Die Literaturwerdung der "Berliner Schnauze" Berlin war und ist bis heute von Zuwanderung geprägt und hat sich in der Ausbildung einer besonderen Mundart aller Sprachen bedient und sie einem Metropolen-Dialekt einverleibt, den man gemeinhin "Berliner Schnauze" nennt. Von der Straße, aus den Dienstmädchenkammern und Hinterhöfen fand das Berlinerische seinen Weg auf die Bühnen der Schmalzstullentheater und bald auch in die Schreibstuben der Dichter. Was mit Adolf Glaßbrenners Eckensteher anfing, wurde von Theodor Fontane aufgegriffen, von Erich Mühsam, Max Herrmann-Neiße und selbst von Gottfried Benn. Kurt Tucholsky entpuppte sich als Meister des mundsprachlichen Gelegenheitsgedichtes und Erich Weinert berlinerte noch aus dem Exil gegen die Nationalsozialisten an. Eine Mundart wurde hoffähig mit all ihrer Frechheit und Obszönität. Diese erste dokumentarische Anthologie, die sich dieser volksnahen Sprache widmet, umfasst über 250 Gedichte - von 1830 bis heute. Entstanden ist eine Berliner Kulturgeschichte "von unten", die fast wie nebenbei auch die deutsche Geschichte der letzten zweihundert Jahre nachzeichnet - vom preußischen Selbstbewusstsein über den kaiserstädtischen Größenwahn, den Klassenkampf der Goldenen Zwanziger, den Jahren im Krieg, wo vielen Autoren allein die Mundart als Stück Heimat blieb, bis hin zur Rückbesinnung in den Jahren deutsch-deutscher Teilung und deren Überwindung.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2017So klingt Berlin
Vor Gott sind bekanntlich alle Menschen Berliner, auch wenn sie nicht berlinern, also weiter tapfer „ich“ sagen und ans Schöne glauben. Der Großstadtjargon hat freilich seine Vorzüge, erlaubt Sentimentalitäten und Ruppigkeit, ohne anstößig zu werden. Man kann auf Berlinisch fast alles sagen. Nur der Obrigkeit schmeicheln, das geht schlecht, stand doch am Anfang Adolf Glaßbrenner, ein guter Beobachter und bissiger, gern verbotener Satiriker. Diese Anthologie versammelt einen kaum bekannten Reichtum. Die Klassiker sind dabei, die Eckensteher, Walter Mehring, Tucholsky. Überraschungen bietet der letzte Teil, Gedichte seit 1990. Da sind Kleinode dabei, etwa Kathrin Schmidts grandioses Liebes-Einsamkeitsgedicht „lustich is vaschüttjejang“. „Ick kieke, staune, wundre mir … Berlinerische Gedichte von 1830 bis heute“. Hrgs. von Thilo Bock, Wilfried Ihrig, Ulrich Janetzki. Die Andere Bibliothek, 468 Seiten, 42 Euro.
JENS BISKY
Literaturkritiker
im Feuilleton
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vor Gott sind bekanntlich alle Menschen Berliner, auch wenn sie nicht berlinern, also weiter tapfer „ich“ sagen und ans Schöne glauben. Der Großstadtjargon hat freilich seine Vorzüge, erlaubt Sentimentalitäten und Ruppigkeit, ohne anstößig zu werden. Man kann auf Berlinisch fast alles sagen. Nur der Obrigkeit schmeicheln, das geht schlecht, stand doch am Anfang Adolf Glaßbrenner, ein guter Beobachter und bissiger, gern verbotener Satiriker. Diese Anthologie versammelt einen kaum bekannten Reichtum. Die Klassiker sind dabei, die Eckensteher, Walter Mehring, Tucholsky. Überraschungen bietet der letzte Teil, Gedichte seit 1990. Da sind Kleinode dabei, etwa Kathrin Schmidts grandioses Liebes-Einsamkeitsgedicht „lustich is vaschüttjejang“. „Ick kieke, staune, wundre mir … Berlinerische Gedichte von 1830 bis heute“. Hrgs. von Thilo Bock, Wilfried Ihrig, Ulrich Janetzki. Die Andere Bibliothek, 468 Seiten, 42 Euro.
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"Der Band ist eine literaturhistorische Fundgrube und ein Lesespaß mit breitem Themenspektrum." Joachim Kronsbein Der SPIEGEL 20170402