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Der jüdische Romanist Victor Klemperer, Gelehrter von Weltruf, blieb, weil seine Auswanderungspläne scheiterten, in Nazi-Deutschland. Sein Überleben verdankt er der nichtjüdischen Ehefrau. "Für die Zeit danach" hielt er seinen Alltag fest, schrieb auf, was er sah und hörte: Gerüchte, Witze, Frontnachrichten. Immer erbärmlicher wurden die Bedingungen, unter denen er seiner Chronistenpflicht nachkam: Er litt an der zunehmenden Vereinsamung, an Hunger, an dem entwürdigenden Dasein im Judenhaus, aus dem ein Mitbewohner nach dem anderen verschwand.

Produktbeschreibung
Der jüdische Romanist Victor Klemperer, Gelehrter von Weltruf, blieb, weil seine Auswanderungspläne scheiterten, in Nazi-Deutschland. Sein Überleben verdankt er der nichtjüdischen Ehefrau. "Für die Zeit danach" hielt er seinen Alltag fest, schrieb auf, was er sah und hörte: Gerüchte, Witze, Frontnachrichten. Immer erbärmlicher wurden die Bedingungen, unter denen er seiner Chronistenpflicht nachkam: Er litt an der zunehmenden Vereinsamung, an Hunger, an dem entwürdigenden Dasein im Judenhaus, aus dem ein Mitbewohner nach dem anderen verschwand.
Autorenporträt
Victor Klemperer wurde 1881 in Landsberg/Warthe als achtes Kind eines Rabbiners geboren. 1890 übersiedelte die Familie nach Berlin, wo der Vater zweiter Prediger einer Reformgemeinde wurde. Er studierte von 1902 bis 1905 Philosophie, Romanistik und Germanistik in München, Genf, Paris, Berlin. Bis er 1912 das Studium in München wieder aufnahm, lebte er in Berlin als Journalist und Schriftsteller.
1940 erfolgte eine Zwangseinweisung in ein Dresdener Judenhaus. Nach seiner Flucht aus Dresden im Februar 1945 kehrte Klemperer im Juni aus Bayern nach Dresden zurück. 1950 wurde Abgeordneter des Kulturbundes in der Volkskammer der DDR und erhielt 1952 Nationalpreis III. Klasse. 1960 verstarb Victor Klemperer in Dresden.
Geschwister-Scholl-Preis 1995.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Spargel ist ein rein arisches Gemüse
Die Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer im Dritten Reich / Von Max Grosse

Den größten Leserkreis erreichte der Romanist Victor Klemperer durch ein Buch, das mehr mit seinem Leben als mit seinem angestammten Fachgebiet zu tun hat: Im Jahre 1947 erschien "LTI", "Notizbuch eines Philologen". Dabei steht die geheimnisvoll anmutende Chiffre für "Lingua tertii imperii". Der Titel parodiert den für die "Sprache des Dritten Reiches" typischen Abkürzungsfimmel und vollzieht damit bereits jene Kritik am nationalsozialistischen Jargon, auf die es Klemperer ankommt.

In seiner Bescheidenheit deutet der Untertitel an, daß zwei Jahre nach Kriegsende sämtliche Voraussetzungen für ein umfassendes sprachwissenschaftliches Werk über die zwölf Jahre faschistischer Herrschaft fehlen. Aber aus erzieherischen Gründen kann man auf eventuelle Vorarbeiten nicht lange warten. In seinen mit Tagebuchfragmenten durchsetzten Essays spießt Klemperer einzelne Schlagwörter wie "Gefolgschaft" oder das Adjektiv "fanatisch" auf, das Hitler ins Positive gekehrt hatte. Ferner stechen dem Sprachkritiker die Häufigkeit von Sport- und Maschinenmetaphern, die reklamehafte Übersteigerung der Propaganda und die Germanentümelei ins Auge, also beispielsweise die Wahl von Vornamen aus der Edda oder das Ersetzen christlicher Symbole durch sogenannte "Lebensrunen". Anders als im wilhelminischen Reich oder in der Weimarer Republik verhinderten die von oben verordneten Sprachregelungen weitgehend die Ausprägung von Individualstilen. Mit dem Nazi-Idiom bekämpft Klemperer die darin abgelagerte Denkweise. Er ist überzeugt, daß sich der "Geist" oder - im vorliegenden Falle - der Ungeist einer Epoche unmittelbar in ihrem Sprachgebrauch offenbart; in dieser Hinsicht bleibt er dem stiltypologischen und geistesgeschichtlichen Forschungsansatz seiner Lehrmeister Karl Vossler und Oskar Walzel verpflichtet.

Die Aura des Außerordentlichen wird der sprachkritischen Untersuchung allerdings erst durch ihr subjektives Moment zuteil. Die scharfen Beobachtungen speisen sich aus den bitteren Erfahrungen und den genauen Aufzeichnungen eines gerade noch einmal Davongekommenen. Als Jude in Deutschland überlebte Klemperer den Rassenwahn nur dank der treuen Hilfe seiner "arischen" Ehefrau Eva. Ablenkung von alltäglicher Qual und beständiger Lebensgefahr verschaffte er sich durch Lesen und Schreiben. In den ersten Jahren der Diktatur, als er noch Zugang zu Bibliotheken hatte, verfaßte er seine großangelegte "Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert", dann die 1989 aus dem Nachlaß veröffentlichte Autobiographie "Curriculum Vitae - Jugend um 1900".

Als Medium der Selbstreflexion diente ihm sein Tagebuch. Aus diesem fast unerschöpflichen Fundus bezieht er auch seine sprachkritischen Notizen, die dem jüngst vergangenen Alltag direkt abgelauscht sind. Im Eingangskapitel von "LTI" präsentiert sich der Wissenschaftler als Artist unter der Zirkuskuppel: "Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre." Später erscheint das Bild des Seiltänzers in neuem Licht, da Klemperer das feste Dogma einer Weltanschauung mit einem Leitseil vergleicht, "an dem man sich in jeder Lage festhalten kann, wenn die eigene Stimmung, das eigene Urteil, das eigene Gewissen ins Schwanken geraten". Am ideologischen Leitseil hangelt man sich gebeugt entlang, während der Balanceakt auf dem Hochseil den aufrechten Gang erfordert. Der Skeptiker und Agnostiker bewegt sich ohne Netz, ganz auf eigenes Risiko.

Fünfzig Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches ist Klemperers Balancierstange jetzt für die Nachgeborenen zu besichtigen, wenn auch nicht in voller Länge. Der Herausgeber Walter Nowojski hat Wiederholungen gestrichen, auf beigefügte Briefe und Exzerpte verzichtet. Das war wohl unvermeidlich, denn mit über 1500 Seiten reinem Text sind die beiden erschienenen Bände imposant genug.

Allein ihre Rettung grenzt an ein Wunder. Hätte die Gestapo das Tagebuch bei einer Haussuchung entdeckt, dann wären Klemperer, seine Frau und die mit ihnen befreundete Ärztin Annemarie Köhler, die die Manuskripte versteckt hielt, sofort in ein Lager verschleppt worden. Trotzdem mochte Klemperer von der bereits in der Jugend liebgewonnenen Gewohnheit des Tagebuchschreibens nicht lassen, auch wenn ihn die ethische Frage nach der Berechtigung seines Tuns ständig peinigte. Öfter fließt ihm der Spruch des Predigers Salomo aus der Feder, daß alles eitel sei. Doch in solchen Augenblicken der Niedergeschlagenheit besinnt er sich auf das einzige Privileg, das der völlig Rechtlose noch beanspruchen kann: "Aber ich schreibe weiter. Das ist mein Heldentum. Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis!"

Gewiß wirkt die Auflistung jener Banalitäten, welche jeden Alltag ausmachen, auch der in einer Extremsituation durchlittenen, manchmal ermüdend: Kartoffelholen, Versorgung der Katzen, schmerzhafte Zahnbehandlungen, finanzielle Sorgen. Außerdem hatte Klemperer die meisten der besonders einprägsamen Porträts und Episoden schon in "LTI" verwertet. Nur schrieb er den Essayband nach Kriegsende aus der Rückschau und bündelte die früheren Notizen zur Synthese. Im Vergleich dazu machen nicht Ausführlichkeit, Unmittelbarkeit oder Gefährlichkeit die Faszinationskraft und den dokumentarischen Wert des Tagebuches aus, sondern sein offener Zeithorizont, das ständige Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Erwartung und Enttäuschung. Angesichts einer unvorhersehbaren, sich bis ins Frühjahr 1945 ständig verdüsternden Zukunft wird man nicht mit fertigen Einsichten konfrontiert, vielmehr kann man Tag für Tag, Jahr für Jahr die Erfahrungen und Erkenntnisprozesse des Autors nachvollziehen.

Zwar hatte Klemperer den verbrecherischen Charakter des Nazi-Regimes schon bei dessen "Machtergreifung" durchschaut. An Auswanderung dachte er jedoch auch dann nicht ernsthaft, als viele seiner Angehörigen - wie etwa sein berühmter Vetter, der Dirigent Otto Klemperer - Deutschland verließen, weil sie als Juden immer mehr drangsaliert wurden. Victor Klemperer wollte sich die von den Nazis propagierte Feindschaft zwischen Juden und Deutschen nicht aufzwingen lassen. Der Sohn eines Reformrabbiners fühlte sich ganz selbstverständlich als deutscher Protestant und Patriot; dem Zionismus begegnete er mit schroffer Ablehnung, der mystischen Frömmigkeit der Ostjuden mit achselzuckendem Unverständnis.

An das Gelingen der Assimilation hatte er wie viele Angehörige einer Generation, die an den Fronten des Ersten Weltkriegs das endgültige Aufgehen in der deutschen Nation meinte erfahren zu haben, lange geglaubt. Als wissenschaftlicher Vertreter der "Kulturkunde" hatte er "Franzosentum" und "Deutschtum" ihrem "Wesen" nach einander gegenübergestellt. Durch die nationalsozialistische Stigmatisierung des Judentums lösen sich vor Klemperers Augen all die festumrissenen Identitäten auf, welche der damalige Sprachgebrauch in den Endungen auf "-tum" hatte erstarren lassen: "Meine Prinzipien über das Deutschtum und die verschiedenen Nationalitäten sind ins Wackeln geraten wie die Zähne eines alten Mannes."

Die Kette der Verbote und Schikanen wurde immer enger um Klemperer geschlungen: Erst die Isolierung im Kollegenkreis und das Sinken der Studentenzahlen in seinen Vorlesungen an der Universität Dresden, dann der Verlust des Lehrstuhls, das Bibliotheksverbot, der Zwang, mit "Victor-Israel" zu unterzeichnen, die Aufgabe des Autos, die Vertreibung aus dem eigenen in ein "Judenhaus", der gelbe Stern, die nächtliche Sperrstunde, das Gefängnis wegen eines einmaligen Verstoßes gegen die Verdunkelungsvorschriften, die Arbeitseinsätze, die pogromartigen Haussuchungen, die Mißhandlung durch die berüchtigten Dresdner Gestapo-Schergen Weser den "Spucker" und Clemens den "Schläger".

Daneben "tausend Mückenstiche": das Telefonverbot, das Rauchverbot, das Kuchenverbot, das Haustierverbot, das Blumenverbot, das Verbot, öffentliche Verkehrsmittel außer auf längeren Wegen zur Arbeit zu benutzen, das Verbot, "Mangelware" zu erwerben, zu besitzen, zu verzehren: "Wir brachten Seliksohns, von denen wir Kartoffeln erhofften - diesmal leider vergeblich -, Spargel mit, 175 Gramm. Eva trug sie, denn es ist rein arisches Gemüse und brächte einen jüdischen Träger auf die Gestapo und ins Gefängnis." Eine Tomate, ein Bund Radieschen, ein halbes Pfund Fisch sind lebensgefährlich.

Aus Gerüchten und Todesnachrichten sickern allmählich die Namen der Schreckensorte in das Tagebuch ein: Dachau, Buchenwald, Theresienstadt und schließlich "Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien". Daß Klemperer nicht dorthin deportiert wurde, verdankte er nur dem allgemeinen Chaos, das nach den Dresdner Bombennächten vom 13. und 14. Februar 1945 ausbrach. Seine Frau entfernte den Stern von seinem Mantel, und das Ehepaar floh über das Vogtland nach Bayern. Die vorliegende Edition endet mit der glücklichen Rückkehr in das eigene Haus im Juni 1945.

Klemperer beschreibt nicht nur pointiert und beobachtet genau, der Literaturhistoriker sucht auch immer wieder nach Analogien für seine Lage. Aber ob er nun an die Gesetze zur Blutreinheit im Spanien des 15. Jahrhunderts denkt, an den französischen Dichter André Chénier, der noch zwei Tage vor dem Ende der jakobinischen Schreckensherrschaft das Schafott bestieg, an den mittelalterlichen Mythos vom Rad der Fortuna oder an Odysseus beim menschenfressenden Zyklopen Polyphem: Mehr oder weniger hinken die Vergleiche zur Verknüpfung von "Zoologie + Geschäft", zur industriell organisierten Grausamkeit immer.

Was die Zustimmung der Bevölkerung zum Terror betrifft, so empfängt Klemperer bei seiner Eingeweideschau des Dritten Reiches widersprüchliche Zeichen: Mal wird er angepöbelt, mal ausgesucht freundlich von Wildfremden gegrüßt, beides wegen seines Sterns. Im Tagebuch entfaltet er den ganzen moralischen Fächer zwischen Schwarz und Weiß, blättert vor uns Verhaltensweisen aller Grautöne und Schattierungen auf.

Victor Klemperer: "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933- 45". Herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Aufbau Verlag, Berlin 1995, 1692 S., geb., 98,- DM.

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