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"Ida" ist der Star, seit Jahrzehnten die erfolgreichste Revuetänzerin in Paris. Doch wie lange kann sie sich noch die Konkurrenz vom Leibe halten? In der zweiten Erzählung dieses Buchs, "Im Rausch des Weins", erlebt Hjalmar, der bäuerliche Milizsoldat, in einer einsamen Villa mit Aïno, der schüchternen, hochmütigen Bürgerfrau, den Beginn einer erotisch-zärtlichen Nacht. Die Situation, wirklichkeitsnah und behutsam erzählt, ergreift uns Leser, wir möchten den Verliebten Glück wünschen. "Idas" Zeit verrinnt. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Uhren unterstreichen den ständigen Wandel:…mehr

Produktbeschreibung
"Ida" ist der Star, seit Jahrzehnten die erfolgreichste Revuetänzerin in Paris. Doch wie lange kann sie sich noch die Konkurrenz vom Leibe halten? In der zweiten Erzählung dieses Buchs, "Im Rausch des Weins", erlebt Hjalmar, der bäuerliche Milizsoldat, in einer einsamen Villa mit Aïno, der schüchternen, hochmütigen Bürgerfrau, den Beginn einer erotisch-zärtlichen Nacht. Die Situation, wirklichkeitsnah und behutsam erzählt, ergreift uns Leser, wir möchten den Verliebten Glück wünschen. "Idas" Zeit verrinnt. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Uhren unterstreichen den ständigen Wandel: Sie heiratet Marc, einen kleinen, maghrebinischen Uhrmacher; ihre Liebe, der Tod ihres Kindes, beides wird vom Pendelschlag unzähliger Uhren begleitet. Ida ist eine äußerst erfolg-reiche Tänzerin in Paris, niemand kann ihr das Wasser reichen. Wird sie mit über 60 Jahren ihrer Rolle immer noch gerecht?"Im Rausch des Weins" erzählt davon, wie sich die Hauptpersonen unerwartet einer aufgewiegelten Menge gegenübersehen. Was kann der Wein des geplünderten Palastes in einem finnischen Dorf anrichten?Die französischsprachige Autorin verstarb 1942 im KZ. Ihr bekanntester Roman wurde erst in den 1990er Jahren entdeckt.
Autorenporträt
Irène Némirovsky (1903¿1942) wurde in Kiew geboren und starb im KZ Auschwitz. Als russische Jüdin lebte sie in Paris, erlangte 1929 erste Bekanntheit durch ihren Roman ¿David Golder¿ und veröffentlichte vor etwa 90 Jahren die Sammlung ¿Films parlés¿ ¿ gesprochene Filme. Aus diesem Buch stammen die beiden hier versammelten Erzählungen. Ihre Sprache und Bilder sind richtungsweisend für die 1930er Jahre in Frankreich. Némirovskys Töchter bewahrten einen Koffer auf, in dem ein unveröffentlichtes Manuskript lag, das als ¿Suite française¿ weltberühmt wurde und 2015 als Film ¿Melodie der Liebe¿ erschien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2022

Als wär's ein Film
Sie beherrscht das Bild der kontrollierbaren Massen: Zwei Erzählungen von Irène Némirovsky

Irène Némirovsky wurde 1903 in Kiew als Tochter eines jüdischen Bankiers geboren. Sie hatte eine französische Gouvernante, wuchs zweisprachig auf, sie wird später auf Französisch schreiben. Während der Russischen Revolution floh die Familie 1919 aus der Ukraine über Finnland und Schweden nach Paris, wo der Vater wieder geschäftlich Fuß fassen konnte. Aber trotz ihrer frühen Erfolge als Schriftstellerin gab ihr Frankreich nicht die ersehnte Staatsbürgerschaft. Im Sommer 1942 wurde sie unter dem Vichy-Regime nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie an Typhus starb. In den vergangenen zwei Jahrzehnten gelangte sie postum zu gefeierter Anerkennung, zunächst mit der Publikation des Romanfragments "Suite Française", danach mit der Wiederveröffentlichung zahlreicher Erzählungen.

Dazu zählen als jüngste Publikation zwei Geschichten, geschrieben 1934, die in ganz unterschiedlichen Milieus auf ihre katastrophische Klimax unausweichlich zusteuern. In beiden spielt die nicht kontrollierbare Menge eine entscheidende Rolle; das eine Mal ist es das krawallige Publikum in einem Varieté, das andere Mal eine zunehmend betrunkene Horde, die zur Masse Mensch verschmilzt. Die Erzählungen erschienen zuerst in dem Band "Films parlés" bei Gallimard, was so viel bedeutet wie "gesprochene Filme" und damit den Stil, den Némirovsky dafür wählte, markiert. Er ist gekennzeichnet von kurzen Dialogen und wie aus dem Off erhaschten Sätzen im Wechsel mit beschreibenden und kommentierenden Passagen, montiert in einer Art Schnitttechnik. In dieser eben filmischen, scharfkantig knappen und zugleich bildreichen Sprache klingt noch etwas vom Expressionismus nach, manchmal versetzt mit schon surreal anmutenden Szenen, der Zeit entsprechend.

In "Ida" beschreibt Némirovsky das letzte Sich-Auflehnen eines gefeierten Revuestars im Paris der Vorkriegszeit, deren bedrohliche Atmosphäre ständig zu spüren ist. Ida Sconin, geboren in einer "kleinen orientalischen Stadt" ohne nähere Bestimmung, ist jetzt sechzig Jahre alt, nur noch Maskerade, Korsett und stählerne Disziplin halten sie bei den Auftritten zusammen. Dazwischen ist sie einem inneren Sprechen - nicht eigentlich innerem Monolog, eher von Herzpaniken getriebenen Gedanken, die sie bis in ihre schreckliche Kindheit zurückzwingen - ausgesetzt, das mit Außenbeobachtungen abwechselt, wie von einem kalten Kameraauge festgehalten.

Irène Némirovsky lässt die Männer, die Ida Sconins Weg zum Ruhm begleitet haben, in physiognomischer Überzeichnung auftreten als Gestalten, denen sie sich zugleich in ihrem zähen Aufstiegswillen ausgeliefert hat. Mitleidlos registriert sie, immer wieder auch aus Idas subjektiver Perspektive, deren Niedergang, flankiert von immer mehr jungen "nackten Frauen" um sie herum auf der Bühne: "Nicht mehr nur fünf sind es inzwischen, nicht zehn, sondern vierzig, hundert, ein Strom, ein bewegtes Meer von Beinen, Schenkeln, Brüsten, nackten Rücken, alle bedeckt von derselben rosa Schminke, die an junge, frisch geschlachtete Schweine erinnert. Diese Zurschaustellung ermüdet die Begierde, und dann erscheint Ida Sconin, mit eng geschnürter Taille, die aufsteigt aus zwei immensen Reifröcken in schwarz-goldenem Satin." Das sind harte Sätze, ohne Erbarmen, dafür von enormer Evokationskraft, die es nicht zulässt, sich ihrem Bann zu entziehen.

Die zweite Erzählung, "Im Rausch des Weins", schildert ein nächtliches Bacchanal, das sich durch die Straßen einer südfinnischen Provinzstadt wälzt. Es ist die Zeit des Bürgerkriegs, kurz nach der Unabhängigkeitserklärung Finnlands vom revolutionären Russland im Dezember 1917. Einheimische Offiziere, die zuvor in russischen Dienst getreten waren, reizen in seinem Verlauf das Jagdfieber von Arbeitermilizen, kommunistische Gruppierungen haben zum Kampf gegen die Großbourgeoisie aufgerufen, es kommt zu Plünderungen. Diese Gemengelage dient Irène Némirovsky als Hintergrund für ihre Dramaturgie eines rasenden Mobs. Es macht die Klasse dieses "Film parlé" aus, dass der Aufstand in der Dunkelheit wie aus dem Nichts zu erstehen scheint, weil ein paar Jungen, dann einige Arbeiter die roten Plakate der Revolutionäre lesen: "Diese Paläste, diese reichen Häuser gehören euch . . . Zerbrecht die Weinflaschen, ohne auch nur einen Tropfen zu trinken. Kameraden, ertränkt die kommende Revolution nicht im Wein." Doch genau das wird geschehen, denn es herrscht Prohibition für das ohnehin darbende Volk, es ist der Wein, dem die Gier gilt, und es ist der Alkohol, der zur Entgrenzung der amorphen Masse führt.

In der aufgeheizten Stimmung der eiskalten Nacht schießen unterdrückte Emotionen zusammen. Sie ergreifen auch Aïno, die der bürgerlichen Mittelschicht angehört, gefangen im Ennui der Ehe mit ihrem selbstzufriedenen Mann, der nicht einmal bemerkt hat, dass sie im Haus ihren Bruder Ivar, einen der gesuchten Offiziere, versteckt hält. Während es Ivar nicht mehr in seinem Versteck hält und er wider alle Vernunft ausbricht, geht auch Aïno, erregt von unterdrücktem Verlangen, hinunter auf die Straße, zu dem fremden Milizsoldaten, den sie seit Tagen vor ihrem Haus sieht. Hjalmar und Aïno finden zueinander, für einmal, im Rausch des Begehrens, fern des sich anbahnenden Exzesses, in einem verlassenen alten Palast. "Im Dunkel leuchtet ein Spiegel, er reflektiert den Mond. Aïno und Hjalmar schauen einander einen Moment in die Augen, sie sprechen nicht", und dann: "Im alten Spiegel zwei stumme Münder, brennend und wie von Sinnen aneinandergepresst." Némirovsky erzählt, in Schnitt und Gegenschnitt, ihre Geschichte ganz aus, zwischen dem Drinnen und dem Draußen, dem inneren und dem äußeren Geschehen. Das macht ihre mitreißende Kraft aus.

Die Übersetzung der beiden Erzählungen hat Cordula Scheel besorgt, die den wechselnden Rhythmus der Sprache Irène Némirovskys einfängt. Der Verlag hat das schmale Bändchen aus der Reihe "Perlen der Literatur" edel gestaltet, gebunden in dunkelblaues Leinen, mit hübschem Vorsatzpapier und (scheinbar) handschriftlichen Zwischentexten, die an die Schrifttafeln alter Stummfilme erinnern (warum über fast jeder Seite ein zierlicher schwarzer Frauenschuh abgebildet ist, bleibt ein Geheimnis). Jedenfalls erhöht diese Aufmachung als kleine bibliophile Kostbarkeit die Aufmerksamkeit, die ihrem Inhalt zusteht. ROSE-MARIA GROPP

Irène Némirovsky:

"Ida, Im Rausch des Weins". Gesprochene Filme.

Aus dem Französischen und Vorwort von

Cordula Scheel. Input- Verlag, Hamburg 2022. 158 S., geb., 15,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Rose-Maria Gropp freut sich nicht nur über die bibliophile Aufmachung des kleines Bandes mit zwei Erzählungen von Irene Nemirovsky, auch der Inhalt zieht sie in seinen Bann. Die beiden Geschichten über die Energie der Masse Mensch, in einem Varieté beziehungsweise unter Betrunkenen auf der Straße, überzeugen Gropp durch filmische Dialoge und Schnitte und einen expressionistischen Stil, der für sie "enorme Evokationskraft" freisetzt. Wie die Autorin das innere und das äußere Geschehen vermittelt, findet die Rezensentin faszinierend. Cordula Scheels Übersetzung fängt den wechselnden Sprachrhythmus gut ein, meint sie.

© Perlentaucher Medien GmbH