Spontan und schonungslos offen beschreibt Sarah Kirsch ihr Leben in der Wendezeit 1989/1990. Mit durchaus zwiespältigen Gefühlen: Einerseits genießt sie bewußt ihren selbstgewählten Rückzugsort in Tielenhemme "am Rande der Welt" - weitab vom Schuss sozusagen -, andererseits üben aber die dramatischen Nachrichten aus Funk und Fernsehen einen unwiderstehlichen Reiz zum Kommentar auf sie aus. Dabei wird das tagespolitische Geschehen in ihren Gedanken oft überlagert von der wachsenden Sorge um den Zustand der Natur, deren Veränderungen die studierte Biologin mit präzisen Beobachtungen wahrnimmt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Nils Kahlefendt meint, Sarah Kirsch lachen zu hören aus diesen Tagebuch-Einträgen. Kirschs Tagebücher von Herbst 1989 bis März 1990 haben es in sich, meint er. Da geht es zwar immer wieder vor allem auch um den Alltag am Deich mit Ziege und Esel (die es sogar ins Personenregister geschafft haben!), aber die Geschehnisse der Wende in Berlin lassen Kirsch nicht kalt, stellt Kahlefendt fest. Ob Kirsch Radio hört oder sie die Erinnerungen an Christa W. packen, die Autorin zeigt sich als "gnadenlose" Kommentatorin, staunt der Rezensent. Wie Kirsch mit der Rechtschreibung umspringt, ist allein schon die Lektüre wert, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2022Die Revolution erreicht Tielenhemme
Glücklich, wenn nichts Besonderes geschieht?
Eine Wiederbegegnung mit Sarah Kirsch in ihrem "Tagebuch der Wendezeit".
Keine Ekstase, nirgends. "Noldefarben" am Himmel, aus dem Radio der Seewetterbericht oder die Nachrichten des Deutschlandfunks, ein erster Kaffee. So ist es Sarah Kirsch am liebsten. Im Oktober 1989 notiert sie - in dieser Kladde nur mit links, sie will, dickköpfig, wie sie ist, beidhändig schreiben lernen - ihren idealtypischen Alltag: "Morgens wecken mich Zaunkönig und/oder Esel, ich füttere Hunde und Katzen, höre die 6-Uhr Nachrichten, dann Schattenboxen, mit Robert dann im Schnellgang 2 km spazieren [...] Dann etwas Post - ca. 2 Briewe um locker zu werden. Es folgt die richtige Arbeit. Bis 14°°h. Dann anderes, Garten- und Hausarbeiten. Wenn nix Besonderes ansteht. Ich bin sehr glücklich, wenn nix Besondres geschieht." Davon kann im Herbst 1989 keine Rede sein. Kirschs Tagebuch, herausgegeben und mit einem knappen Nachwort versehen von ihrem Sohn Moritz, umfasst ein halbes Jahr - es beginnt am 31. August 1989, dem astronomischen Herbstanfang, und endet am 18. März 1990, dem Tag der ersten freien Volkskammerwahlen, mit den Worten "Ich bin wütend". Die Allianz für Deutschland, das Wahlbündnis aus der ehemaligen Blockpartei CDU und den Neugründungen DSU und Demokratischer Aufbruch, hatte da gerade haushoch gewonnen.
Während das Land, das Sarah Kirsch oft spöttisch "Deutsche Demokratische DDDR" nennt, implodiert, lebt die nach Unterzeichnung der Biermann-Petition in den Westen ausgereiste Schriftstellerin von 1983 bis zu ihrem Tod gleichsam am Rande der Welt: im alten Schulhaus von Tielenhemme am Eiderdeich - zur Zeit des Tagebuchs mit Mann, Sohn und etwa zwei Dutzend tierischen Mitbewohnern, die im Anhang - noch vor dem Personenverzeichnis! - akribisch aufgelistet werden. Der Freund und Kollege Günter Kunert, der vierzig Autominuten entfernt in der Alten Dorfschule Kaisborstel wohnte, hatte das schleswig-holsteinische Idyll aufgetan. Für Arno Schmidt war das Leben am Rande der Lüneburger Heide einst eine Frage der geistigen Ökonomie und Gesundheit; sein Credo "Flachland und Nachschlagewerke" macht sich auch Kirsch zu eigen: "O dieses wunderbare mich umgebende beschützende Flachland mit diesem alten verständlichen Haus, den Rabenflügeln darüber am Morgen am Abend, dem ungebrochenen Wind, den stillen Maulwürfen." Zu normalen Zeiten kommt die lästige Realität allenfalls mit dem Postboten ins Haus, in Form unverlangter Bücher oder Manuskripte, das meiste "aus dem Papierkorbgebiet". In besonders hartnäckigen Fällen schickt Kirsch ihre erfundene Sekretärin Meta Mohaupt vor.
Gegen den Wendeherbst jedoch ist kein Kraut gewachsen: Dank Radio und Fernsehen reicht die DDR in jenen dramatischen Monaten oft bis Tielenhemme. Für Kirsch werden die Medien in Ost und West zum Suchtmittel, sie zappt sich hemmungslos durch die Programme. Das beginnt mit dem morgendlichen Deutschlandfunk-Klassiker "Aus Ostberliner Zeitungen" und hört bei Karl-Eduard von Schnitzlers ("Sudel-Ede") letztem "Schwarzen Kanal", Wolf Biermanns Konzert in einer kalten Leipziger Messehalle oder dem Ende von Nicolae und Elena Ceausescu in verzerrten Schwarz-Weiß-Bildern noch lange nicht auf. "Das Fernsehen", räsoniert Kirsch, "ist überhaupt wirklicher als die Wirklichkeit." Für die Kurzreise nach Hamburg packt sie sogar ihr TV-Gerät, die "Glasfresse", ein: "Wie ham die früher bloß Revolution ohne Radio und Fernsehen gemacht?"
Für die 1977 in den Westen gegangene Autorin ist die Sicht aufs "Ländchen" ambivalent: "Wird es was? Nobody knows. Und ich zweifle." Aber immer davon reden? "Gott wenn ich dort wäre hätte ich längst ein Leck und alles Adrenalin strömte aus mir heraus." Angesichts all der Runden Tische und endlosen Volkskammer-Debatten bekommen selbst Kirschs Katzen schlechte Laune. "Bloß gut, daß wir schon weck sint. Man würde sich schwarz ärgern, wäre man ein Landeskind da." Für Sarah Kirsch tragen diejenigen, die der DDR zu Tausenden den Rücken kehren ("Flichtlinge flichten immerfort"), mehr zum Zusammenbruch des Staatswesens bei als die spät, zu spät auf Abstand zu den SED-Oberen gehenden Intellektuellen. Doch angesichts der Hunderttausende, die am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz demonstrieren, darunter viele Ordner mit "Keine Gewalt"-Schärpen, zeigt sich eine andere, sehr verletzliche Sarah Kirsch: "Ach wer doch da mitordnen könnte, nur ein einziges Mal! Wie meine ich das denn? Wer weiß das?"
Eine Gebrochenheit, wie sie sich im Tagebuch auch exemplarisch in den Einträgen zur fremd gewordenen Freundin Christa Wolf wiederfindet. Hier wirft der Band Schlaglichter auf den bereits 2019 bei Suhrkamp publizierten Briefwechsel zwischen den beiden Autorinnen. Wer liest, wie gnadenlos Kirsch den SED-Austritt von Wolf im Oktober 1989 im Tagebuch kommentiert ("Sie brauchte wohl erst ihr eigenes China, ihre verhafteten zusammengeschlagenen Kinder. Jetzt geht es ihr besser."), wird sich über den endgültigen Bruch Anfang 1990 kaum wundern. Doch glüht in der abgelegenen, winterlichen Deister-Landschaft Kirschs noch immer jener Sommer 1975 nach, in dem in Neu Meteln, Mecklenburg, im Sommerhaus der Wolfs, so vieles möglich schien - und über den sowohl Sarah Kirsch ("Allerlei-Rauh", 1988) als auch Christa Wolf ("Sommerstück", 1989) später berühmt gewordene Bücher geschrieben haben. Im Tagebuch ist die einstige Unbekümmertheit zu ahnen - in einem snapshot selbdritt: "Christa war immer ne andere Welt als ich noch dort war. Ihre Bekannten waren nicht meine. Ihr Leben hab ich nie ganz toleriert. Bei Elke (gemein ist die Autorin Elke Erb, d. Red.) ging es ganz ohne Frage. Übereinstimmung a priori. Elke ist die Ziege, die übern Gebirgspaß kömmt - Christa die Kuh nun aufm Eis. Steckt fest. Was bin ich? O ich bin in diesem Zusammenhang ein hochmütiges Lama. Mit langen Wimpern."
Ihr Refugium verlässt Sarah Kirsch nur, wenn es unbedingt nötig ist: zu einer Lesereise nach Finnland auf Einladung des Goethe-Instituts etwa - die dem Tagebuch seine schwächsten Passagen beschert; ganz so, als wäre die Autorin in Gedanken bereits wieder in der größten DDR der Welt. Zum "Glatzenschneider" nach Heide. Oder wegen Katzenfutter und Menschenbutter in die Kaufhalle im zehn Kilometer entfernten Tellingstedt. Wenn Arno Schmidt und seine "Schule der Atheisten" hier grüßen lassen, ist das kein Zufall. Im Gegenteil: "Ich schreib was nach seinen alten Motiewen. Lebe ja sowieso schon wie er: Gänzlich abgeschieden abgeschnitten vom eitlen Pulsiern des Planeten. Mal sehn was mit Aarno's Hilfe entsteht. Reemtsmas brauche ich nicht, ich rauchte seit mehreren Jahren nicht mehr." Mit ihrer Tagebuch-Prosa, die per Fingerschnips alle Regeln der Rechtschreibung und Zeichensetzung außer Kraft setzt, robbt sich Kirsch ganz offensichtlich an ein längeres Stück heran. Kärrnerarbeit, diese "Prosafetzchen"; anderthalb Seiten dauern schnell eine Woche. Romane schafft man so nicht. Während viele ihrer Kollegen Kämpfe "auf dem Gebiet des Windmühlenwesens" austragen, rollt Sarah Kirsch einfach den Fels nach oben. Immer wieder. Uns scheint es fast, als hörten wir sie dabei lachen. "Niemand darf natürlich glauben was ich so sage", schreibt sie im Winter des Missvergnügens 1990 an einen britischen Germanisten. "Am wenigsten ich." NILS KAHLEFENDT
Sarah Kirsch:
"Ich will nicht mehr
höflich sein". Tagebuch aus der Wendezeit.
Hrsg. von Moritz Kirsch, mit einem Essay von Frank Trende. Edition Eichthal, Gammelby 2022. 263 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glücklich, wenn nichts Besonderes geschieht?
Eine Wiederbegegnung mit Sarah Kirsch in ihrem "Tagebuch der Wendezeit".
Keine Ekstase, nirgends. "Noldefarben" am Himmel, aus dem Radio der Seewetterbericht oder die Nachrichten des Deutschlandfunks, ein erster Kaffee. So ist es Sarah Kirsch am liebsten. Im Oktober 1989 notiert sie - in dieser Kladde nur mit links, sie will, dickköpfig, wie sie ist, beidhändig schreiben lernen - ihren idealtypischen Alltag: "Morgens wecken mich Zaunkönig und/oder Esel, ich füttere Hunde und Katzen, höre die 6-Uhr Nachrichten, dann Schattenboxen, mit Robert dann im Schnellgang 2 km spazieren [...] Dann etwas Post - ca. 2 Briewe um locker zu werden. Es folgt die richtige Arbeit. Bis 14°°h. Dann anderes, Garten- und Hausarbeiten. Wenn nix Besonderes ansteht. Ich bin sehr glücklich, wenn nix Besondres geschieht." Davon kann im Herbst 1989 keine Rede sein. Kirschs Tagebuch, herausgegeben und mit einem knappen Nachwort versehen von ihrem Sohn Moritz, umfasst ein halbes Jahr - es beginnt am 31. August 1989, dem astronomischen Herbstanfang, und endet am 18. März 1990, dem Tag der ersten freien Volkskammerwahlen, mit den Worten "Ich bin wütend". Die Allianz für Deutschland, das Wahlbündnis aus der ehemaligen Blockpartei CDU und den Neugründungen DSU und Demokratischer Aufbruch, hatte da gerade haushoch gewonnen.
Während das Land, das Sarah Kirsch oft spöttisch "Deutsche Demokratische DDDR" nennt, implodiert, lebt die nach Unterzeichnung der Biermann-Petition in den Westen ausgereiste Schriftstellerin von 1983 bis zu ihrem Tod gleichsam am Rande der Welt: im alten Schulhaus von Tielenhemme am Eiderdeich - zur Zeit des Tagebuchs mit Mann, Sohn und etwa zwei Dutzend tierischen Mitbewohnern, die im Anhang - noch vor dem Personenverzeichnis! - akribisch aufgelistet werden. Der Freund und Kollege Günter Kunert, der vierzig Autominuten entfernt in der Alten Dorfschule Kaisborstel wohnte, hatte das schleswig-holsteinische Idyll aufgetan. Für Arno Schmidt war das Leben am Rande der Lüneburger Heide einst eine Frage der geistigen Ökonomie und Gesundheit; sein Credo "Flachland und Nachschlagewerke" macht sich auch Kirsch zu eigen: "O dieses wunderbare mich umgebende beschützende Flachland mit diesem alten verständlichen Haus, den Rabenflügeln darüber am Morgen am Abend, dem ungebrochenen Wind, den stillen Maulwürfen." Zu normalen Zeiten kommt die lästige Realität allenfalls mit dem Postboten ins Haus, in Form unverlangter Bücher oder Manuskripte, das meiste "aus dem Papierkorbgebiet". In besonders hartnäckigen Fällen schickt Kirsch ihre erfundene Sekretärin Meta Mohaupt vor.
Gegen den Wendeherbst jedoch ist kein Kraut gewachsen: Dank Radio und Fernsehen reicht die DDR in jenen dramatischen Monaten oft bis Tielenhemme. Für Kirsch werden die Medien in Ost und West zum Suchtmittel, sie zappt sich hemmungslos durch die Programme. Das beginnt mit dem morgendlichen Deutschlandfunk-Klassiker "Aus Ostberliner Zeitungen" und hört bei Karl-Eduard von Schnitzlers ("Sudel-Ede") letztem "Schwarzen Kanal", Wolf Biermanns Konzert in einer kalten Leipziger Messehalle oder dem Ende von Nicolae und Elena Ceausescu in verzerrten Schwarz-Weiß-Bildern noch lange nicht auf. "Das Fernsehen", räsoniert Kirsch, "ist überhaupt wirklicher als die Wirklichkeit." Für die Kurzreise nach Hamburg packt sie sogar ihr TV-Gerät, die "Glasfresse", ein: "Wie ham die früher bloß Revolution ohne Radio und Fernsehen gemacht?"
Für die 1977 in den Westen gegangene Autorin ist die Sicht aufs "Ländchen" ambivalent: "Wird es was? Nobody knows. Und ich zweifle." Aber immer davon reden? "Gott wenn ich dort wäre hätte ich längst ein Leck und alles Adrenalin strömte aus mir heraus." Angesichts all der Runden Tische und endlosen Volkskammer-Debatten bekommen selbst Kirschs Katzen schlechte Laune. "Bloß gut, daß wir schon weck sint. Man würde sich schwarz ärgern, wäre man ein Landeskind da." Für Sarah Kirsch tragen diejenigen, die der DDR zu Tausenden den Rücken kehren ("Flichtlinge flichten immerfort"), mehr zum Zusammenbruch des Staatswesens bei als die spät, zu spät auf Abstand zu den SED-Oberen gehenden Intellektuellen. Doch angesichts der Hunderttausende, die am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz demonstrieren, darunter viele Ordner mit "Keine Gewalt"-Schärpen, zeigt sich eine andere, sehr verletzliche Sarah Kirsch: "Ach wer doch da mitordnen könnte, nur ein einziges Mal! Wie meine ich das denn? Wer weiß das?"
Eine Gebrochenheit, wie sie sich im Tagebuch auch exemplarisch in den Einträgen zur fremd gewordenen Freundin Christa Wolf wiederfindet. Hier wirft der Band Schlaglichter auf den bereits 2019 bei Suhrkamp publizierten Briefwechsel zwischen den beiden Autorinnen. Wer liest, wie gnadenlos Kirsch den SED-Austritt von Wolf im Oktober 1989 im Tagebuch kommentiert ("Sie brauchte wohl erst ihr eigenes China, ihre verhafteten zusammengeschlagenen Kinder. Jetzt geht es ihr besser."), wird sich über den endgültigen Bruch Anfang 1990 kaum wundern. Doch glüht in der abgelegenen, winterlichen Deister-Landschaft Kirschs noch immer jener Sommer 1975 nach, in dem in Neu Meteln, Mecklenburg, im Sommerhaus der Wolfs, so vieles möglich schien - und über den sowohl Sarah Kirsch ("Allerlei-Rauh", 1988) als auch Christa Wolf ("Sommerstück", 1989) später berühmt gewordene Bücher geschrieben haben. Im Tagebuch ist die einstige Unbekümmertheit zu ahnen - in einem snapshot selbdritt: "Christa war immer ne andere Welt als ich noch dort war. Ihre Bekannten waren nicht meine. Ihr Leben hab ich nie ganz toleriert. Bei Elke (gemein ist die Autorin Elke Erb, d. Red.) ging es ganz ohne Frage. Übereinstimmung a priori. Elke ist die Ziege, die übern Gebirgspaß kömmt - Christa die Kuh nun aufm Eis. Steckt fest. Was bin ich? O ich bin in diesem Zusammenhang ein hochmütiges Lama. Mit langen Wimpern."
Ihr Refugium verlässt Sarah Kirsch nur, wenn es unbedingt nötig ist: zu einer Lesereise nach Finnland auf Einladung des Goethe-Instituts etwa - die dem Tagebuch seine schwächsten Passagen beschert; ganz so, als wäre die Autorin in Gedanken bereits wieder in der größten DDR der Welt. Zum "Glatzenschneider" nach Heide. Oder wegen Katzenfutter und Menschenbutter in die Kaufhalle im zehn Kilometer entfernten Tellingstedt. Wenn Arno Schmidt und seine "Schule der Atheisten" hier grüßen lassen, ist das kein Zufall. Im Gegenteil: "Ich schreib was nach seinen alten Motiewen. Lebe ja sowieso schon wie er: Gänzlich abgeschieden abgeschnitten vom eitlen Pulsiern des Planeten. Mal sehn was mit Aarno's Hilfe entsteht. Reemtsmas brauche ich nicht, ich rauchte seit mehreren Jahren nicht mehr." Mit ihrer Tagebuch-Prosa, die per Fingerschnips alle Regeln der Rechtschreibung und Zeichensetzung außer Kraft setzt, robbt sich Kirsch ganz offensichtlich an ein längeres Stück heran. Kärrnerarbeit, diese "Prosafetzchen"; anderthalb Seiten dauern schnell eine Woche. Romane schafft man so nicht. Während viele ihrer Kollegen Kämpfe "auf dem Gebiet des Windmühlenwesens" austragen, rollt Sarah Kirsch einfach den Fels nach oben. Immer wieder. Uns scheint es fast, als hörten wir sie dabei lachen. "Niemand darf natürlich glauben was ich so sage", schreibt sie im Winter des Missvergnügens 1990 an einen britischen Germanisten. "Am wenigsten ich." NILS KAHLEFENDT
Sarah Kirsch:
"Ich will nicht mehr
höflich sein". Tagebuch aus der Wendezeit.
Hrsg. von Moritz Kirsch, mit einem Essay von Frank Trende. Edition Eichthal, Gammelby 2022. 263 S., geb., 28,- Euro.
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