In den Begleitumständen, dem Bericht von seinen Erfahrungen als Schriftsteller in Ost wie West, schildert Uwe Johnson das Scheitern eines 1963 in Angriff genommenen Buches. In ihm wollte er die Arbeit von Fluchthelfern dokumentieren. Deshalb führte er mit den Mitgliedern der Gruppe Girrmann (diese half nach dem Mauerbau annähernd 1000 Menschen, die DDR zu verlassen) Gespräche über dasWarum und Wie ihrer Arbeit. Diese Unterredungen wurden auf Tonband aufgezeichnet, das Projekt von Johnson jedochabgebrochen. In den Begleitumständen erklärt er lapidar: »Ja - die Tonbänder sind gelöscht.« Hier irrte Uwe Johnson: Die insgesamt fünfstündigen Interviews mit Detlef Girrmann und Dieter Thieme haben sich erhalten, da Johnson sie ihnen zurückgab. Ihre Transkription wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. Nun ist exemplarisch zu verfolgen, wie der Genauigkeitsfanatiker die Fakten erhebt, die er in sein Erzählen verwebt; es ist nachzulesen, was ihn amTun der Fluchthelfer beschäftigt. Zugleich wird, ebenfalls zum ersten Mal, die Tätigkeit dieser Personen aus der Innenperspektive geschildert. Sie berichten,wie die Gruppe sich zusammenfand, erzählen von ihren Absichten, ihren Methoden, Menschen aus der DDR zu schleusen, ihrer Haltung zur DDR und zur BRD, von ihren Siegen und Niederlagen - geleitet von den Fragen des neugierigen Reporter-Schriftstellers.
Uwe Johnson, geboren am 20. Juli 1934 in Kamien Pomorski im heutigen Polen, starb vermutlich in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea. SeinWerk erscheint im Suhrkamp Verlag.
Uwe Johnson, geboren am 20. Juli 1934 in Kamien Pomorski im heutigen Polen, starb vermutlich in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea. SeinWerk erscheint im Suhrkamp Verlag.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2010Von der Lockerung der Wangenmuskeln
Nachrichten aus der Frontstadt Berlin: Die nun lesbar gemachten Gespräche Uwe Johnsons mit Flüchtlingen aus der DDR sind ein bemerkenswertes Werk aus den Fernen der Erinnerung.
Von Gerhard Schulz
Ich möchte eben keine Frage ausgelassen haben", erläutert Uwe Johnson. Es ist Anfang 1963, im Dachgeschoss einer Wohnung irgendwo im Westen Berlins, das zu dieser Zeit eine hektisch gespannte, politisch geteilte Stadt ist. Dort versucht er mit Fragen einzufangen, was für ihn selbst zu Unsicherheit und Verwirrung geworden ist.
Mit seinem ersten Roman, den "Mutmaßungen über Jakob", war Johnson gerade erst aus der relativen Ruhe und Ordnung seines mecklenburgischen Landdaseins in die Turbulenz der deutschen Metropole Berlin umgesiedelt - selbst Flüchtling, ob er es nun so nennen wollte oder nicht. Und dort nun suchte er etwas von der Ruhe und Ordnung wiederzufinden, die er eben erst freiwillig aufgegeben hatte. Aber was diese beiden Begriffe konkret bedeuten konnten zwei Jahre nach der Errichtung der Mauer in der geteilten und von Hitlers Krieg weithin zerstörten ehemaligen Hauptstadt des gleichfalls geteilten Landes, wandelte sich von Ort zu Ort und Mensch zu Mensch. Nun war auch er erfasst von dem Bedürfnis, Sinn zu finden in der Geschichte und Entscheidungen zu treffen, wo ihm vielleicht ruhiges Verstehen genügt hätte.
Das Aroma der Großstadt.
Uwe Johnson starb 1984. Was jetzt, sechsundzwanzig Jahre nach seinem Tod, als Dokumentation über und von ihm erscheint, liegt allerdings noch weiter, um fast fünfzig Jahre, zurück. Es sind Geschichten aus dem Berlin der sechziger Jahre, die er von zwei Gesprächspartnern erfragt - alles ist inzwischen längst Vergangenheit. Dieter Thieme, einer dieser Partner, ist vor wenigen Wochen einundachtzigjährig gestorben, der andere, gleichaltrige Detlef Girrmann hatte sich kurz vorher und gerade noch rechtzeitig mit Thieme, dem Freund von einst, zusammengetan und gemeinsam bemüht, das Protokoll der fast ein halbes Jahrhundert alten und erst vor kurzem wiedergefundenen Gespräche mit Uwe Johnson lesbar zu machen und als ein Stück Vergangenheit vorzuführen und zu edieren.
Letzteres bedeutete, das einstmals Aufgezeichnete für die Jüngeren, die Kinder und Kindeskinder lesbar und verstehbar zu machen, denn sie sind die eigentlichen Adressaten dieser Dokumente. Vielleicht ist es allerdings für sie dennoch nur halbwegs verstehbar, denn was an Benzin- und Tabaksgeruch, an Großstadtaroma, Angst, Terror, Sehnsüchten und einer ungezügelten Lebenslust trotz alledem aus diesen Gesprächen immer noch aufsteigt, wird wahrscheinlich nur von denen deutlicher wahrnehmbar sein, die mit Frager und Befragten ein Stück Leben geteilt haben. Es riecht heute beträchtlich anders in Berlin, der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, als vor fünfzig oder sechzig Jahren.
Eine weitere Einschränkung ist zu machen: Geschichte und Literatur ergänzen einander wohl, aber unterscheiden sich auch fundamental in dem, was sie mitteilen wollen und können. Geschichte ereignet sich um und mit uns. Literatur ist das Resultat produktiver Einbildungskraft, ist Erzählung von Einzelnen aus ihrer besonderen Perspektive. Davon enthält dieses Buch aus den Fernen der Erinnerung allerdings Bemerkenswertes.
In langen, ausführlichen Gesprächen - zumeist sehr aufmerksamen, oft leidenschaftlichen, aber immer disziplinierten, ja verhaltenen Befragungen - versucht Johnson auf fast zweihundert Seiten, von seinen zwei Zeugen in großem Detail etwas von jener Wirklichkeit zu erfahren, die ihm selbst erspart geblieben ist: von deren Existenz im sogenannten "realen" Sozialismus des DDR-Regimes und von den Schwierigkeiten, ein verantwortungsvolles Leben in diesen Bedingungen zu führen. Erst ein Prosatext von ihm, eine Erzählung, die sich die Freiheiten der Poesie erlaubt, ohne die Verpflichtung zu historischer Genauigkeit aufzugeben, gibt ihm dann die Gelegenheit, zu sich selbst zu kommen. Ein spätes Werk Johnsons wird uns auf diese Weise und in dieser Form geschenkt.
Es kann sein, dass der Titel dieses Buches "Eine Kneipe geht verloren" zur Unterschätzung von Stoff wie Thema verführt, denn Berliner Kneipenpoesie ist Johnsons Prosa bei manchen Anklängen an die Milieukunst der Naturalisten eben doch nicht. Dialekt und Jargon treiben darin wie sonst auch bei Johnson keine Blüten, sondern sind höchsten da und dort verhaltene Signale, Farbtupfer für diejenigen, die ein Auge dafür haben.
Aber die "Frontstadt" West-Berlin erhält immerhin ein Gesicht mit den "Autos, die in der Woche einander durch die Stadt rempelten". Aber die Ei-Blas-Methode für die Stempelfälschung bewegt sich noch in der Nähe von Studentenulk, während die "kriegsgefährliche Linie, die in vier, fünf, acht Kilometern Entfernung um die Weststadt zugezogen und befestigt wurde" nicht nur die junge Wirtin der Kneipe "Au weia!" sagen lässt, sondern den Text insgesamt mit dem kalten Schauder überall vorhandener Gewalt überzieht.
Denn Uwe Johnson erzählt genau, wie das damals zuging, als 1961 Ulbricht und die Sowjets die Grenzen schlossen und nun junge Leute, "ohne sich in unnütze Risiken hetzen zu lassen", den Widerspruch versuchten gegen die Macht des Ostens, abenteuerlich, hartnäckig, aber oft genug auch ungeschickt, riskant, und nicht selten sich selbst verletzend, denn es wurde sehr bald klar, "dass der ostdeutsche Staat das Besitzrecht an seinen Bürgern nicht mit der linken Hand verteidigte".
So steigt in Johnsons Text aus den scheinbar harmlosen, manchmal komischen, manchmal läppischen Kleinigkeiten des Alltags allmählich das Drohende dieser Frontstadt und des Lebens darin auf. Denn das ist das Faszinierende an diesem geretteten und bewahrten Text Johnsons, dass aus dem Beiläufigen, Alltäglichen, scheinbar Unbedeutenden über und unter allem die Angst hervorwächst, gegründet auf nichts anderem als der menschlichen Schwäche jeder Gewalt gegenüber mit all ihren Erscheinungsformen der Versuchung. Resultat ist am Ende überall und immer wieder die Zerstörung gesitteten, also humanen Verhaltens. Da hat sich über die Jahrzehnte hinweg nicht viel geändert, nur dass sich die Schwerpunkte verschoben haben und die Beulen des Übels an anderen Stellen der Erde aufplatzen.
Ständige Versuchung zum Verrat.
Uwe Johnson erzählt in seinem Prosastück verhalten und genau, wie aus Schwäche Verräter werden, wie Freunde preisgegeben wurden, wie auf gut und echt Johnsonisch "Wangenmuskeln locker geworden waren von Ausdrücken der Zuneigung und Treue". So distanziert Johnson mit verhaltenem Witz die beständige Versuchung zur Nachgiebigkeit und zum Verrat in Zeiten der Gewalt. Johnsons Erzählung von der Kneipe, die verlorengeht, ist ein eindrucksvolles, deutlich und detailgenau erzähltes Stück über menschliche Korrumpierbarkeit, Schwäche und Angst, aber ebenso auch eines über Mut und den entschiedenen Wunsch, unabhängig und frei zu sein.
Denn beides bietet Johnsons knappe, kontrollierte und sorgfältig kalkulierte Prosa an. Und es ist, wie sich bald zeigt, ein Stück auch über sein eigenes Leben und über manche Gründe für seinen frühen Tod, als er nicht mehr leicht und locker über die schwache Kraft von Zuneigung und Treue spotten konnte. Ebenso aber ist es ein Stück über deutsche Geschichte, gestern und selbst heute, wozu man diese Erzählung freilich sehr aufmerksam lesen muss.
Es ist jedenfalls ein Buch, für das wir allen denen dankbar sein müssen, die es mit viel Mühe und der Verantwortlichkeit vor jener Erfahrung möglich gemacht haben, die sie ganz persönlich und oft schmerzhaft mit der Geschichte gemacht hatten.
Uwe Johnson: "Ich wollte keine Frage ausgelassen haben". Gespräche mit Fluchthelfern. Herausgegeben von Burkhard Veigel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 245 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachrichten aus der Frontstadt Berlin: Die nun lesbar gemachten Gespräche Uwe Johnsons mit Flüchtlingen aus der DDR sind ein bemerkenswertes Werk aus den Fernen der Erinnerung.
Von Gerhard Schulz
Ich möchte eben keine Frage ausgelassen haben", erläutert Uwe Johnson. Es ist Anfang 1963, im Dachgeschoss einer Wohnung irgendwo im Westen Berlins, das zu dieser Zeit eine hektisch gespannte, politisch geteilte Stadt ist. Dort versucht er mit Fragen einzufangen, was für ihn selbst zu Unsicherheit und Verwirrung geworden ist.
Mit seinem ersten Roman, den "Mutmaßungen über Jakob", war Johnson gerade erst aus der relativen Ruhe und Ordnung seines mecklenburgischen Landdaseins in die Turbulenz der deutschen Metropole Berlin umgesiedelt - selbst Flüchtling, ob er es nun so nennen wollte oder nicht. Und dort nun suchte er etwas von der Ruhe und Ordnung wiederzufinden, die er eben erst freiwillig aufgegeben hatte. Aber was diese beiden Begriffe konkret bedeuten konnten zwei Jahre nach der Errichtung der Mauer in der geteilten und von Hitlers Krieg weithin zerstörten ehemaligen Hauptstadt des gleichfalls geteilten Landes, wandelte sich von Ort zu Ort und Mensch zu Mensch. Nun war auch er erfasst von dem Bedürfnis, Sinn zu finden in der Geschichte und Entscheidungen zu treffen, wo ihm vielleicht ruhiges Verstehen genügt hätte.
Das Aroma der Großstadt.
Uwe Johnson starb 1984. Was jetzt, sechsundzwanzig Jahre nach seinem Tod, als Dokumentation über und von ihm erscheint, liegt allerdings noch weiter, um fast fünfzig Jahre, zurück. Es sind Geschichten aus dem Berlin der sechziger Jahre, die er von zwei Gesprächspartnern erfragt - alles ist inzwischen längst Vergangenheit. Dieter Thieme, einer dieser Partner, ist vor wenigen Wochen einundachtzigjährig gestorben, der andere, gleichaltrige Detlef Girrmann hatte sich kurz vorher und gerade noch rechtzeitig mit Thieme, dem Freund von einst, zusammengetan und gemeinsam bemüht, das Protokoll der fast ein halbes Jahrhundert alten und erst vor kurzem wiedergefundenen Gespräche mit Uwe Johnson lesbar zu machen und als ein Stück Vergangenheit vorzuführen und zu edieren.
Letzteres bedeutete, das einstmals Aufgezeichnete für die Jüngeren, die Kinder und Kindeskinder lesbar und verstehbar zu machen, denn sie sind die eigentlichen Adressaten dieser Dokumente. Vielleicht ist es allerdings für sie dennoch nur halbwegs verstehbar, denn was an Benzin- und Tabaksgeruch, an Großstadtaroma, Angst, Terror, Sehnsüchten und einer ungezügelten Lebenslust trotz alledem aus diesen Gesprächen immer noch aufsteigt, wird wahrscheinlich nur von denen deutlicher wahrnehmbar sein, die mit Frager und Befragten ein Stück Leben geteilt haben. Es riecht heute beträchtlich anders in Berlin, der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, als vor fünfzig oder sechzig Jahren.
Eine weitere Einschränkung ist zu machen: Geschichte und Literatur ergänzen einander wohl, aber unterscheiden sich auch fundamental in dem, was sie mitteilen wollen und können. Geschichte ereignet sich um und mit uns. Literatur ist das Resultat produktiver Einbildungskraft, ist Erzählung von Einzelnen aus ihrer besonderen Perspektive. Davon enthält dieses Buch aus den Fernen der Erinnerung allerdings Bemerkenswertes.
In langen, ausführlichen Gesprächen - zumeist sehr aufmerksamen, oft leidenschaftlichen, aber immer disziplinierten, ja verhaltenen Befragungen - versucht Johnson auf fast zweihundert Seiten, von seinen zwei Zeugen in großem Detail etwas von jener Wirklichkeit zu erfahren, die ihm selbst erspart geblieben ist: von deren Existenz im sogenannten "realen" Sozialismus des DDR-Regimes und von den Schwierigkeiten, ein verantwortungsvolles Leben in diesen Bedingungen zu führen. Erst ein Prosatext von ihm, eine Erzählung, die sich die Freiheiten der Poesie erlaubt, ohne die Verpflichtung zu historischer Genauigkeit aufzugeben, gibt ihm dann die Gelegenheit, zu sich selbst zu kommen. Ein spätes Werk Johnsons wird uns auf diese Weise und in dieser Form geschenkt.
Es kann sein, dass der Titel dieses Buches "Eine Kneipe geht verloren" zur Unterschätzung von Stoff wie Thema verführt, denn Berliner Kneipenpoesie ist Johnsons Prosa bei manchen Anklängen an die Milieukunst der Naturalisten eben doch nicht. Dialekt und Jargon treiben darin wie sonst auch bei Johnson keine Blüten, sondern sind höchsten da und dort verhaltene Signale, Farbtupfer für diejenigen, die ein Auge dafür haben.
Aber die "Frontstadt" West-Berlin erhält immerhin ein Gesicht mit den "Autos, die in der Woche einander durch die Stadt rempelten". Aber die Ei-Blas-Methode für die Stempelfälschung bewegt sich noch in der Nähe von Studentenulk, während die "kriegsgefährliche Linie, die in vier, fünf, acht Kilometern Entfernung um die Weststadt zugezogen und befestigt wurde" nicht nur die junge Wirtin der Kneipe "Au weia!" sagen lässt, sondern den Text insgesamt mit dem kalten Schauder überall vorhandener Gewalt überzieht.
Denn Uwe Johnson erzählt genau, wie das damals zuging, als 1961 Ulbricht und die Sowjets die Grenzen schlossen und nun junge Leute, "ohne sich in unnütze Risiken hetzen zu lassen", den Widerspruch versuchten gegen die Macht des Ostens, abenteuerlich, hartnäckig, aber oft genug auch ungeschickt, riskant, und nicht selten sich selbst verletzend, denn es wurde sehr bald klar, "dass der ostdeutsche Staat das Besitzrecht an seinen Bürgern nicht mit der linken Hand verteidigte".
So steigt in Johnsons Text aus den scheinbar harmlosen, manchmal komischen, manchmal läppischen Kleinigkeiten des Alltags allmählich das Drohende dieser Frontstadt und des Lebens darin auf. Denn das ist das Faszinierende an diesem geretteten und bewahrten Text Johnsons, dass aus dem Beiläufigen, Alltäglichen, scheinbar Unbedeutenden über und unter allem die Angst hervorwächst, gegründet auf nichts anderem als der menschlichen Schwäche jeder Gewalt gegenüber mit all ihren Erscheinungsformen der Versuchung. Resultat ist am Ende überall und immer wieder die Zerstörung gesitteten, also humanen Verhaltens. Da hat sich über die Jahrzehnte hinweg nicht viel geändert, nur dass sich die Schwerpunkte verschoben haben und die Beulen des Übels an anderen Stellen der Erde aufplatzen.
Ständige Versuchung zum Verrat.
Uwe Johnson erzählt in seinem Prosastück verhalten und genau, wie aus Schwäche Verräter werden, wie Freunde preisgegeben wurden, wie auf gut und echt Johnsonisch "Wangenmuskeln locker geworden waren von Ausdrücken der Zuneigung und Treue". So distanziert Johnson mit verhaltenem Witz die beständige Versuchung zur Nachgiebigkeit und zum Verrat in Zeiten der Gewalt. Johnsons Erzählung von der Kneipe, die verlorengeht, ist ein eindrucksvolles, deutlich und detailgenau erzähltes Stück über menschliche Korrumpierbarkeit, Schwäche und Angst, aber ebenso auch eines über Mut und den entschiedenen Wunsch, unabhängig und frei zu sein.
Denn beides bietet Johnsons knappe, kontrollierte und sorgfältig kalkulierte Prosa an. Und es ist, wie sich bald zeigt, ein Stück auch über sein eigenes Leben und über manche Gründe für seinen frühen Tod, als er nicht mehr leicht und locker über die schwache Kraft von Zuneigung und Treue spotten konnte. Ebenso aber ist es ein Stück über deutsche Geschichte, gestern und selbst heute, wozu man diese Erzählung freilich sehr aufmerksam lesen muss.
Es ist jedenfalls ein Buch, für das wir allen denen dankbar sein müssen, die es mit viel Mühe und der Verantwortlichkeit vor jener Erfahrung möglich gemacht haben, die sie ganz persönlich und oft schmerzhaft mit der Geschichte gemacht hatten.
Uwe Johnson: "Ich wollte keine Frage ausgelassen haben". Gespräche mit Fluchthelfern. Herausgegeben von Burkhard Veigel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 245 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2010Beistand für Einzelne
Wieder entdeckt: Uwe Johnson interviewt Fluchthelfer
Sie selbst begriffen sich als eine Art Reisebüro, aber nachdem sich herumgesprochen hatte, wie sie Menschen aus Ost-Berlin in die Freiheit zu retten halfen, wurden die Freunde im Neuen Deutschland als „Bande“ geschmäht, als „Girrmann-Bande“. Anfang der sechziger Jahre, in den ersten Wochen und Monaten nach dem kaum überraschenden, die Teilung brutalisierenden Mauerbau halfen sie etwa 1000 Menschen, aus der DDR herauszukommen, auch der Freundin Uwe Johnsons, der 1959 nach West-Berlin „umgezogen“ und eine der großen Hoffnungen der deutschen Literatur war. 1963 plante Johnson ein Buch über die Fluchthelfer, eine „epische Dokumentation“. Wie es seine Art war und das Genre es erforderte, bereitete er sich gründlichst vor und interviewte in seiner Dachgeschosswohnung in Berlin-Friedenau Detlef Girrmann, Dieter Thieme, Bodo Köhler und andere, die ihm geholfen hatten, Elisabeth Schmidt „rüberzuholen“. Die Unterhaltungen fanden statt „in Gesellschaft eines laufenden Tonbandes (auf dem die Vereinigung Reisebüro bestand als einem Beweis für Gesagtes wie Ungesagtes).“
Aber aus der „epischen Dokumentation“ über Mauer, Flucht und Fluchthilfe wurde nichts. Jahre später, in seinen Frankfurter Vorlesungen „Begleitumstände“, sagte Johnson, es habe der Arbeit „am stursten“ „die Verjährung des Gedächtnisses im Weg“ gestanden. Viele Einzelheiten wurden nur noch vage erinnert, konnten kaum rekonstruiert werden. Mit Annehmen, Mutmaßen, Erfinden wollte der Verfasser der „Mutmassungen über Jakob“ sich nicht behelfen. „Mit einer allseits betrübten Konferenz“, so das lange letzte Wort in der Sache, „wurde der Abbruch des Projekts beschlossen. Ja – die Tonbänder sind gelöscht.“
Ein Irrtum. Detlef Girrmann und Dieter Thieme hatten ihre Bänder von Johnson erhalten und aufbewahrt. 2001 begannen sie die mühsame Arbeit des Umspielens, Konservierens und Transkribierens. Nun sind sie erschienen, ergänzt um Hunderte Fußnoten, Erinnerungen und eine so knappe wie schwer wieder zu vergessende Erzählung Johnsons: „Eine Kneipe geht verloren“.
Aus verständlichen Gründen hat man darauf verzichtet, eine geglättete Fassung der Gespräche herzustellen, deren Oberfläche zu polieren. Die Ehrfurcht vor dem unerwartet geretteten Zeugnis erschwert die Lektüre freilich ungemein. Weder Johnson noch seine beiden Gesprächspartner wirken eloquent, flott plaudernd. Sie ringen um jedes Wort, stocken, setzen neu an, lassen Sätze unvollständig. Das liest sich meist so wie dieser Auszug aus dem Gespräch mit Girrmann (G) über die ersten Tage nach dem 13. August 1961: „G: Ja. Hübsche Geschichte noch: Ein Mädchen – ich weiß nicht, ob das interessant ist? J: Ja. ja. Ist alles interessant! G: . . . die dann – korrekt bitte: Anglistin –, die dann mit ihrer Mutter am Zaun entlangmarschierte, an dem provisorischen, und dann ziemlich keß dann einen Vopo fragte, ob er schießen würde, wenn sie jetzt über den Zaun springt. J: Das war dieser Stacheldraht gewesen? G: Ja. Und dann sagte er: ,Nee.‘ Und daraufhin sprang sie denn über den Zaun. J: Und die Mutter auch? G: Nee. Die Mutter blieb drüben. Die wollte nicht. . . . “
Es dauert, bis man sich eingelesen hat. Empfohlen sei es, sich unter www.suhrkamp.de die Original-Tonbanddokumente anzuhören und dabei mitzulesen. Auf diese Weise versteht man rasch und vermeint sogar, etwas von der Atmosphäre jener Jahre zu erhaschen. Man kann gar nicht anders, als Hochachtung zu empfinden vor diesen ungeheuer aufrechten, ernsthaften Gesprächspartnern und dem viel Kaffee trinkenden, oft hüstelnden, vor Suggestivfragen nicht zurückschreckenden Schriftsteller.
Verschuldet, beschwiegen
Girrmann und Thieme kamen selber aus dem Osten, arbeiteten für das Studentenwerk und die Freie Universität und wollten anfangs den in Ost-Berlin eingemauerten Kommilitonen helfen, damit diese ihr Studium abschließen könnten. Zunächst gelang es, sie mit Ausweisen ähnlich aussehender West-Berliner an den Kontrolleuren vorbeizuschleusen, später waren bundesdeutsche Ausweise oder ausländische Pässe vonnöten, Tunnel und präparierte Autos. Die Freunde verschuldeten sich, um anderen zu helfen, waren bald schon mit Forderungen in Höhe von 100 000 Mark konfrontiert. Warum? Wieso nimmt man das auf sich?
Dies steht in dem unnachahmlichen Deutsch, in dem Johnson Großes ohne Streichorchester und Blasmusik zu sagen, Beiläufiges zu beleben und emporzupfeilern verstand, in der Prosaskizze: „Eine Kneipe geht verloren“: „ . . . um jenes Trugschlusses willen, der eine Hilfe für Nachbarn aus deren privaten Gründen umgefälscht hatte in eine Bürgerpflicht aus öffentlichen Gründen, als sei Beistand für Einzelne das Mindeste, wo nicht allen geholfen wird, als müsse richtig sein zu tun, was zu tun möglich gewesen war, dafür bestraft mit dem Schweigen des eigenen Gemeinwesens, der Gefängnisordnung der ostdeutschen Behörden . . . “
JENS BISKY
UWE JOHNSON: „Ich wollte keine Frage ausgelassen haben“. Gespräche mit Fluchthelfern. Herausgegeben von Burkhart Veigel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 247 Seiten, 22,80 Euro.
„Da die Angehörigen der führenden Klasse der DDR überfordert waren mit der Vorstellung, es könne irgendein Mensch ihnen den Rücken kehren wollen aus freien Stücken, bezichtigten sie jedermann, der ihm dabei behilflich war, des ,Menschenhandels’.“
Uwe Johnson (1934-1984).
Foto: Dondero/Leemage
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Wieder entdeckt: Uwe Johnson interviewt Fluchthelfer
Sie selbst begriffen sich als eine Art Reisebüro, aber nachdem sich herumgesprochen hatte, wie sie Menschen aus Ost-Berlin in die Freiheit zu retten halfen, wurden die Freunde im Neuen Deutschland als „Bande“ geschmäht, als „Girrmann-Bande“. Anfang der sechziger Jahre, in den ersten Wochen und Monaten nach dem kaum überraschenden, die Teilung brutalisierenden Mauerbau halfen sie etwa 1000 Menschen, aus der DDR herauszukommen, auch der Freundin Uwe Johnsons, der 1959 nach West-Berlin „umgezogen“ und eine der großen Hoffnungen der deutschen Literatur war. 1963 plante Johnson ein Buch über die Fluchthelfer, eine „epische Dokumentation“. Wie es seine Art war und das Genre es erforderte, bereitete er sich gründlichst vor und interviewte in seiner Dachgeschosswohnung in Berlin-Friedenau Detlef Girrmann, Dieter Thieme, Bodo Köhler und andere, die ihm geholfen hatten, Elisabeth Schmidt „rüberzuholen“. Die Unterhaltungen fanden statt „in Gesellschaft eines laufenden Tonbandes (auf dem die Vereinigung Reisebüro bestand als einem Beweis für Gesagtes wie Ungesagtes).“
Aber aus der „epischen Dokumentation“ über Mauer, Flucht und Fluchthilfe wurde nichts. Jahre später, in seinen Frankfurter Vorlesungen „Begleitumstände“, sagte Johnson, es habe der Arbeit „am stursten“ „die Verjährung des Gedächtnisses im Weg“ gestanden. Viele Einzelheiten wurden nur noch vage erinnert, konnten kaum rekonstruiert werden. Mit Annehmen, Mutmaßen, Erfinden wollte der Verfasser der „Mutmassungen über Jakob“ sich nicht behelfen. „Mit einer allseits betrübten Konferenz“, so das lange letzte Wort in der Sache, „wurde der Abbruch des Projekts beschlossen. Ja – die Tonbänder sind gelöscht.“
Ein Irrtum. Detlef Girrmann und Dieter Thieme hatten ihre Bänder von Johnson erhalten und aufbewahrt. 2001 begannen sie die mühsame Arbeit des Umspielens, Konservierens und Transkribierens. Nun sind sie erschienen, ergänzt um Hunderte Fußnoten, Erinnerungen und eine so knappe wie schwer wieder zu vergessende Erzählung Johnsons: „Eine Kneipe geht verloren“.
Aus verständlichen Gründen hat man darauf verzichtet, eine geglättete Fassung der Gespräche herzustellen, deren Oberfläche zu polieren. Die Ehrfurcht vor dem unerwartet geretteten Zeugnis erschwert die Lektüre freilich ungemein. Weder Johnson noch seine beiden Gesprächspartner wirken eloquent, flott plaudernd. Sie ringen um jedes Wort, stocken, setzen neu an, lassen Sätze unvollständig. Das liest sich meist so wie dieser Auszug aus dem Gespräch mit Girrmann (G) über die ersten Tage nach dem 13. August 1961: „G: Ja. Hübsche Geschichte noch: Ein Mädchen – ich weiß nicht, ob das interessant ist? J: Ja. ja. Ist alles interessant! G: . . . die dann – korrekt bitte: Anglistin –, die dann mit ihrer Mutter am Zaun entlangmarschierte, an dem provisorischen, und dann ziemlich keß dann einen Vopo fragte, ob er schießen würde, wenn sie jetzt über den Zaun springt. J: Das war dieser Stacheldraht gewesen? G: Ja. Und dann sagte er: ,Nee.‘ Und daraufhin sprang sie denn über den Zaun. J: Und die Mutter auch? G: Nee. Die Mutter blieb drüben. Die wollte nicht. . . . “
Es dauert, bis man sich eingelesen hat. Empfohlen sei es, sich unter www.suhrkamp.de die Original-Tonbanddokumente anzuhören und dabei mitzulesen. Auf diese Weise versteht man rasch und vermeint sogar, etwas von der Atmosphäre jener Jahre zu erhaschen. Man kann gar nicht anders, als Hochachtung zu empfinden vor diesen ungeheuer aufrechten, ernsthaften Gesprächspartnern und dem viel Kaffee trinkenden, oft hüstelnden, vor Suggestivfragen nicht zurückschreckenden Schriftsteller.
Verschuldet, beschwiegen
Girrmann und Thieme kamen selber aus dem Osten, arbeiteten für das Studentenwerk und die Freie Universität und wollten anfangs den in Ost-Berlin eingemauerten Kommilitonen helfen, damit diese ihr Studium abschließen könnten. Zunächst gelang es, sie mit Ausweisen ähnlich aussehender West-Berliner an den Kontrolleuren vorbeizuschleusen, später waren bundesdeutsche Ausweise oder ausländische Pässe vonnöten, Tunnel und präparierte Autos. Die Freunde verschuldeten sich, um anderen zu helfen, waren bald schon mit Forderungen in Höhe von 100 000 Mark konfrontiert. Warum? Wieso nimmt man das auf sich?
Dies steht in dem unnachahmlichen Deutsch, in dem Johnson Großes ohne Streichorchester und Blasmusik zu sagen, Beiläufiges zu beleben und emporzupfeilern verstand, in der Prosaskizze: „Eine Kneipe geht verloren“: „ . . . um jenes Trugschlusses willen, der eine Hilfe für Nachbarn aus deren privaten Gründen umgefälscht hatte in eine Bürgerpflicht aus öffentlichen Gründen, als sei Beistand für Einzelne das Mindeste, wo nicht allen geholfen wird, als müsse richtig sein zu tun, was zu tun möglich gewesen war, dafür bestraft mit dem Schweigen des eigenen Gemeinwesens, der Gefängnisordnung der ostdeutschen Behörden . . . “
JENS BISKY
UWE JOHNSON: „Ich wollte keine Frage ausgelassen haben“. Gespräche mit Fluchthelfern. Herausgegeben von Burkhart Veigel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 247 Seiten, 22,80 Euro.
„Da die Angehörigen der führenden Klasse der DDR überfordert waren mit der Vorstellung, es könne irgendein Mensch ihnen den Rücken kehren wollen aus freien Stücken, bezichtigten sie jedermann, der ihm dabei behilflich war, des ,Menschenhandels’.“
Uwe Johnson (1934-1984).
Foto: Dondero/Leemage
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieser Band ist ein Fund und besteht aus zwei Teilen. Der erste sind die Aufzeichnungen von Gesprächen, die Uwe Johson, eigentlich in Vorbereitung eines Romans, in den Sechziger Jahren mit zwei DDR-Fluchthelfern geführt hat. Was man darin über das Leben im Berlin seiner Zeit erfährt, findet der Rezensent Gerhard Schulz schon interessant, wenngleich nur bedingt: Um das wirklich erfassen zu können, müsse man diese Zeit wohl doch miterlebt haben. Beinahe ausführlicher geht Schulz dann auf den zweiten Teil ein, die mitabgedruckte Erzählung von Uwe Johnson, "Eine Kneipe geht verloren", in der die Atmosphäre der Zeit literarisch aufgehoben erscheint. Allein schon wegen dieses Stücks "knapper, kontrollierter und sorgfältig kalkulierter Prosa" lohnt sich offenkundig der Kauf dieses Bands.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Die spannende Vergegenwärtigung einer im öffentlichen Bewusstsein in Vergessenheit geratenen Heldentat. ... Ein später Blick in die Werkstatt eines großen Schriftstellers und aufregende Geschichtsstunde in einem.« Volker Hage DER SPIEGEL 20100712