines Gottes, der nie war" und sehen das Licht als "Schrift- und Hinrichtungszug" Richtung Golgatha. Die Gruppe "Begegnungen" schildert Gestalten in ihren persönlichen Problemen: den Soldaten oder den "Physiker in der Chipfabrik", aber auch den Autor, der gehetzt schreibt, und den Pfarrer, der nicht mehr weiß, was wird. Das anrührendste Gedicht ist "Patientin im Mehrbettzimmer eines Pflegeheims". Es endet mit den Zeilen: "Wieder versuche ich, / weil es sich so gehört, / eine der schneeweißen Kartoffeln zu essen." Im Dingsymbol der "weißen Kartoffeln" ist alles an Verzweiflung und Todesnähe enthalten.

Bleibt noch, das Schönste und Merkwürdigste dieses Bandes zu erwähnen, vier Paraphrasen auf protestantische Kirchenlieder. Das sind nicht etwa freie thematische Variationen, sondern Kontrafakturen, die dem strophischen Maß der Choräle und also auch den Melodien folgen. Eines beginnt: "Die Landschaft kippt, wird grauer, / ein nasser Wind, ein Schauer, / die Piste ragt ins All. / Verschüttet sind die Stollen, / die Erde treibt in Schollen: / du bist ihr warmer Widerhall." Wir lesen hier die skeptisch-tröstliche Variante von Paul Gerhardts Abendlied "Nun ruhen alle Wälder". Sage also niemand, Gott sei ein schlechtes Stilprinzip. Der Pfarrerssohn Benn war übrigens ein Liebhaber Paul Gerhardts. Pfarrer Lehnert erneuert ihn.

Christian Lehnert: "Ich werde sehen, schweigen und hören". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 102 S., br., 7,50 [Euro].

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