Die totalitäre Praxis ist verbrecherisch. Ist das Verbrechen aber schon in der Theorie angelegt? Und wie hängen Kommunismus und Nationalsozialismus historisch und ideologisch zusammen? Den nationalsozialistischen Verbrechen liegt keine ernst zu nehmende Ideologie zugrunde, die kommunistischen Verbrechen haben nichts mit der marxistischen Theorie zu tun - so lauten zwei gängige Vorurteile. In beiden Fällen entlastet man das Denken von seinen möglichen Folgen: Die Praxis des Bösen steht für sich. Doch ist die Praxis aus sich heraus verstehbar? Verkennt man nicht das totalitäre Potential des Marxismus, wenn man behauptet, er hätte mit dem GULag nichts zu tun? Und unterschätzt man nicht die Systematik der hitlerschen Weltanschauung, wenn man im Judenmord nicht deren logische Konsequenz erkennt? Sich diesen Fragen unvoreingenommen zu stellen, unternimmt der vorliegende Sammelband.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jörg Baberowski ist nicht glücklich mit der Eindeutigkeit, mit der die allermeisten Autoren in diesem Sammelband behaupten zu wissen, wie Ideologie und Gewalt im Stalinismus und im Nationalsozialismus Hand in Hand gingen. Hitler und Stalin als Vollstrecker von Ideen zu begreifen, wie hier vorgeschlagen wird, scheint ihm die Gewaltexzesse totalitärer Diktaturen nur zum Teil zu erklären. Für den Rezensenten der Grund, Frank-Lothar Krolls Beitrag im Band besonders hervorzuheben. Laut Baberowski der einzige Autor, der auch den Kontext erwähnt, in dem sich die thematisierten krausen Ideen verwirklichten. Für den Rezensenten ein entscheidender Aspekt zum Verständnis von Diktaturen und ihren Auswirkungen auf die Menschen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2014Nur die halbe Wahrheit
Ideologische Obsessionen und verbrecherische Taten können zusammenhängen
Die Mordexzesse der totalitären Diktaturen sind zum Signum des 20. Jahrhunderts geworden. Niemals zuvor wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit getötet - nicht, weil sie Widerstand leisteten und Gehorsam verweigerten, sondern weil Regierungen entschieden hatten, dass sie nicht weiterleben durften. Schon immer haben Autokraten und Despoten von ihren Untertanen verlangt zu gehorchen, und schon immer wurden Menschen kollektiv bestraft, wenn sich die Herrschaft davon einen Abschreckungsgewinn versprach. Aber warum mussten Millionen Menschen sterben, die weder ungehorsam gewesen waren noch Widerstand geleistet hatten und die von niemandem als Gefahr empfunden werden konnten? Und warum waren die totalitären Diktaturen in ihren Methoden einander so ähnlich, obgleich sie doch unterschiedliche Ziele verfolgten?
Auf diese Frage geben die Autoren eine klare und unmissverständliche Antwort: Weil die Täter überzeugt gewesen seien, Notwendiges und Unabänderliches zu vollstrecken. Zwar sei die Ideologie der Nationalsozialisten geistig arm und dürftig, die kommunistische Weltanschauung lebensfremd und praxisfern gewesen. Und dennoch hätten sich die Täter von ihr leiten lassen. Deshalb seien die monströsen Verbrechen des 20. Jahrhunderts ohne ihre "geistige Dimension" überhaupt nicht zu verstehen. Die Autoren unterstellen, dass es einen Zusammenhang zwischen ideologischen Obsessionen und verbrecherischen Taten gab.
Aber wie kann man belegen, dass zwischen Ideen und Taten ein zwingender Zusammenhang besteht? Auch auf diese Frage geben die Autoren eine einfache Antwort. Sie unterstellen, dass ideologische Texte Handlungsanweisungen sind, für jene, die sie verfassen, und für jene, die sie lesen und sich mit ihnen identifizieren. Nur aus dieser Perspektive ergibt es einen Sinn, Stalin und Hitler als Vollstrecker von Ideen zu begreifen, die im 19. Jahrhundert entstanden waren. Karl Marx sei ein totalitärer Ideologe gewesen, schreibt Hendrick Hansen, dessen Welterklärungsmodell den Anspruch erhoben habe, dass sich die Wirklichkeit an ihm messen lassen müsse. Gegen das Weltgesetz aber konnte niemand recht behalten. Marx, so Hansen, habe niemals einen Zweifel daran gelassen, dass der ewige Kampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen nur mit Gewalt entschieden werden könne. Seine Schriften seien Handlungsanweisungen, auf die sich Kommunisten mit guten Gründen berufen konnten, als sie den Entschluss fassten, ihre eingebildeten Widersacher zu töten.
Deshalb sei der ideologisch zugerichtete Täter ein Täter mit "gutem Gewissen" gewesen, schreibt Lothar Fritze. Denn er habe sich für den Vollstrecker des historisch Notwendigen und Unabänderlichen halten können. Der moralische Referenzrahmen wird verschoben, wenn Gewalt nicht länger verboten, sondern geboten ist. Kein Mord werde unter solchen Bedingungen noch als anstößig empfunden. Fritze spricht von utilitaristischer Opfer-Kalkulation. Sie entscheide am Ende darüber, welche Menschen im Dienst des Fortschritts aus der Welt geschafft werden dürfen. Nicht weniger eindeutig urteilen die Autoren über die Wirklichkeit des Nationalsozialismus. Die Vernichtung der europäischen Juden, schreibt Wolfgang Bialas, habe sich nicht aus Umständen und Kontexten ergeben, sondern sei um ihrer selbst willen und vorsätzlich geplant worden. Nicht einmal auf die Kriegführung der Wehrmacht hätten die Nationalsozialisten Rücksicht genommen, weil es ihnen auf nichts anderes angekommen sei, als Europa vor der "jüdisch-bolschewistischen" Bedrohung zu bewahren. Diesem Ziel hätten die Weltanschauungskrieger alle militärischen Planungen untergeordnet.
Zwar verfolgten Nationalsozialisten und Bolschewiki unterschiedliche Ziele, in ihrer Wahrnehmungsstruktur seien sie einander aber sehr ähnlich gewesen, schreiben Barbara Zehnpfennig und Friedrich Pohlmann. Die Weltanschauung der Nationalsozialisten und der Kommunisten sei einem triadischen Schema gefolgt: vom Urkommunismus über die Klassenspaltung zum Kommunismus und vom Kampf der Rassen über die Rassenvermischung zur Entzweiung der Rassen. In beiden Ideologien habe es einen paradiesischen Urzustand, einen Sündenfall und eine Erlösung gegeben. Ohne Entwicklungsgesetze keine Bewegung und ohne Feinde keine Erlösung, auf diese einfache Formel könnte man bringen, worin die Essenz der Ideologien bestand.
Aber kann man die Schrecken der totalitären Diktaturen wirklich aus den Texten herleiten, auf die sich die Vollstrecker beriefen? Frank-Lothar Kroll weiß, dass solche Erklärungen nur die halbe Wahrheit sind. Er ist der einzige Autor, der in diesem Buch auch über den Kontext spricht, in dem sich paranoide Wahnvorstellungen verwirklichten. Zwar habe Hitler den biologischen Antisemitismus als unvermeidlichen Akt der Notwehr verstanden und sein Programm der Vernichtung kompromisslos verfolgt. Indem er sich des Juden erwehre, so habe er gesagt, kämpfe er für das Werk des Herrn. Aber ohne den "konkreten Ermöglichungsgrund", so fügt Kroll hinzu, hätte sich der Massenmord kaum ins Werk setzen lassen.
Wie werden aus Vorstellungen Taten? Warum wurden in der Sowjetunion Stalins Millionen auf dem Altar des Fortschritts und des Klassenkampfs geopfert, in der DDR aber nicht? Warum starben Kommunisten, loyale Anhänger des Regimes, Arbeiter und Bauern, obgleich ihr Tod im Heilsplan des Kommunismus nicht vorgesehen war? Wie lässt sich erklären, dass nach Stalins Tod die gleiche Ideologie dazu verwendet wurde, die Exzesse des Jahres 1937 zu verurteilen? Wie wurden aus Tätern Anwälte der Entstalinisierung? Weshalb konnten die Nationalsozialisten im Jahr 1941 tun, was 1938 unmöglich gewesen wäre?
In beiden Fällen ergaben sich die Vernichtungsexzesse nicht aus Vorstellungen, sondern aus Kontexten, in denen Vorstellungen Wirklichkeit werden konnten. Ideologien können dem Handeln einen Sinn geben. Mörder glauben, gute Menschen zu sein, weil sie nur vollstrecken, was unvermeidlich ist. Sie rechtfertigen sich, indem sie auf unumstößliche Wahrheiten verweisen. Aber Ideen schreiben Menschen nicht vor, was sie tun sollen. Jeder kann selbst entscheiden, was er mit einer Idee, die ihm gefällt, anfangen will. Josef Stalin und August Bebel waren Marxisten, aber sie waren auch verschiedene Menschen mit verschiedenen Aufgaben in verschiedenen Kontexten. Wer die Wahrheit in Reden, Texten und Rechtfertigungen sucht, erfährt, wie geredet, geschrieben und gesprochen wird, aber nicht, was die Diktatur ist und was sie mit den Menschen macht. Deshalb darf sich der Vergleich der totalitären Diktaturen nicht damit begnügen, nur aufzuschreiben, was Ideologen gedacht und gesagt haben.
JÖRG BABEROWSKI
Frank-Lothar Kroll/Barbara Zehnpfennig (Herausgeber): Ideologie und Verbrechen. Kommunismus und Nationalsozialismus im Vergleich. Wilhelm Fink Verlag, München 2014. 306 S., 39,90 [Euro].
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Ideologische Obsessionen und verbrecherische Taten können zusammenhängen
Die Mordexzesse der totalitären Diktaturen sind zum Signum des 20. Jahrhunderts geworden. Niemals zuvor wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit getötet - nicht, weil sie Widerstand leisteten und Gehorsam verweigerten, sondern weil Regierungen entschieden hatten, dass sie nicht weiterleben durften. Schon immer haben Autokraten und Despoten von ihren Untertanen verlangt zu gehorchen, und schon immer wurden Menschen kollektiv bestraft, wenn sich die Herrschaft davon einen Abschreckungsgewinn versprach. Aber warum mussten Millionen Menschen sterben, die weder ungehorsam gewesen waren noch Widerstand geleistet hatten und die von niemandem als Gefahr empfunden werden konnten? Und warum waren die totalitären Diktaturen in ihren Methoden einander so ähnlich, obgleich sie doch unterschiedliche Ziele verfolgten?
Auf diese Frage geben die Autoren eine klare und unmissverständliche Antwort: Weil die Täter überzeugt gewesen seien, Notwendiges und Unabänderliches zu vollstrecken. Zwar sei die Ideologie der Nationalsozialisten geistig arm und dürftig, die kommunistische Weltanschauung lebensfremd und praxisfern gewesen. Und dennoch hätten sich die Täter von ihr leiten lassen. Deshalb seien die monströsen Verbrechen des 20. Jahrhunderts ohne ihre "geistige Dimension" überhaupt nicht zu verstehen. Die Autoren unterstellen, dass es einen Zusammenhang zwischen ideologischen Obsessionen und verbrecherischen Taten gab.
Aber wie kann man belegen, dass zwischen Ideen und Taten ein zwingender Zusammenhang besteht? Auch auf diese Frage geben die Autoren eine einfache Antwort. Sie unterstellen, dass ideologische Texte Handlungsanweisungen sind, für jene, die sie verfassen, und für jene, die sie lesen und sich mit ihnen identifizieren. Nur aus dieser Perspektive ergibt es einen Sinn, Stalin und Hitler als Vollstrecker von Ideen zu begreifen, die im 19. Jahrhundert entstanden waren. Karl Marx sei ein totalitärer Ideologe gewesen, schreibt Hendrick Hansen, dessen Welterklärungsmodell den Anspruch erhoben habe, dass sich die Wirklichkeit an ihm messen lassen müsse. Gegen das Weltgesetz aber konnte niemand recht behalten. Marx, so Hansen, habe niemals einen Zweifel daran gelassen, dass der ewige Kampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen nur mit Gewalt entschieden werden könne. Seine Schriften seien Handlungsanweisungen, auf die sich Kommunisten mit guten Gründen berufen konnten, als sie den Entschluss fassten, ihre eingebildeten Widersacher zu töten.
Deshalb sei der ideologisch zugerichtete Täter ein Täter mit "gutem Gewissen" gewesen, schreibt Lothar Fritze. Denn er habe sich für den Vollstrecker des historisch Notwendigen und Unabänderlichen halten können. Der moralische Referenzrahmen wird verschoben, wenn Gewalt nicht länger verboten, sondern geboten ist. Kein Mord werde unter solchen Bedingungen noch als anstößig empfunden. Fritze spricht von utilitaristischer Opfer-Kalkulation. Sie entscheide am Ende darüber, welche Menschen im Dienst des Fortschritts aus der Welt geschafft werden dürfen. Nicht weniger eindeutig urteilen die Autoren über die Wirklichkeit des Nationalsozialismus. Die Vernichtung der europäischen Juden, schreibt Wolfgang Bialas, habe sich nicht aus Umständen und Kontexten ergeben, sondern sei um ihrer selbst willen und vorsätzlich geplant worden. Nicht einmal auf die Kriegführung der Wehrmacht hätten die Nationalsozialisten Rücksicht genommen, weil es ihnen auf nichts anderes angekommen sei, als Europa vor der "jüdisch-bolschewistischen" Bedrohung zu bewahren. Diesem Ziel hätten die Weltanschauungskrieger alle militärischen Planungen untergeordnet.
Zwar verfolgten Nationalsozialisten und Bolschewiki unterschiedliche Ziele, in ihrer Wahrnehmungsstruktur seien sie einander aber sehr ähnlich gewesen, schreiben Barbara Zehnpfennig und Friedrich Pohlmann. Die Weltanschauung der Nationalsozialisten und der Kommunisten sei einem triadischen Schema gefolgt: vom Urkommunismus über die Klassenspaltung zum Kommunismus und vom Kampf der Rassen über die Rassenvermischung zur Entzweiung der Rassen. In beiden Ideologien habe es einen paradiesischen Urzustand, einen Sündenfall und eine Erlösung gegeben. Ohne Entwicklungsgesetze keine Bewegung und ohne Feinde keine Erlösung, auf diese einfache Formel könnte man bringen, worin die Essenz der Ideologien bestand.
Aber kann man die Schrecken der totalitären Diktaturen wirklich aus den Texten herleiten, auf die sich die Vollstrecker beriefen? Frank-Lothar Kroll weiß, dass solche Erklärungen nur die halbe Wahrheit sind. Er ist der einzige Autor, der in diesem Buch auch über den Kontext spricht, in dem sich paranoide Wahnvorstellungen verwirklichten. Zwar habe Hitler den biologischen Antisemitismus als unvermeidlichen Akt der Notwehr verstanden und sein Programm der Vernichtung kompromisslos verfolgt. Indem er sich des Juden erwehre, so habe er gesagt, kämpfe er für das Werk des Herrn. Aber ohne den "konkreten Ermöglichungsgrund", so fügt Kroll hinzu, hätte sich der Massenmord kaum ins Werk setzen lassen.
Wie werden aus Vorstellungen Taten? Warum wurden in der Sowjetunion Stalins Millionen auf dem Altar des Fortschritts und des Klassenkampfs geopfert, in der DDR aber nicht? Warum starben Kommunisten, loyale Anhänger des Regimes, Arbeiter und Bauern, obgleich ihr Tod im Heilsplan des Kommunismus nicht vorgesehen war? Wie lässt sich erklären, dass nach Stalins Tod die gleiche Ideologie dazu verwendet wurde, die Exzesse des Jahres 1937 zu verurteilen? Wie wurden aus Tätern Anwälte der Entstalinisierung? Weshalb konnten die Nationalsozialisten im Jahr 1941 tun, was 1938 unmöglich gewesen wäre?
In beiden Fällen ergaben sich die Vernichtungsexzesse nicht aus Vorstellungen, sondern aus Kontexten, in denen Vorstellungen Wirklichkeit werden konnten. Ideologien können dem Handeln einen Sinn geben. Mörder glauben, gute Menschen zu sein, weil sie nur vollstrecken, was unvermeidlich ist. Sie rechtfertigen sich, indem sie auf unumstößliche Wahrheiten verweisen. Aber Ideen schreiben Menschen nicht vor, was sie tun sollen. Jeder kann selbst entscheiden, was er mit einer Idee, die ihm gefällt, anfangen will. Josef Stalin und August Bebel waren Marxisten, aber sie waren auch verschiedene Menschen mit verschiedenen Aufgaben in verschiedenen Kontexten. Wer die Wahrheit in Reden, Texten und Rechtfertigungen sucht, erfährt, wie geredet, geschrieben und gesprochen wird, aber nicht, was die Diktatur ist und was sie mit den Menschen macht. Deshalb darf sich der Vergleich der totalitären Diktaturen nicht damit begnügen, nur aufzuschreiben, was Ideologen gedacht und gesagt haben.
JÖRG BABEROWSKI
Frank-Lothar Kroll/Barbara Zehnpfennig (Herausgeber): Ideologie und Verbrechen. Kommunismus und Nationalsozialismus im Vergleich. Wilhelm Fink Verlag, München 2014. 306 S., 39,90 [Euro].
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