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Unsere globalisierte Gesellschaft bietet eine scheinbar unendliche Vielfalt an Ernährungsoptionen, die Essen zum individuellen Lifestyle machen. Christine Ott zeigt jedoch in ihrem Buch 'Identität geht durch den Magen. Mythen der Esskultur', dass bei jeder Ess-Entscheidung mächtige Mythen wirken: Sie propagieren Auffassungen von Mann und Frau, Kultur und Natur, Zivilisation und Barbarei, Gesellschaft und Vereinzelung. Anhand politischer Statements, ernährungsreformerischer Ideologien, literarischer Texte und Filme beleuchtet sie kritisch ebenso populäre wie umstrittene Gastromythen (u.a. die…mehr

Produktbeschreibung
Unsere globalisierte Gesellschaft bietet eine scheinbar unendliche Vielfalt an Ernährungsoptionen, die Essen zum individuellen Lifestyle machen. Christine Ott zeigt jedoch in ihrem Buch 'Identität geht durch den Magen. Mythen der Esskultur', dass bei jeder Ess-Entscheidung mächtige Mythen wirken: Sie propagieren Auffassungen von Mann und Frau, Kultur und Natur, Zivilisation und Barbarei, Gesellschaft und Vereinzelung. Anhand politischer Statements, ernährungsreformerischer Ideologien, literarischer Texte und Filme beleuchtet sie kritisch ebenso populäre wie umstrittene Gastromythen (u.a. die Totem-Funktion von französischem Käse, das kulinarische Genie der Italiener, das Phantasma der essbaren Frau, das Reinheitsversprechen der Muttermilch) und deckt auf, was wirklich hinter den wechselnden Ess-Identitäten steckt.
Autorenporträt
Ott, ChristineChristine Ott studierte Romanistik und Germanistik in Eichstätt und Saint-Étienne und war dann an den Universitäten Heidelberg, Marburg und Harvard tätig. 2009 habilitierte sie sich mit einer Studie über die Bibliophagen. Seit 2011 ist sie Professorin für Italienische und Französische Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2017

Schlecht gefrühstückt ist halb versemmelt

Der Franzose ein Chauvinist, der Deutsche eine Dumpfbacke? Christine Ott untersucht Mythen der Esskultur. Warum die Lektüre am Ende doch nicht das erhoffte Festmahl wird, hat mehrere Gründe.

Ist es ein Mythos, dass die Deutschen nichts vom guten Essen verstehen, oder ist es eine üble Verleumdung des selbstgefälligen ehemaligen Erbfeindes Frankreich? Die Wahrheit offenbart die Sprache: Sind die Deutschen missmutig, haben sie schlecht gefrühstückt. Misslingt ihnen etwas, versemmeln sie es. Spielen sie jemandem übel mit, hauen sie ihn in die Pfanne. Sie haben Dinge satt, werden sauer, finden alles zum Kotzen, müssen zu allem ihren Käse geben und machen sich über arme Würstchen lustig. Eine Kulturnation, deren zerrüttetes Verhältnis zum Genuss sich sprachlich derart unappetitlich manifestiert, leistet ganze Arbeit am Mythos der teutonischen Feinschmeckerfeindlichkeit.

Das jedenfalls findet Christine Ott, die Mythen der Esskultur in aller Welt und allen Lebenslagen untersucht hat und dabei so verblüffende Erkenntnisse wie die metaphorisch-kulinarisch-germanische Griesgrämigkeit zu Tage fördert, allerdings auch - das sei gleich gesagt - ziemlich viel Schaum aufschlägt. Dieses Buch könnte ein Festmahl für alle Gourmets und Gourmands sein: Eine Literaturwissenschaftlerin macht sich die kultursemiotische Methodik von Roland Barthes' "Mythen des Alltags" zu eigen, um die Mythologie unserer Ernährungspraktiken zu durchleuchten, zu erklären und notfalls zu entlarven. Sie stützt sich dabei vor allem auf literarische Quellen, greift aber genauso auf die Soziologie und Philosophie, Ethnologie und Anthropologie, Psychoanalyse und Ernährungswissenschaft zurück, weil sie schnell selbst begreift, welche Unschärfen in der Literatur als Leumund lauern - Fiktion ist eben keine Empirie.

Mit diesem breitgefächerten Instrumentarium werden die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Psyche, Nationalküchen und nationaler Identität, Religion und der Ethik des Essens oder der Natur und Kultur unserer Nahrung untersucht. Es geht um Muttermilch und Fleischeslust, gastrosexuelle Männer und essbare Frauen, Nahrungstabus und pazifistische Ernährungsideologien, kurzum - der Tisch ist reich gedeckt, und der Appetit des erkenntnishungrigen Schlemmers könnte größer nicht sein.

Christine Ott ist eine fleißige Wissenschaftlerin, die über ihren Lesern ein wahres Füllhorn an Werken und Schriften, Untersuchungen und Studien ausschüttet - so gewissenhaft, dass sie in epischer Länge alle erdenklichen Autoren zitiert und deren Schlüsse danach noch einmal mit eigenen Worten zusammenfasst, als fürchte sie, ihr Publikum könnte schwer von Begriff sein. Dieses aber fragt sich umso dringlicher, je länger Ott referiert und repetiert, je breiter der Strom fremder Thesen wird, was denn eigentlich ihre eigene Meinung sei? Es ist ein wenig so, als stochere man in einer Buchstabensuppe herum, aus der man sich selbst seine Schlüsselsätze herausklauben muss - und hat am Ende doch nichts auf dem Löffel.

Viele Fragen werden gestellt, wenige beantwortet, viele Mythen werden zitiert, aber kaum einmal überzeugend verifiziert oder demaskiert. Und selbst wenn ein Autor wie der Hobbykoch Carsten Otte groben Unfug behauptet - er glaubt allen Ernstes, dass der gastrosexuelle Mann der Retter der deutschen Kulinarnation sei -, ist das Christine Ott nur einen betulichen, halbherzigen Tadel wert.

Dafür bekommen die Franzosen im Kapitel "Essen und nationale Identität" ihr Fett weg: Sie führten einen "chauvinistisch-essentialistischen Gastrodiskurs", weil sie der "Idee der unauflöslichen Verbindung einer Nationalküche mit den Produkten und dem ,terroir', dem ,Erdboden' des Landes", anhingen. Worin der Chauvinismus bestehen soll, dass Tauben aus der Bresse, Trüffel aus dem Périgord oder Chardonnays aus dem Chablis einen ganz eigenen, mit nichts sonst auf der Welt vergleichbaren Geschmack haben, bleibt rätselhaft.

Auch das "Système d'appelations d'origine controlée" ist Ott nicht geheuer. Es falsch zu schreiben kann auch einer Romanistin passieren. Es aber als "gezielte politische Aktionen" zu denunzieren ist eine Simplifizierung, die der Komplexität der französischen Küchenkultur nicht gerecht wird - allein schon deswegen, weil es bei den AOC weniger um Politik als vielmehr um den reinen Geschmack geht, der nicht verfälscht werden soll.

Und wenn sich die Autorin über die Unverwechselbarkeit von Parma-Schinken Gedanken macht, daran zweifelnd, ob man sein Aroma überhaupt "objektivieren" könne, kommt sie zu dieser inquisitorischen Frage: "Gibt es eine ,Realität' des Essens jenseits der diskursiven Zuschreibungen?" Jeder Mensch, der gerne isst und kocht und Parma-Schinken mag, möchte da heftig nicken: Ja, sie gibt es sehr wohl, denn nicht alles ist Marketing. Es existieren auch Dinge, die wirklich schmecken.

Wenn wenigstens die Sprache so appetitlich wäre, wie es der Gegenstand des Buches verdient, wäre alles halb so schlimm. Dann könnte man Otts Opus als akkurate Materialsammlung in seiner Handbibliothek deponieren. Stattdessen fragt man sich, ob tatsächlich eine Professorin für Literaturwissenschaft am Werk war, wenn man bei Wörtern wie "vorprogrammiert" mit Doppelpräfixen gequält wird oder solche Drechseleien lesen muss: "Deshalb können symbolisch aufgeladene Essenshandlungen, in denen einer dieser Gastromythen unvermittelt Evidenz erlangt, das, was in Wirklichkeit ein Abstraktum ist (nationale Identität, religiöse Zugehörigkeit), als unmittelbare, sinnliche Evidenz erscheinen lassen."Auch das Schlusskapitel wird nicht zum furiosen Finale, sondern referiert noch einmal langatmig in Imperfekt und Plusquamperfekt das gesamte Buch, bevor dann in gröbster Vereinfachung die Prediger des "Gastrokults der Gegenwart" in Apokalyptiker und Weltverbesserer eingeteilt werden und Christine Ott herausfindet, dass es in Deutschland "sehr wohl offizielle Diskurse über das Essen gibt. Einige dieser Diskurse lassen sogar zu, dass man über Genuss beim Essen spricht" - spätestens jetzt hätte jeder Leser der vielfältigen Feinschmeckerfachpresse oder auch dieser Zeitung genügend Grund für schallendes Lachen.

Schließlich wird man nach so viel schwer verdaulicher Kost mit drei banalen Thesen verabschiedet, von der wir uns hier nur die dritte auf der Zunge zergehen lassen wollen: "Essen, ein primärer Sinnesreiz, verheißt sinnliche Nähe, weil es neben dem sexuellen Akt (und der Schwangerschaft) die größte Möglichkeit eines unmittelbaren (äußeren und inneren) Kontaktes mit etwas ,Anderem' darstellt. Essen, so lautet die dritte These, ist uns heilig, weil es ein Mittel zur Erzeugung von Präsenz ist." Jetzt brauchen wir einen Schnaps.

JAKOB STROBEL Y SERRA

Christine Ott: "Identität geht durch den Magen". Mythen der Esskultur.

S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 493 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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angenehm unaufgeregt und unterhaltsam sowie - mit Bezug auf zahlreiche Quellen - sehr informativ. Janina Fleischer Leipziger Volkszeitung 20170503