Jenseits der universellen Geschichte menschlichen Unvermögens gibt es heute eine neue Qualität des Idiotentums. Während der alte Idiot aus der Isolation ein Wissen bezog, verweigert sich der neue Idiot jeglichem Weltverständnis. Er erscheint nurmehr als die Figur einer systemischen Inkompetenz, die bis in die letzten Verzweigungen des politischen und medialen Lebens ihre Wirkung entfaltet und dabei neue, meist völlig absurde Kompetenzen ausbildet.
Die heutigen Debatten über »Fake News« oder »postfaktische Gesellschaft« können in dieser Perspektive auch als Anzeichen einer umfassenden Transformation von Formen der Selbstpolitik gelesen werden, in der das Absurde das Bild der Realität neu definiert. Denn während viel von globalem Bewusstsein und Gemeinschaft die Rede ist, scheint der Solipsismus des idiotischen Subjekts unterschwellig eine umso wirksamere Rolle zu spielen. Als isoliertes Selbst der Vielen bildet es das leere Zentrum eines planetarischen, sich um sich selbst drehenden Idiotismus.
Zoran Terzics ebenso weit gespannter wie detailscharfer Essay nimmt die kulturhistorische Gestalt des Idioten auf und verfolgt deren Figurationen entlang seiner zahlreichen Auftritte in der Geistesgeschichte, um jenseits einer hypertrophen Gegenwart Idiotie als Kunst in den Blick zu nehmen.
Die heutigen Debatten über »Fake News« oder »postfaktische Gesellschaft« können in dieser Perspektive auch als Anzeichen einer umfassenden Transformation von Formen der Selbstpolitik gelesen werden, in der das Absurde das Bild der Realität neu definiert. Denn während viel von globalem Bewusstsein und Gemeinschaft die Rede ist, scheint der Solipsismus des idiotischen Subjekts unterschwellig eine umso wirksamere Rolle zu spielen. Als isoliertes Selbst der Vielen bildet es das leere Zentrum eines planetarischen, sich um sich selbst drehenden Idiotismus.
Zoran Terzics ebenso weit gespannter wie detailscharfer Essay nimmt die kulturhistorische Gestalt des Idioten auf und verfolgt deren Figurationen entlang seiner zahlreichen Auftritte in der Geistesgeschichte, um jenseits einer hypertrophen Gegenwart Idiotie als Kunst in den Blick zu nehmen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2020Pippi und Donald haben vieles gemeinsam
Die Welt nicht lang interpretieren, sondern verändern: Zoran Terzic analysiert die Geistesgeschichte der Idiotie
Die gute Nachricht zuerst: Im tieferen Sinne sind wir alle Idioten, so wahr es ist, dass unsere Fingerabdrücke nicht denen unserer Nachbarn gleichen. "Die Idiotie", erklärt Zoran Terzic am Anfang seiner Geistesgeschichte derselben, "bezeichnete einmal die Einzigartigkeit der Dinge und Wesen. Idion ist das Besondere, das Eigene. Ein Idiot ist jemand, der besondere Eigenschaften hat, die sich von den üblichen Eigenschaften unterscheiden." Die erste Lehre dieses mit philosophischen und popkulturellen Referenzen vollgestopften Buches besteht also darin, dass zwischen dem ursprünglichen Idioten - dem neutralen Idiosynkraten - und dem modernen Schimpfwort-Idioten eine erhebliche Distanz liegt.
So war der "idiotes" im antiken Athen nicht der Einfältige, sondern der zurückgezogene, für das Staatswesen unnütze Privatier - ein Egoist eher als ein Dummkopf, ein "nützlicher Idiot" schon gar nicht. Der folgte später, ebenso die titelgebende "Idiokratie". Während der Aufklärung wurde der Idiot sogar zum Kern der politisch mündigen Gesellschaft. Bei Rousseau etwa sei das buchstäblich eigenartige Merkmal des Idioten "gerade die Voraussetzung des Gesellschaftsvertrages, in dem Moral und Politik auf den Fundamenten eines als natürlich verstandenen, für sich bestehenden Subjekts fußen". Sein Echo lässt sich noch heute vernehmen, wenn man den absurd-individualistischen Imperativ "Sei ein Idiot" schlicht mit dem allgegenwärtigen "Sei du selbst" ersetzt.
In der ersten Hälfte des Buches beschreibt Terzic, der 1969 in Banja Luka geboren wurde und als freier Autor und Pianist in Berlin lebt, den Idioten als kulturellen Archetypen von Caravaggios Narziss über Dostojewskis Fürst Myschkin bis zu Robert Zemeckis' Forrest Gump. Streckenweise fühlt sich der Leser von der schieren Zahl stakkatohaft angetippter Quelltexte etwas überwältigt, insgesamt aber bietet der Band eine instruktive Lektüre.
Er demonstriert, dass die Idiotie weder mit Nichtintelligenz noch mit Bosheit gleichzusetzen ist. Idioten sind im besten Sinne unbefangen, sie wandeln nicht auf zertretenen Pfaden. Die couragierte Dilettantin wohne näher am Geistesblitz als der Fachmann, dessen Expertise doktrinentreu ist. Pippi Langstrumpf beispielsweise müsse als positiv erhabene Idiotin gelten, weil sie sich nicht am Wissen der Welt orientiere, sondern sich diese mache, wie sie ihr gefalle.
Der Idiot "interpretiert die Welt nicht erst, bevor er sie verändert" - und ist deshalb auch stets ambivalent zu betrachten. Er verfährt schon deshalb riskant, weil seine Genialität sich nicht vorhersagen lässt. "Als Inzidius, als einfallender Idiot, erinnert er die professionellen Wissenserzeuger an ihre Ursprungsmission", zeigt ihnen also einerseits die produktive Naivität, die sie einst ihr Fach ergreifen ließ. Sobald der "zufällige Idiot" aber nicht mehr nur im Spiel, sondern als Herrscher triumphiert, ist der Spaß vorbei.
Der zweite, gesellschaftstheoretische Teil des Buchs befasst sich folgerichtig mit dem "neuen Idioten" (nach Gilles Deleuze), der nicht mehr einfach die Privatperson der Antike ist, sondern sich, oft ausgestattet mit politischer Macht, jedem Begreifen der Welt verschließt. Der antike, der aufklärerische und der heutige Idiot haben gemein, dass sie über ihr Verhältnis zu einer andersartigen Allgemeinheit definiert werden. Angelehnt an Andreas Reckwitz' "Gesellschaft der Singularitäten", sieht Terzic einen Hauptaspekt der Idiokratie in der "Krise der Beziehung von Allgemeinem und Besonderem". Es falle Menschen immer schwerer, die großen Weltentwicklungen zu erkennen, weil sie sich von der unmittelbaren, persönlichen Ebene blenden ließen. "So kommt es, dass Kriegsflüchtlinge dem Mainstream (...) schwer als Kriegsflüchtlinge vermittelbar sind, wenn sie ein Handy in der Hand halten - als ob es sich um eine Frage des Lifestyles handelte."
Hervorgehoben sei diesbezüglich das Kapitel über den "transzendentalen Trump". Der fünfundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten sei nicht Ursache einer sich nach Idiokratie sehnenden Gesellschaft, sondern ihr Symptom, mithin auch nicht auf acht Amtsjahre beschränkbar. Sein Typus "kennt weder Gefängnisse noch Verhängnisse. Wenn einer hinter Gittern landet, wird eben ein anderer Präsident. Derselbe andere."
Darin ist Trump letztlich gar nicht so weit entfernt von der postfaktischen Autarkie Pippi Langstrumpfs, wie der Kunsthistoriker Jörg Scheller schon vor einem Jahr feststellte (F.A.S. vom 28. April 2019). Bei Lindgrens Heldin machen zwei mal drei vier - bei Trump auch. Scheller über Pippi: "Eine als Lüge enttarnte Lüge wird alsogleich durch eine andere Lüge ersetzt." Terzic über Trump: "Trump wird dadurch mächtig, dass ihn alle für einen Idioten halten und dadurch im Bannkreis seines Zeichens verbleiben, darauf wartend, welche Neuigkeit der Idiot aus seinem Zeichenarsenal schöpft."
In diesem Sinne ist Idiokratie für Terzic weniger der Verfall des intellektuellen Lebens als die schwindende Kraft jeder empirischen Kontextualität. Der mächtige Idiot braucht sie nicht mehr. Ihm ist egal, ob machtlose Fachidioten ihm als Replik auf seine Lügen gegenteilige Beweise vorhalten. Zurück bleibt ein demokratisches Dilemma: "Es ist ebenso von Vorteil, dass ,jeder Trottel' Regierungschef werden kann, wie es von Nachteil ist, dass dann tatsächlich ,ein Trottel' Regierungschef wird."
CORNELIUS DIECKMANN.
Zoran Terzic: "Idiocracy". Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten.
Diaphanes Verlag, Zürich 2020.
360 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Welt nicht lang interpretieren, sondern verändern: Zoran Terzic analysiert die Geistesgeschichte der Idiotie
Die gute Nachricht zuerst: Im tieferen Sinne sind wir alle Idioten, so wahr es ist, dass unsere Fingerabdrücke nicht denen unserer Nachbarn gleichen. "Die Idiotie", erklärt Zoran Terzic am Anfang seiner Geistesgeschichte derselben, "bezeichnete einmal die Einzigartigkeit der Dinge und Wesen. Idion ist das Besondere, das Eigene. Ein Idiot ist jemand, der besondere Eigenschaften hat, die sich von den üblichen Eigenschaften unterscheiden." Die erste Lehre dieses mit philosophischen und popkulturellen Referenzen vollgestopften Buches besteht also darin, dass zwischen dem ursprünglichen Idioten - dem neutralen Idiosynkraten - und dem modernen Schimpfwort-Idioten eine erhebliche Distanz liegt.
So war der "idiotes" im antiken Athen nicht der Einfältige, sondern der zurückgezogene, für das Staatswesen unnütze Privatier - ein Egoist eher als ein Dummkopf, ein "nützlicher Idiot" schon gar nicht. Der folgte später, ebenso die titelgebende "Idiokratie". Während der Aufklärung wurde der Idiot sogar zum Kern der politisch mündigen Gesellschaft. Bei Rousseau etwa sei das buchstäblich eigenartige Merkmal des Idioten "gerade die Voraussetzung des Gesellschaftsvertrages, in dem Moral und Politik auf den Fundamenten eines als natürlich verstandenen, für sich bestehenden Subjekts fußen". Sein Echo lässt sich noch heute vernehmen, wenn man den absurd-individualistischen Imperativ "Sei ein Idiot" schlicht mit dem allgegenwärtigen "Sei du selbst" ersetzt.
In der ersten Hälfte des Buches beschreibt Terzic, der 1969 in Banja Luka geboren wurde und als freier Autor und Pianist in Berlin lebt, den Idioten als kulturellen Archetypen von Caravaggios Narziss über Dostojewskis Fürst Myschkin bis zu Robert Zemeckis' Forrest Gump. Streckenweise fühlt sich der Leser von der schieren Zahl stakkatohaft angetippter Quelltexte etwas überwältigt, insgesamt aber bietet der Band eine instruktive Lektüre.
Er demonstriert, dass die Idiotie weder mit Nichtintelligenz noch mit Bosheit gleichzusetzen ist. Idioten sind im besten Sinne unbefangen, sie wandeln nicht auf zertretenen Pfaden. Die couragierte Dilettantin wohne näher am Geistesblitz als der Fachmann, dessen Expertise doktrinentreu ist. Pippi Langstrumpf beispielsweise müsse als positiv erhabene Idiotin gelten, weil sie sich nicht am Wissen der Welt orientiere, sondern sich diese mache, wie sie ihr gefalle.
Der Idiot "interpretiert die Welt nicht erst, bevor er sie verändert" - und ist deshalb auch stets ambivalent zu betrachten. Er verfährt schon deshalb riskant, weil seine Genialität sich nicht vorhersagen lässt. "Als Inzidius, als einfallender Idiot, erinnert er die professionellen Wissenserzeuger an ihre Ursprungsmission", zeigt ihnen also einerseits die produktive Naivität, die sie einst ihr Fach ergreifen ließ. Sobald der "zufällige Idiot" aber nicht mehr nur im Spiel, sondern als Herrscher triumphiert, ist der Spaß vorbei.
Der zweite, gesellschaftstheoretische Teil des Buchs befasst sich folgerichtig mit dem "neuen Idioten" (nach Gilles Deleuze), der nicht mehr einfach die Privatperson der Antike ist, sondern sich, oft ausgestattet mit politischer Macht, jedem Begreifen der Welt verschließt. Der antike, der aufklärerische und der heutige Idiot haben gemein, dass sie über ihr Verhältnis zu einer andersartigen Allgemeinheit definiert werden. Angelehnt an Andreas Reckwitz' "Gesellschaft der Singularitäten", sieht Terzic einen Hauptaspekt der Idiokratie in der "Krise der Beziehung von Allgemeinem und Besonderem". Es falle Menschen immer schwerer, die großen Weltentwicklungen zu erkennen, weil sie sich von der unmittelbaren, persönlichen Ebene blenden ließen. "So kommt es, dass Kriegsflüchtlinge dem Mainstream (...) schwer als Kriegsflüchtlinge vermittelbar sind, wenn sie ein Handy in der Hand halten - als ob es sich um eine Frage des Lifestyles handelte."
Hervorgehoben sei diesbezüglich das Kapitel über den "transzendentalen Trump". Der fünfundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten sei nicht Ursache einer sich nach Idiokratie sehnenden Gesellschaft, sondern ihr Symptom, mithin auch nicht auf acht Amtsjahre beschränkbar. Sein Typus "kennt weder Gefängnisse noch Verhängnisse. Wenn einer hinter Gittern landet, wird eben ein anderer Präsident. Derselbe andere."
Darin ist Trump letztlich gar nicht so weit entfernt von der postfaktischen Autarkie Pippi Langstrumpfs, wie der Kunsthistoriker Jörg Scheller schon vor einem Jahr feststellte (F.A.S. vom 28. April 2019). Bei Lindgrens Heldin machen zwei mal drei vier - bei Trump auch. Scheller über Pippi: "Eine als Lüge enttarnte Lüge wird alsogleich durch eine andere Lüge ersetzt." Terzic über Trump: "Trump wird dadurch mächtig, dass ihn alle für einen Idioten halten und dadurch im Bannkreis seines Zeichens verbleiben, darauf wartend, welche Neuigkeit der Idiot aus seinem Zeichenarsenal schöpft."
In diesem Sinne ist Idiokratie für Terzic weniger der Verfall des intellektuellen Lebens als die schwindende Kraft jeder empirischen Kontextualität. Der mächtige Idiot braucht sie nicht mehr. Ihm ist egal, ob machtlose Fachidioten ihm als Replik auf seine Lügen gegenteilige Beweise vorhalten. Zurück bleibt ein demokratisches Dilemma: "Es ist ebenso von Vorteil, dass ,jeder Trottel' Regierungschef werden kann, wie es von Nachteil ist, dass dann tatsächlich ,ein Trottel' Regierungschef wird."
CORNELIUS DIECKMANN.
Zoran Terzic: "Idiocracy". Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten.
Diaphanes Verlag, Zürich 2020.
360 S., geb., 24,- [Euro].
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»Ein neues Standardwerk zum Idiotischen in unserer Kultur - von geradezu lexikalischer Qualität.« Jakob Hayner, taz