Warum kann sich ein psychisch kranker Patient in einer fest strukturierten Gruppe mit klar definierten Arbeitsaufgaben ganz normal verhalten? Und warum können völlig gesunde, unauffällige Berufstätige, die innerhalb einer regressiven Gruppe mit unangemessener Arbeitsstruktur und/oder psychisch instabilen Vorgesetzten arbeiten, sehr schnell zu abnormem Verhalten regredieren? Die Beziehungen zwischen den unbewußten Konflikten des Individuums, den regressiven Gruppenprozessen und den Einflüssen der Organisationsführung können die latent immer vorhandene Angst und Aggression abschwächen oder verstärken.
Otto F. Kernberg entwirft in diesem Buch eine Psychologie der Gruppen und Massen, der Macht und der Führung. Er untersucht dabei die Reaktionen von Individuen, wenn sie sich als Teil einer großen, nicht organisierten Masse erfahren, und die Bedingungen, unter denen in regredierten unstrukturierten Gruppen Aggression freigesetzt wird. In diesem Zusammenhang zeigt Kernberg auf,inwieweit Ideologie und Bürokratie als Schutzmaßnahmen beziehungsweise als soziale Abwehr gegen Aggression fungieren können.
Ein eigenes Kapitel ist der »moralischen Dimension der Führung« gewidmet und behandelt narzißtische und paranoide Persönlichkeitsmerkmale ebenso als positive Aspekte und Voraussetzung für eine Führungspersönlichkeit wie auch als Gefahr im Hinblick auf ihre moralische Integrität und das Funktionieren der Organisation.
Otto F. Kernberg entwirft in diesem Buch eine Psychologie der Gruppen und Massen, der Macht und der Führung. Er untersucht dabei die Reaktionen von Individuen, wenn sie sich als Teil einer großen, nicht organisierten Masse erfahren, und die Bedingungen, unter denen in regredierten unstrukturierten Gruppen Aggression freigesetzt wird. In diesem Zusammenhang zeigt Kernberg auf,inwieweit Ideologie und Bürokratie als Schutzmaßnahmen beziehungsweise als soziale Abwehr gegen Aggression fungieren können.
Ein eigenes Kapitel ist der »moralischen Dimension der Führung« gewidmet und behandelt narzißtische und paranoide Persönlichkeitsmerkmale ebenso als positive Aspekte und Voraussetzung für eine Führungspersönlichkeit wie auch als Gefahr im Hinblick auf ihre moralische Integrität und das Funktionieren der Organisation.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2000Ausgeprägte Fluchtkultur
In weiter Runde so nah: Otto Kernbergs Gruppenpsychoanalyse
Otto F. Kernberg, der lange Zeit in Chile als Psychoanalytiker arbeitete, dann in den Vereinigten Staaten Wissenschaftskarriere machte und Vorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung wurde, hat mehrere gewichtige Bücher geschrieben, unter anderem über "Liebesbeziehungen" und "Wut und Hass", deren Übersetzungen bei Klett-Cotta vorliegen. Sein jüngstes Werk handelt von Gruppen und Massen, von Führungskräften und Organisationen. Es imponiert durch sein hohes Abstraktionsniveau, irritiert durch seine metaphern- und gleichnisfreie Begrifflichkeit, frustriert durch den für einen Psychoanalytiker ganz untypischen Verzicht auf Fallbeispiele und überrascht durch eine populäre Geschichte mitten im strengen Text: Ein Spaßvogel schickte eines Tages jedem Bewohner eines kleinen Dorfes ein Telegramm mit der Aufforderung: "Flieh - alles ist aufgeflogen!" Woraufhin die Hälfte der Einwohner Hals über Kopf das Weite suchte.
Diese Geschichte passt nicht in den Kontext (es geht um die paranoide Regression in einer psychiatrischen Institution). Wenn man nicht annehmen will, dass in besagtem Dorf schon vor der Telegrammaktion eine "alles beherrschende Atmosphäre des Misstrauens" bestand, spricht das paranoische Verhalten der Fliehenden gegen Kernbergs These, dass Individuen in Gruppen einem Regressionsdruck unterliegen, der zu einer "elementaren Gefahr für die persönliche Identität der Mitglieder" wird. Die fliehenden Dorfbewohner haben sicher nicht alle eine Leiche im Keller (so wenig, wie alle Zurückbleibenden keine haben), aber sie reagieren, schon bevor sie der Gruppenregression ausgesetzt sind, paranoid. Demnach wäre das Individuum stets in Gefahr - stets ein potenzielles Herdentier. Wollte Kernberg mit dieser Parabel unbewusst gegen die eigene Gruppentheorie Einspruch erheben?
Wenn dem so wäre, müsste die psychoanalytische Untersuchung von Gruppenprozessen schon vor der Gruppenbildung einsetzen. Aber Kernberg und seine Gewährsleute - neben Freud vor allem Wilfred Bion und Kenneth Rice, daneben Anzieu, Turquet, Chasseguet-Smirgel - sehen nur die Führer oder Leiter, nicht die Gruppenmitglieder als Individuen mit (schizoiden, zwangsneurotischen, narzisstischen oder paranoischen) Persönlichkeitsmerkmalen.
Bei den hier untersuchten Gruppen und Organisationen handelt es sich fast ausschließlich um therapeutische Gemeinschaften und psychiatrische Institutionen, mit denen Kernberg seine Erfahrungen hat. Wie zu erwarten, drängt es ihn von diesen Erfahrungen weg ins Allgemeine der Theorie. Verblüffend ist jedoch, dass ihm, wenn er doch einmal Ross und Reiter nennt, als Beispiel für das Ross Hitler und Stalin dienen. Muss man daraus schließen, dass die ihm bekannten Gruppenprozesse auf Terror hinauslaufen? Oder soll der fragliche Hinweis - unbewusst wie bei der Dorfparabel - daran erinnern, dass auch die Mitglieder einer regredierten Gruppe oder Organisation, trotz des Verlusts ihrer autonomen Überich-Funktionen, für ihr Tun und Lassen verantwortlich bleiben?
Die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Individuums wird von Kernberg ausgespart. Gruppenmitglieder müssen offenbar prinzipiell als psychisch krank gelten. Aber als wie krank? Wenn man erfährt, dass in paranoiagenen Institutionen gerade normale Menschen die größte Entfremdung entwickeln und dass umgekehrt psychisch Kranke sich in strukturierten Gruppen oft ganz normal verhalten, fragt man sich als Laie, wie es um den eigenen Geisteszustand bestellt sei. Was die Massenkultur betrifft, wird diese Frage in einem der letzten Kapitel schroff beantwortet: Wer immer an der Massenkultur - vom Zeitungskommentar bis zur Daily Soap - teilhat, regrediert damit in eine Masse. Ihr Horizont entspricht dem eines Kindes in der Latenzphase (fünf bis zehn Jahre) - am einen Pol die narzisstische Welt der Seifenoper, am anderen die paranoide Welt des Thrillers.
Wie aber können Erwachsene in die Latenzphase regredieren? Durch das lustvolle Eintauchen in eine Großgruppe oder Masse. Sitzt der TV-Konsument denn nicht isoliert vor seiner Glotze? Er wird, indem er gleichzeitig mit den anderen dort sitzt (eine heute bereits überholte Prämisse), eins mit ihnen und verliert vorübergehend seine individualisierten Überich-Funktionen an die Konventionalität. Erklärt uns Kernberg.
Mitunter hat man den Eindruck, dass er etwas für erklärt hält, wenn er ein paar bedeutende Sätze dafür gefunden hat, Sätze, die nicht selten aus mehr als fünfzig Wörtern bestehen (und zum Glück kongenial ins Deutsche übertragen sind). Immerhin teilt Kernberg uns auf diese Weise viel darüber mit, was Psychoanalytiker heute von Gruppen, Organisationen und Führungskräften wissen oder zu wissen meinen oder nicht wissen wollen.
KARL MARKUS MICHEL
Otto F. Kernberg: "Ideologie, Konflikt und Führung". Psychoanalyse von Gruppenprozessen und Persönlichkeitsstruktur. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2000. 365 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In weiter Runde so nah: Otto Kernbergs Gruppenpsychoanalyse
Otto F. Kernberg, der lange Zeit in Chile als Psychoanalytiker arbeitete, dann in den Vereinigten Staaten Wissenschaftskarriere machte und Vorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung wurde, hat mehrere gewichtige Bücher geschrieben, unter anderem über "Liebesbeziehungen" und "Wut und Hass", deren Übersetzungen bei Klett-Cotta vorliegen. Sein jüngstes Werk handelt von Gruppen und Massen, von Führungskräften und Organisationen. Es imponiert durch sein hohes Abstraktionsniveau, irritiert durch seine metaphern- und gleichnisfreie Begrifflichkeit, frustriert durch den für einen Psychoanalytiker ganz untypischen Verzicht auf Fallbeispiele und überrascht durch eine populäre Geschichte mitten im strengen Text: Ein Spaßvogel schickte eines Tages jedem Bewohner eines kleinen Dorfes ein Telegramm mit der Aufforderung: "Flieh - alles ist aufgeflogen!" Woraufhin die Hälfte der Einwohner Hals über Kopf das Weite suchte.
Diese Geschichte passt nicht in den Kontext (es geht um die paranoide Regression in einer psychiatrischen Institution). Wenn man nicht annehmen will, dass in besagtem Dorf schon vor der Telegrammaktion eine "alles beherrschende Atmosphäre des Misstrauens" bestand, spricht das paranoische Verhalten der Fliehenden gegen Kernbergs These, dass Individuen in Gruppen einem Regressionsdruck unterliegen, der zu einer "elementaren Gefahr für die persönliche Identität der Mitglieder" wird. Die fliehenden Dorfbewohner haben sicher nicht alle eine Leiche im Keller (so wenig, wie alle Zurückbleibenden keine haben), aber sie reagieren, schon bevor sie der Gruppenregression ausgesetzt sind, paranoid. Demnach wäre das Individuum stets in Gefahr - stets ein potenzielles Herdentier. Wollte Kernberg mit dieser Parabel unbewusst gegen die eigene Gruppentheorie Einspruch erheben?
Wenn dem so wäre, müsste die psychoanalytische Untersuchung von Gruppenprozessen schon vor der Gruppenbildung einsetzen. Aber Kernberg und seine Gewährsleute - neben Freud vor allem Wilfred Bion und Kenneth Rice, daneben Anzieu, Turquet, Chasseguet-Smirgel - sehen nur die Führer oder Leiter, nicht die Gruppenmitglieder als Individuen mit (schizoiden, zwangsneurotischen, narzisstischen oder paranoischen) Persönlichkeitsmerkmalen.
Bei den hier untersuchten Gruppen und Organisationen handelt es sich fast ausschließlich um therapeutische Gemeinschaften und psychiatrische Institutionen, mit denen Kernberg seine Erfahrungen hat. Wie zu erwarten, drängt es ihn von diesen Erfahrungen weg ins Allgemeine der Theorie. Verblüffend ist jedoch, dass ihm, wenn er doch einmal Ross und Reiter nennt, als Beispiel für das Ross Hitler und Stalin dienen. Muss man daraus schließen, dass die ihm bekannten Gruppenprozesse auf Terror hinauslaufen? Oder soll der fragliche Hinweis - unbewusst wie bei der Dorfparabel - daran erinnern, dass auch die Mitglieder einer regredierten Gruppe oder Organisation, trotz des Verlusts ihrer autonomen Überich-Funktionen, für ihr Tun und Lassen verantwortlich bleiben?
Die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Individuums wird von Kernberg ausgespart. Gruppenmitglieder müssen offenbar prinzipiell als psychisch krank gelten. Aber als wie krank? Wenn man erfährt, dass in paranoiagenen Institutionen gerade normale Menschen die größte Entfremdung entwickeln und dass umgekehrt psychisch Kranke sich in strukturierten Gruppen oft ganz normal verhalten, fragt man sich als Laie, wie es um den eigenen Geisteszustand bestellt sei. Was die Massenkultur betrifft, wird diese Frage in einem der letzten Kapitel schroff beantwortet: Wer immer an der Massenkultur - vom Zeitungskommentar bis zur Daily Soap - teilhat, regrediert damit in eine Masse. Ihr Horizont entspricht dem eines Kindes in der Latenzphase (fünf bis zehn Jahre) - am einen Pol die narzisstische Welt der Seifenoper, am anderen die paranoide Welt des Thrillers.
Wie aber können Erwachsene in die Latenzphase regredieren? Durch das lustvolle Eintauchen in eine Großgruppe oder Masse. Sitzt der TV-Konsument denn nicht isoliert vor seiner Glotze? Er wird, indem er gleichzeitig mit den anderen dort sitzt (eine heute bereits überholte Prämisse), eins mit ihnen und verliert vorübergehend seine individualisierten Überich-Funktionen an die Konventionalität. Erklärt uns Kernberg.
Mitunter hat man den Eindruck, dass er etwas für erklärt hält, wenn er ein paar bedeutende Sätze dafür gefunden hat, Sätze, die nicht selten aus mehr als fünfzig Wörtern bestehen (und zum Glück kongenial ins Deutsche übertragen sind). Immerhin teilt Kernberg uns auf diese Weise viel darüber mit, was Psychoanalytiker heute von Gruppen, Organisationen und Führungskräften wissen oder zu wissen meinen oder nicht wissen wollen.
KARL MARKUS MICHEL
Otto F. Kernberg: "Ideologie, Konflikt und Führung". Psychoanalyse von Gruppenprozessen und Persönlichkeitsstruktur. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2000. 365 S., geb., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Karl Markus Michel hat an diesem Buch, das sich mit Gruppenpsychologie beschäftigt, viel auszusetzen. Der Autor scheine vor allem ins "Allgemeine der Theorie" zu streben, bemängelt der Rezensent. So fehle es, wie so oft bei psychoanalytischen Untersuchungen, an Fallbeispielen, und durch die "metaphern- und gleichnisfreie Begrifflichkeit" bliebe vieles zu abstrakt. Auch inhaltlich überzeugt ihn das Buch nicht. Bei den Überlegungen zu Gruppenprozessen beispielsweise vermisst Michel Überlegungen zur Zurechnungsfähigkeit von Individuen. Die Theorie vom Fernsehkonsumenten als Gruppenmitglied hält Michel für überholt. Manche These des Autors sieht der Rezensent durch dessen eigene Ausführungen aus den Angeln gehoben. Einzig zur Übersetzung äußert er sich positiv: Elisabeth Vorspohl habe die zum Teil überlangen Sätze "kongenial" ins Deutsche übertragen, lobt Michel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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