Joseph Roths Feuilletons: ein Schlüssel zum Werk des brillanten Romanciers.Viele seiner Zeitgenossen kannten ihn als Journalisten, der Anfang der zwanziger Jahre begann, auch Romane zu schreiben: Joseph Roth. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zunächst als Romancier wiederentdeckt, als Meister impressionistischen Erzählens. Diese Ausgabe bietet nun erstmals eine repräsentative Auswahl aus dem umfangreichen journalistischen Werk erstmals in der Textgestalt der Erstdrucke. Joseph Roths Reportagen, Essays und Feuilletons zeichnen sich durch hohes Sprachbewusstsein und phantasievoll-präzise Bildlichkeit aus und sind geprägt von hellsichtiger Wahrnehmungskraft und leidenschaftlicher Subjektivität: »Alles wird bei mir persönlich«, schrieb Roth über seine journalistische Arbeit. Die besten Texte des heute nur noch wenigen bekannten Feuilletonisten sind hier chronologisch so zusammengestellt, dass hinter der journalistischen Form immer wieder auch der großartige Erzähler sichtbar wird, dessen Artikel bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben. Wie unentbehrlich sie für das Verständnis seiner künstlerischen Entwicklung sind, zeigen darüber hinaus die Erläuterungen im Anhang, die die einzelnen Texte in ihrer Bedeutung für Roths Weltbild und Werk erschließen und in ihrer Gesamtheit ein vorzügliches Portrait des Künstlers und Menschen Roth zeichnen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.11.2010Franzose aus dem Osten
Eine Auswahl aus Joseph Roths Reportagen und Feuilletons
Dem Leser, der um den Fortgang der Geschichte weiß, stockt der Atem: Unter der Überschrift „Geträumter Wochenbericht“ liest er in einem zur Faschingszeit des Jahres 1924 erschienenen Zeitungsartikel von einem „Tapezierer“, der sich „Schriftsteller“ nennt und im Gerichtssaal lang und breit davon erzählt, „wie er sich aus einem ,Weltbürger‘, der er noch in Braunau gewesen, zu einem ,Antisemiten‘ in Wien entwickelt hat“. Dem Gerichtsreporter aber war das Berichterstatten da schon vergangen: Statt die „Geisterreden“ des Hauptangeklagten im Prozess gegen die Putschisten aus dem Münchner „Bürgerbräukeller“ brav mitzustenographieren, gab Joseph Roth seine persönlichen, subjektiven Eindrücke wieder und schilderte, wie sich die gespenstische Szenerie vor seinem inneren Auge in einen makabren Totentanz verwandelte: „Ich träume einen Fastnachtstraum und der heißt: Deutschland“.
Der Leser solcher Tagesberichte aus der Vergangenheit ist niemals zu spät dran. Die visionäre Anschaulichkeit dieses Berichts, seine beklemmende Wahrheit verdankt sich dem radikal subjektiven Zugriff, mit dem der vom Tagesgeschehen diktierte Stoff einer poetischen Formung unterzogen wird. Das zugehörige künstlerische Verfahren wird gemeinhin „impressionistisch“ genannt, es ist das Verfahren des Feuilletons, und Joseph Roth war ein Meister des Fachs: „Ich mache keine ,witzigen Glossen‘. Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung“, schrieb er 1926 aus Frankreich an Benno Reifenberg, den Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, deren Korrespondent er war.
Unter rund 1700 Feuilletons, Reportagen und Essays schlummert der Bericht vom Münchner Prozess gegen Hitler und Ludendorff auf den 6100 Seiten der von Fritz Hackert und Klaus Westermann 1989-91 herausgegebenen Werkausgabe Joseph Roths. Diese verdienstvolle Edition – bei Kiepenheuer & Witsch noch immer zum Sonderpreis von 198 Euro lieferbar – teilt sich in je drei Bände „erzählerisches“ und „journalistisches“ Werk. Dem Werk des Romanciers ist das feuilletonistische Œuvre ebenbürtig, es ist das andere erzählerische Werk Joseph Roths, an ungebrochener Frische und poetischer Intensität dem belletristischen Werk vielfach sogar überlegen.
„Brotarbeiten“ nennt man die journalistischen Arbeiten von Schriftstellern in Deutschland gerne. In Buchform gesammelt firmieren Feuilletons, ihre Herkunft verleugnend, zumeist als „Kleine Prosa“ oder „Kleine Schriften“. Ungeachtet seiner Herkunft aus antisemitischer Propaganda gegen das Feuilleton als von der „jüdischen Journaille“ eingeschleppte „Franzosenkrankheit“ wirkt das Ressentiment bis heute nach, so wie nach 1933 viele Zeitungen flugs ihr „Feuilleton“ in „Kultur“ umbenannten. Roth jedenfalls verdonnerte seinen zaudernden Nachwuchskollegen Bernard von Brentano einmal brieflich: „Hat Ihnen ein Verschmockter eingeredet, die ,Zeitung‘ sei eines Dichters unwürdig? Oder Sie der Zeitung? Oder das ,Feuilleton‘ weniger als ein ,Roman‘?“
Im Göttinger Wallstein-Verlag ist nun eine handliche Auswahl aus Roths journalistischem Werk erschienen. Es ist nicht die erste und sicher auch nicht die letzte Anthologie: Schon zu Roths Lebzeiten war unter dem Titel „Panoptikum“ eine Auswahl seiner Feuilletons erschienen, was seine Prominenz im kulturellen Leben der Weimarer Republik unterstreicht. Das neue, von dem Germanisten Helmuth Nürnberger herausgegebene Lesebuch bietet gegenüber der Werkausgabe und allen früheren Anthologien den Vorteil der sorgsamen Kommentierung in einem starken Anmerkungsteil. Nur die etwas marktschreierische Verlagswerbung ist nicht so ganz ernst zu nehmen: Bei rund 70 im Verhältnis zu 1700 Feuilletons lässt sich schwerlich von einer „repräsentativen Auswahl“ sprechen, die – wenn dem so wäre – das Gewicht von Roths journalistischem Werk erneut herabsetzen würde.
Auch die Wiedergabe der „Textgestalt nach den Erstdrucken“ hält schon aus drucktechnischen Gründen nicht ganz, was sie verspricht. Dem klassischen Zeitungssatz folgend, wurden lediglich mehr Absätze, oftmals nur in Satzlänge, eingezogen. Anders als in der Werkausgabe wurde auf den direkten Nachweis der Erstdrucke – Medium und Tag des Erscheinens – am Ende eines jeden Artikels verzichtet: Dies macht mühsames Blättern in den Anmerkungen nötig. Was Textvarianten angeht, sind keine Sensationen zu erwarten, auch nicht in der vollständig wiedergegebenen Artikelfolge „Juden auf Wanderschaft“ von 1927 – samt Vorwort zur 1937 geplanten Neuauflage –, Roths Abrechnung mit dem Westjudentum.
Erfreulich ist, dass Nürnbergers Anthologie neben Prachtstücken Roth’scher Feuilletonkunst einige seiner meisterhaften Artikelfolgen zumindest in Auswahl präsentiert: die Reisen durch Galizien, nach Russland und auf den Balkan sowie ins faschistische Italien. Am greifbarsten wird der Schriftsteller und Journalist, der von sich sagte „Ich bin ein Franzose aus dem Osten“, aber in seinen Berichten aus jenem feindlichen Ausland, in dessen Süden Roth sich heimischer als an jedem andern Ort der Welt fühlte: „Im mittäglichen Frankreich“ heißt die Artikelfolge des Jahres 1925, die für manchen Zwist mit der Redaktion Anlass gab: „Es ist so dumm Alles, was wir in Deutschland machen! So traurig, so ohne Sinn! Kommen Sie nach Avignon“, schrieb er Reifenberg nach Frankfurt, „und Sie werden nie mehr ein Feuilleton von mir in Satz geben.“ Im selben Jahr entstand das Buchprojekt der – leider unvollständig wiedergegebenen – Essayfolge „Die weißen Städte“, das der Verlag der Frankfurter Zeitung damals ablehnte und für das sich aus unerfindlichen Gründen bis heute noch kein Verlag gefunden hat, der sein Programm damit schmücken würde.
Hier hat Roth das Credo seiner persönlichen wie schriftstellerischen Existenz und die Poetik seines Feuilletonjournalismus begründet: „Die Fahrpläne stimmen nicht, die Führer berichten falsche Tatsachen (. . .) Wie viele falsche Berichte sogenannter ,guter Beobachter‘. Der ,gute Beobachter‘ ist der traurigste Berichterstatter. Alles Wandelbare begreift er mit offenem, aber starrem Aug’. Er lauscht nicht in sich selbst.“ – „Die weißen Städte“? „Ich habe die weißen Städte so wiedergefunden, wie ich sie in den Träumen gesehn hatte.“ Es waren Kinderträume eines galizischen Juden, der sich ins Land seiner Vorväter sehnte.
Dann aber erschütterte das „Erdbeben“ des Weltkriegs eine ganze Generation: „Aber ein Sturm blies unser Gefährt in die Weite . . . !“ In Marseille leuchtete jener Horizont wieder auf, und Roth schrieb an Brentano: „Ich gehe heute in den alten Hafen für die Nacht. Da ist die Welt, in der ich eigentlich zu Hause bin. Meine Urväter mütterlicherseits leben dort, Alle verwandt. Jeder Zwiebelhändler mein Onkel.“ Brieflich hatte er „ . . . ein Reisebuch durch die Seele des Schreibers, wie durch das Land, das er durchfährt“, angekündigt: „Es ist im höchsten Grade dichterisch, mehr, als ein Roman.“ So wie die in dieser Auswahl versammelten Feuilletons.
Hier ist ein feuilletongeschichtliches Postscriptum angebracht: Dass Roth mit seinem Buch „Blicke auf die letzten Reste Europas“ zu werfen gedachte, war mehr als prophetisch: In der Nacht vom 22. auf den 23. Januar 1943 wurde das alte Hafenviertel von Marseille auf Anordnung Himmlers von SS und Wehrmacht, französischer und deutscher Polizei umstellt und zwangsevakuiert. Die Marseiller Juden wurden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert, das Hafenviertel gesprengt und in Schutt und Asche gelegt. Ein anderer deutscher Feuilletonist, der es in der Nachkriegszeit wieder zu hohem Ansehen brachte, Walter Kiaulehn, schrieb über die Aktion einen langen triumphalen Bericht für die Armeezeitung Signal, „weil ich zufällig der einzige Literat bin, der die Vernichtung dieses Lieblingsschauplatzes der Verbrecherliteratur miterlebt“, und weiter: „Dieser stinkende Block von 1200 Häusern wohnte im Herzen der Literatur. Er wird jetzt herausgerissen. (. . . ) Das Gericht über das Verbrecherviertel im alten Hafen von Marseille hat seinen Anfang genommen . . .“. Da war Joseph Roth schon vier Jahre tot. VOLKER BREIDECKER
JOSEPH ROTH: „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“. Essays. Reportagen. Feuilletons. Herausgegeben und kommentiert von Helmuth Nürnberger. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 544 S., 39,90 Euro.
„Hat Ihnen ein Verschmockter
eingeredet, die ,Zeitung‘
sei eines Dichters unwürdig?“
„Ich habe die weißen Städte
so wiedergefunden, wie ich sie
in den Träumen gesehn hatte“
Joseph Roth, geboren 1894 im galizischen Brody, gestorben im Mai 1939 in Paris, hat ein journalistisches Werk hinterlassen, das seinem erzählerischen Werk die Waage hält.
Es bestätigt, was er selbst einmal sagte: Dass ein Feuilleton bedeutender sein kann als ein ganzer Roman.
Foto: Cinetext
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Eine Auswahl aus Joseph Roths Reportagen und Feuilletons
Dem Leser, der um den Fortgang der Geschichte weiß, stockt der Atem: Unter der Überschrift „Geträumter Wochenbericht“ liest er in einem zur Faschingszeit des Jahres 1924 erschienenen Zeitungsartikel von einem „Tapezierer“, der sich „Schriftsteller“ nennt und im Gerichtssaal lang und breit davon erzählt, „wie er sich aus einem ,Weltbürger‘, der er noch in Braunau gewesen, zu einem ,Antisemiten‘ in Wien entwickelt hat“. Dem Gerichtsreporter aber war das Berichterstatten da schon vergangen: Statt die „Geisterreden“ des Hauptangeklagten im Prozess gegen die Putschisten aus dem Münchner „Bürgerbräukeller“ brav mitzustenographieren, gab Joseph Roth seine persönlichen, subjektiven Eindrücke wieder und schilderte, wie sich die gespenstische Szenerie vor seinem inneren Auge in einen makabren Totentanz verwandelte: „Ich träume einen Fastnachtstraum und der heißt: Deutschland“.
Der Leser solcher Tagesberichte aus der Vergangenheit ist niemals zu spät dran. Die visionäre Anschaulichkeit dieses Berichts, seine beklemmende Wahrheit verdankt sich dem radikal subjektiven Zugriff, mit dem der vom Tagesgeschehen diktierte Stoff einer poetischen Formung unterzogen wird. Das zugehörige künstlerische Verfahren wird gemeinhin „impressionistisch“ genannt, es ist das Verfahren des Feuilletons, und Joseph Roth war ein Meister des Fachs: „Ich mache keine ,witzigen Glossen‘. Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung“, schrieb er 1926 aus Frankreich an Benno Reifenberg, den Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, deren Korrespondent er war.
Unter rund 1700 Feuilletons, Reportagen und Essays schlummert der Bericht vom Münchner Prozess gegen Hitler und Ludendorff auf den 6100 Seiten der von Fritz Hackert und Klaus Westermann 1989-91 herausgegebenen Werkausgabe Joseph Roths. Diese verdienstvolle Edition – bei Kiepenheuer & Witsch noch immer zum Sonderpreis von 198 Euro lieferbar – teilt sich in je drei Bände „erzählerisches“ und „journalistisches“ Werk. Dem Werk des Romanciers ist das feuilletonistische Œuvre ebenbürtig, es ist das andere erzählerische Werk Joseph Roths, an ungebrochener Frische und poetischer Intensität dem belletristischen Werk vielfach sogar überlegen.
„Brotarbeiten“ nennt man die journalistischen Arbeiten von Schriftstellern in Deutschland gerne. In Buchform gesammelt firmieren Feuilletons, ihre Herkunft verleugnend, zumeist als „Kleine Prosa“ oder „Kleine Schriften“. Ungeachtet seiner Herkunft aus antisemitischer Propaganda gegen das Feuilleton als von der „jüdischen Journaille“ eingeschleppte „Franzosenkrankheit“ wirkt das Ressentiment bis heute nach, so wie nach 1933 viele Zeitungen flugs ihr „Feuilleton“ in „Kultur“ umbenannten. Roth jedenfalls verdonnerte seinen zaudernden Nachwuchskollegen Bernard von Brentano einmal brieflich: „Hat Ihnen ein Verschmockter eingeredet, die ,Zeitung‘ sei eines Dichters unwürdig? Oder Sie der Zeitung? Oder das ,Feuilleton‘ weniger als ein ,Roman‘?“
Im Göttinger Wallstein-Verlag ist nun eine handliche Auswahl aus Roths journalistischem Werk erschienen. Es ist nicht die erste und sicher auch nicht die letzte Anthologie: Schon zu Roths Lebzeiten war unter dem Titel „Panoptikum“ eine Auswahl seiner Feuilletons erschienen, was seine Prominenz im kulturellen Leben der Weimarer Republik unterstreicht. Das neue, von dem Germanisten Helmuth Nürnberger herausgegebene Lesebuch bietet gegenüber der Werkausgabe und allen früheren Anthologien den Vorteil der sorgsamen Kommentierung in einem starken Anmerkungsteil. Nur die etwas marktschreierische Verlagswerbung ist nicht so ganz ernst zu nehmen: Bei rund 70 im Verhältnis zu 1700 Feuilletons lässt sich schwerlich von einer „repräsentativen Auswahl“ sprechen, die – wenn dem so wäre – das Gewicht von Roths journalistischem Werk erneut herabsetzen würde.
Auch die Wiedergabe der „Textgestalt nach den Erstdrucken“ hält schon aus drucktechnischen Gründen nicht ganz, was sie verspricht. Dem klassischen Zeitungssatz folgend, wurden lediglich mehr Absätze, oftmals nur in Satzlänge, eingezogen. Anders als in der Werkausgabe wurde auf den direkten Nachweis der Erstdrucke – Medium und Tag des Erscheinens – am Ende eines jeden Artikels verzichtet: Dies macht mühsames Blättern in den Anmerkungen nötig. Was Textvarianten angeht, sind keine Sensationen zu erwarten, auch nicht in der vollständig wiedergegebenen Artikelfolge „Juden auf Wanderschaft“ von 1927 – samt Vorwort zur 1937 geplanten Neuauflage –, Roths Abrechnung mit dem Westjudentum.
Erfreulich ist, dass Nürnbergers Anthologie neben Prachtstücken Roth’scher Feuilletonkunst einige seiner meisterhaften Artikelfolgen zumindest in Auswahl präsentiert: die Reisen durch Galizien, nach Russland und auf den Balkan sowie ins faschistische Italien. Am greifbarsten wird der Schriftsteller und Journalist, der von sich sagte „Ich bin ein Franzose aus dem Osten“, aber in seinen Berichten aus jenem feindlichen Ausland, in dessen Süden Roth sich heimischer als an jedem andern Ort der Welt fühlte: „Im mittäglichen Frankreich“ heißt die Artikelfolge des Jahres 1925, die für manchen Zwist mit der Redaktion Anlass gab: „Es ist so dumm Alles, was wir in Deutschland machen! So traurig, so ohne Sinn! Kommen Sie nach Avignon“, schrieb er Reifenberg nach Frankfurt, „und Sie werden nie mehr ein Feuilleton von mir in Satz geben.“ Im selben Jahr entstand das Buchprojekt der – leider unvollständig wiedergegebenen – Essayfolge „Die weißen Städte“, das der Verlag der Frankfurter Zeitung damals ablehnte und für das sich aus unerfindlichen Gründen bis heute noch kein Verlag gefunden hat, der sein Programm damit schmücken würde.
Hier hat Roth das Credo seiner persönlichen wie schriftstellerischen Existenz und die Poetik seines Feuilletonjournalismus begründet: „Die Fahrpläne stimmen nicht, die Führer berichten falsche Tatsachen (. . .) Wie viele falsche Berichte sogenannter ,guter Beobachter‘. Der ,gute Beobachter‘ ist der traurigste Berichterstatter. Alles Wandelbare begreift er mit offenem, aber starrem Aug’. Er lauscht nicht in sich selbst.“ – „Die weißen Städte“? „Ich habe die weißen Städte so wiedergefunden, wie ich sie in den Träumen gesehn hatte.“ Es waren Kinderträume eines galizischen Juden, der sich ins Land seiner Vorväter sehnte.
Dann aber erschütterte das „Erdbeben“ des Weltkriegs eine ganze Generation: „Aber ein Sturm blies unser Gefährt in die Weite . . . !“ In Marseille leuchtete jener Horizont wieder auf, und Roth schrieb an Brentano: „Ich gehe heute in den alten Hafen für die Nacht. Da ist die Welt, in der ich eigentlich zu Hause bin. Meine Urväter mütterlicherseits leben dort, Alle verwandt. Jeder Zwiebelhändler mein Onkel.“ Brieflich hatte er „ . . . ein Reisebuch durch die Seele des Schreibers, wie durch das Land, das er durchfährt“, angekündigt: „Es ist im höchsten Grade dichterisch, mehr, als ein Roman.“ So wie die in dieser Auswahl versammelten Feuilletons.
Hier ist ein feuilletongeschichtliches Postscriptum angebracht: Dass Roth mit seinem Buch „Blicke auf die letzten Reste Europas“ zu werfen gedachte, war mehr als prophetisch: In der Nacht vom 22. auf den 23. Januar 1943 wurde das alte Hafenviertel von Marseille auf Anordnung Himmlers von SS und Wehrmacht, französischer und deutscher Polizei umstellt und zwangsevakuiert. Die Marseiller Juden wurden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert, das Hafenviertel gesprengt und in Schutt und Asche gelegt. Ein anderer deutscher Feuilletonist, der es in der Nachkriegszeit wieder zu hohem Ansehen brachte, Walter Kiaulehn, schrieb über die Aktion einen langen triumphalen Bericht für die Armeezeitung Signal, „weil ich zufällig der einzige Literat bin, der die Vernichtung dieses Lieblingsschauplatzes der Verbrecherliteratur miterlebt“, und weiter: „Dieser stinkende Block von 1200 Häusern wohnte im Herzen der Literatur. Er wird jetzt herausgerissen. (. . . ) Das Gericht über das Verbrecherviertel im alten Hafen von Marseille hat seinen Anfang genommen . . .“. Da war Joseph Roth schon vier Jahre tot. VOLKER BREIDECKER
JOSEPH ROTH: „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“. Essays. Reportagen. Feuilletons. Herausgegeben und kommentiert von Helmuth Nürnberger. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 544 S., 39,90 Euro.
„Hat Ihnen ein Verschmockter
eingeredet, die ,Zeitung‘
sei eines Dichters unwürdig?“
„Ich habe die weißen Städte
so wiedergefunden, wie ich sie
in den Träumen gesehn hatte“
Joseph Roth, geboren 1894 im galizischen Brody, gestorben im Mai 1939 in Paris, hat ein journalistisches Werk hinterlassen, das seinem erzählerischen Werk die Waage hält.
Es bestätigt, was er selbst einmal sagte: Dass ein Feuilleton bedeutender sein kann als ein ganzer Roman.
Foto: Cinetext
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2011Ein Gesicht wie Marmeladebrot
Die Feuilletons von Joseph Roth inspirieren trotz uninspirierter Edition
Die treffendsten Rechtfertigungen des feuilletonistischen Genres stammen von Joseph Roth selbst. Nicht mehr als Süffisanz brachte er dem "Literaten um jeden Mokkapreis" entgegen, der vor lauter Selbstinszenierung nicht in der Lage sei, eine "Wahrheit kurz pointiert und neu beleuchtet" zu zeigen. Roth hingegen war Emphatiker der kleinen Form. "Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden", schreibt er 1921 im "Berliner Börsen-Courier": "Ich bin ein Spaziergänger."
Indes hat auch die Tatsache, dass seine Feuilletons, allein was die Quantität angeht, seine literarischen Arbeiten um ein Beträchtliches übersteigen, nichts daran geändert, dass sich bis heute hartnäckig das Bild des konservativen, gleichsam melancholisch-resignierten Romanciers der Habsburgermonarchie gehalten hat.
Umso erfreulicher, wenn nun der Gesamtausgabe ein Band mit Texten von Roth an die Seite gestellt wird, herausgegeben von seinem Biographen Helmuth Nürnberger. Er will einmal mehr das Augenmerk auf Roths feuilletonistisches Schaffen lenken und es gegenüber dem Romanwerk ins rechte Licht rücken. Bedauerlicherweise allerdings bleiben Auswahl und Zusammenstellung der Texte in diesem Band genauso wenig durchschaubar wie in der Sache nachvollziehbar.
Das liegt zum einen daran, dass Nürnberger sich nicht auf das Feuilleton als kleine, für den Tag geschriebene Form mit ihren spezifischen stilistischen Merkmalen beschränkt, sondern längere, von vornherein als Buchprojekt konzipierte Texte wie etwa "Juden auf Wanderschaft" hinzuzieht. Aber selbst da, wo es sich um Feuilletons handelt, lässt die vorliegende Auswahl genau jene Texte vermissen, mit denen Roth wie kaum ein anderer "das Gesicht seiner Zeit" zeichnete. "Wiener Symptome" hieß eine Reihe, die er 1919 über das von Elend bestimmte Leben auf den Straßen der österreichischen Hauptstadt für die von Benno Karpeles herausgegebene Zeitung "Der neue Tag" schrieb. Das Prinzip, das hier wie auch in späteren Jahren Roths Feuilletons ausmachte, ist bereits im Titel der Reihe benannt: das "Symptomatisieren". Am Detail und vermeintlich Nebensächlichen zeigte er, woran die Gesellschaft im Großen laborierte, materiell und im Inneren. Das Sterben eines Pferdes, das von der neugierigen Masse mehr bestaunt wird als das Dahinsiechen eines Mitmenschen, konnte so ein Detail sein oder ein beinloser Mann, der auf kümmerlichen Prothesen dasteht und dem niemand die feilgebotenen Schnürsenkel abkauft. Das große und tragische Thema, das Roths eigene Biographie und sein Schreiben grundierte, ist in den frühen Wiener Texten bereits angelegt: die Heimatlosigkeit. Immer wieder sind es Kriegsversehrte, Versprengte, denen er auf den Straßen begegnet und deren Existenz er mit schmerzhafter Klarsicht ins Bild setzt.
Auch in Berlin, wohin Roth 1920 übersiedelte und wo er innerhalb weniger Jahre zu einem der bestbezahlten Journalisten der Weimarer Republik aufstieg, entwarf er Miniaturen einer Stadt, auf deren Straßen die Zeichen des aufkommenden Nationalsozialismus schon Anfang der zwanziger Jahren beängstigend und unübersehbar waren. Statt dieser Zeit- und Gesellschaftssignaturen finden sich im vorliegenden Band über Gebühr viele Reiseberichte, vor allem aber Film- und Theaterrezensionen, die Roth einigermaßen lustlos zum Broterwerb verfasste und die zudem den ästhetischen Reflexionen etwa über das neue Medium Film, wie Benjamin oder Musil sie zu gleicher Zeit zu Papier brachten, schwerlich gerecht werden.
Dass Nürnberger erstmals auf die Textgestalt der Erstausgaben zurückgreifen kann, ist zwar aufschlussreich, es hilft aber nicht, ein grundsätzlich erhellendes Licht auf Roths Schreiben für die Zeitung zu werfen. Auch das Nachwort erschöpft sich darin, die Wichtigkeit der Feuilletons herauszustellen, ohne aber deren formale und inhaltliche Besonderheiten zu benennen. Hinzu kommen einige kleinere Ungenauigkeiten, wie etwa die, Egon Erwin Kisch als akribischen Rechercheur Joseph Roth gegenüberzustellen. Dass Kisch sein Reporter-Image gekonnt zu inszenieren wusste, ist längst kein Geheimnis mehr. Und dass von Nürnberger eigenartig unkommentiert das Klischee vom trinkenden und beständig um Honorare feilschenden Roth kolportiert wird, ist wenig mehr als die Fortschreibung unerquicklicher Mythenbildung.
Roths liebste rhetorische Figur war das Paradox, in dem die Gegensätze aufeinanderprallen. Das mag auch für diesen Band gelten. Trotz aller Vorbehalte gegen das editorische Konzept bleibt die Lektüre von Joseph Roths Zeitstücken ein famoses Vergnügen. Und so ist es im Sinne des Paradoxons auch nur folgerichtig, dass gerade die Kritik einer Léhar-Aufführung zu den Glanzpunkten gehört. Auf die in ihrer Bösartigkeit kaum zu schlagende Bemerkung, die Frau neben ihm mache "ein Gesicht wie Marmeladebrot", schließt Roth, der in seiner bisweilen scharfen Ironie stets zutiefst menschlich war: "Man dachte an die armen Soldaten im Schützengraben, die vielleicht sterben müssen, ohne die neue Léhar-Operette gesehen zu haben."
WIEBKE POROMBKA
Joseph Roth: "Ich zeichne das Gesicht der Zeit". Essays, Reportagen, Feuilletons.
Hrsg. von Helmuth Nürnberger. Wallstein, Göttingen 2010. 544 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Feuilletons von Joseph Roth inspirieren trotz uninspirierter Edition
Die treffendsten Rechtfertigungen des feuilletonistischen Genres stammen von Joseph Roth selbst. Nicht mehr als Süffisanz brachte er dem "Literaten um jeden Mokkapreis" entgegen, der vor lauter Selbstinszenierung nicht in der Lage sei, eine "Wahrheit kurz pointiert und neu beleuchtet" zu zeigen. Roth hingegen war Emphatiker der kleinen Form. "Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden", schreibt er 1921 im "Berliner Börsen-Courier": "Ich bin ein Spaziergänger."
Indes hat auch die Tatsache, dass seine Feuilletons, allein was die Quantität angeht, seine literarischen Arbeiten um ein Beträchtliches übersteigen, nichts daran geändert, dass sich bis heute hartnäckig das Bild des konservativen, gleichsam melancholisch-resignierten Romanciers der Habsburgermonarchie gehalten hat.
Umso erfreulicher, wenn nun der Gesamtausgabe ein Band mit Texten von Roth an die Seite gestellt wird, herausgegeben von seinem Biographen Helmuth Nürnberger. Er will einmal mehr das Augenmerk auf Roths feuilletonistisches Schaffen lenken und es gegenüber dem Romanwerk ins rechte Licht rücken. Bedauerlicherweise allerdings bleiben Auswahl und Zusammenstellung der Texte in diesem Band genauso wenig durchschaubar wie in der Sache nachvollziehbar.
Das liegt zum einen daran, dass Nürnberger sich nicht auf das Feuilleton als kleine, für den Tag geschriebene Form mit ihren spezifischen stilistischen Merkmalen beschränkt, sondern längere, von vornherein als Buchprojekt konzipierte Texte wie etwa "Juden auf Wanderschaft" hinzuzieht. Aber selbst da, wo es sich um Feuilletons handelt, lässt die vorliegende Auswahl genau jene Texte vermissen, mit denen Roth wie kaum ein anderer "das Gesicht seiner Zeit" zeichnete. "Wiener Symptome" hieß eine Reihe, die er 1919 über das von Elend bestimmte Leben auf den Straßen der österreichischen Hauptstadt für die von Benno Karpeles herausgegebene Zeitung "Der neue Tag" schrieb. Das Prinzip, das hier wie auch in späteren Jahren Roths Feuilletons ausmachte, ist bereits im Titel der Reihe benannt: das "Symptomatisieren". Am Detail und vermeintlich Nebensächlichen zeigte er, woran die Gesellschaft im Großen laborierte, materiell und im Inneren. Das Sterben eines Pferdes, das von der neugierigen Masse mehr bestaunt wird als das Dahinsiechen eines Mitmenschen, konnte so ein Detail sein oder ein beinloser Mann, der auf kümmerlichen Prothesen dasteht und dem niemand die feilgebotenen Schnürsenkel abkauft. Das große und tragische Thema, das Roths eigene Biographie und sein Schreiben grundierte, ist in den frühen Wiener Texten bereits angelegt: die Heimatlosigkeit. Immer wieder sind es Kriegsversehrte, Versprengte, denen er auf den Straßen begegnet und deren Existenz er mit schmerzhafter Klarsicht ins Bild setzt.
Auch in Berlin, wohin Roth 1920 übersiedelte und wo er innerhalb weniger Jahre zu einem der bestbezahlten Journalisten der Weimarer Republik aufstieg, entwarf er Miniaturen einer Stadt, auf deren Straßen die Zeichen des aufkommenden Nationalsozialismus schon Anfang der zwanziger Jahren beängstigend und unübersehbar waren. Statt dieser Zeit- und Gesellschaftssignaturen finden sich im vorliegenden Band über Gebühr viele Reiseberichte, vor allem aber Film- und Theaterrezensionen, die Roth einigermaßen lustlos zum Broterwerb verfasste und die zudem den ästhetischen Reflexionen etwa über das neue Medium Film, wie Benjamin oder Musil sie zu gleicher Zeit zu Papier brachten, schwerlich gerecht werden.
Dass Nürnberger erstmals auf die Textgestalt der Erstausgaben zurückgreifen kann, ist zwar aufschlussreich, es hilft aber nicht, ein grundsätzlich erhellendes Licht auf Roths Schreiben für die Zeitung zu werfen. Auch das Nachwort erschöpft sich darin, die Wichtigkeit der Feuilletons herauszustellen, ohne aber deren formale und inhaltliche Besonderheiten zu benennen. Hinzu kommen einige kleinere Ungenauigkeiten, wie etwa die, Egon Erwin Kisch als akribischen Rechercheur Joseph Roth gegenüberzustellen. Dass Kisch sein Reporter-Image gekonnt zu inszenieren wusste, ist längst kein Geheimnis mehr. Und dass von Nürnberger eigenartig unkommentiert das Klischee vom trinkenden und beständig um Honorare feilschenden Roth kolportiert wird, ist wenig mehr als die Fortschreibung unerquicklicher Mythenbildung.
Roths liebste rhetorische Figur war das Paradox, in dem die Gegensätze aufeinanderprallen. Das mag auch für diesen Band gelten. Trotz aller Vorbehalte gegen das editorische Konzept bleibt die Lektüre von Joseph Roths Zeitstücken ein famoses Vergnügen. Und so ist es im Sinne des Paradoxons auch nur folgerichtig, dass gerade die Kritik einer Léhar-Aufführung zu den Glanzpunkten gehört. Auf die in ihrer Bösartigkeit kaum zu schlagende Bemerkung, die Frau neben ihm mache "ein Gesicht wie Marmeladebrot", schließt Roth, der in seiner bisweilen scharfen Ironie stets zutiefst menschlich war: "Man dachte an die armen Soldaten im Schützengraben, die vielleicht sterben müssen, ohne die neue Léhar-Operette gesehen zu haben."
WIEBKE POROMBKA
Joseph Roth: "Ich zeichne das Gesicht der Zeit". Essays, Reportagen, Feuilletons.
Hrsg. von Helmuth Nürnberger. Wallstein, Göttingen 2010. 544 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
An die große Joseph Roth'sche Werkausgabe, die Volker Breidecker noch einmal lobt, kommt dieser Band natürlich nicht heran. Nicht mal repräsentativ kann sein, was nur 70 Texte von rund 1700 vereint. Dennoch hat Breidecker hier eine handliche Auswahl von Roths journalistischem Werk in Händen, die den großen Vorteil hat, von Helmuth Nürnberger sorgfältig kommentiert zu sein. Im "starken" Anmerkungsteil muss Breidecker blättern, um den Nachweis der Erstdrucke zu erhalten, etwas umständlich findet er. Und "Textgestalt nach Erstdrucken", wie der Band verspricht, schaut für ihn auch anders aus, einfach mehr Absätze einziehen gilt nicht. Um nicht weiter zu murren, verlegt der Rezensent sich lieber auf die Lektüre der wunderbaren Feuilletonkunst Roths, die er hier, und das findet er ausdrücklich klasse, teilweise in originaler Artikelfolge bestaunen kann. Roths Reisen nach Galizien, Russland und auf den Balkan etwa. Und ins "mittägliche Frankreich"! Für Breidecker findet sich hier mehr Dichterisches als in so manchem Roman.
© Perlentaucher Medien GmbH
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