In seinem letzten Buch erinnert Pierre Guyotat seine Erfahrungen als junger Rekrut der französichen Armee in der Endphase des Algerienkriegs. Konfrontiert mit militärischem Drill, dumpfer Schikane und blankem Sadismus, interniert wegen Ungehorsam, zehrt der Neunzehnjährige von der Gewissheit seiner künstlerischen Berufung. Während er mit großer Sympathie den Freiheitsjubel der algerischen Bevölkerung beschreibt, erlebt er den Rückzug der französischen Armee als eine so stumpfe wie luzide Zeit.
Nachdem Claude Simon im Jahr 1967 aus Protest gegen die Nichtberücksichtigung von »Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten« die Jury des renommierten Prix Médicis verlassen hatte, erhielt Pierre Guyotat den Preis über 50 Jahre später für »Idiotie«.
Nachdem Claude Simon im Jahr 1967 aus Protest gegen die Nichtberücksichtigung von »Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten« die Jury des renommierten Prix Médicis verlassen hatte, erhielt Pierre Guyotat den Preis über 50 Jahre später für »Idiotie«.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
"Dunkle, dichterische Funken" sieht Rezensent Peter Henning aus Pierre Guyotats letztem Buch schlagen. Der wegen der Drastik und Obszonität seiner Texte umstrittene französische Autor schildert in dieser autobiografisch geprägten Erzählung auf überraschend sensible Weise die Ausgangspunkte seines lebenslang währenden "Ich- und Lebensekels", so der Kritiker. Nachdem der junge Pierre aus dem Kreis seiner Familie verbannt wurde, kämpft er als Soldat im Algerienkrieg. In Bildern von "gleißender Schärfe" und in "wildem Lyrismus" verarbeitet Guyotat seine Erinnerungen an das Grauen des Soldatendaseins, so Henning. Ein letzter Einblick in die Gedanken des "großen Unglücklichen" Guyotat, der 2018 verstarb, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2023Die Ebene trunken vom Verbrechen
"Idiotie", der Text, mit dem das Enfant terrible Pierre Guyotat spät doch noch Erfolg hatte, erscheint erstmals auf Deutsch
Wie es der Zufall will: Der Tod von Philippe Sollers Anfang Mai folgte auf eine Veröffentlichung, die ihm lieb gewesen sein muss: "Idiotie", der letzte große Text seines Freundes Pierre Guyotat (1940 bis 2020), ist dieses Frühjahr auf Deutsch erschienen. Sollers und Guyotat waren zwei Avantgardisten, die viel vereinte: Als Kommunisten trafen sie sich im Kontext der Tel-Quel-Gruppe, beide betrieben eine Literatur der sexuellen Radikalität. Später entdeckten sie ihr christliches Erbe neu: Sollers provozierte damit, Guyotat erforschte es sozusagen naturgemäß, als Teil der eigenen Vita - die eine originelle Sicht darauf bot.
"Idiotie" gehört zu den autobiographischen Texten Guyotats: Nach einer schweren psychischen Krise kehrte er mittels der literarischen Verwandlung des eigenen Lebens in es zurück. Den Anfang machte "Koma" (2006), ein Text zur Krise 1981, es folgten "Herkunft" (2007) über die ländliche Kindheit und "In der Tiefe" (2010) zu wenigen Wochen im fünfzehnten Lebensjahr. "Idiotie" schließt daran an: Erzählt werden Episoden und Szenen zwischen 1958 und 1962. In diese Spanne fiel jene Erfahrung, die Guyotats Werk bestimmt: der Wehrdienst in Algerien (1960 bis 1962) in just dem Moment, als die Kolonie aufgegeben wurde.
Übergänge zwischen den Ausschnitten werden nicht immer geschaffen, Guyotat erforscht vielmehr jede in ihrer thematischen Besonderheit. Der Vorspann, der gut ein Drittel des Textes ausmacht, ist unentbehrlicher Hintergrund der Ereignisse, sowohl der offiziellen als auch der intimen. Er berichtet, wie Guyotat nach dem Tod seiner Mutter nach Paris zieht, weg vom Vater, der als Arzt auf dem Land praktiziert. Er schlägt sich mit kleinen Jobs durch, schläft auf der Straße, wenn es sein muss - und schreibt. Ein Ereignis wirft das fragile Leben aus der Bahn: Beim Weihnachtsfest stiehlt der abgebrannte Sohnemann Geld aus der Haushaltskasse. Der Vater und eine Schwester beginnen ein inquisitorisches Verhör: "Sie wissen, dass ich es war, weil ich schon seit langem als fragwürdig gelte - von zu Hause weglaufe, im Untergrund lebe, an eine Berufung glaube." Von Schuldgefühlen ausgelöscht, flüchtet er nach Paris: "Keiner meiner Blicke wird je wieder aufrichtig sein, keine meiner Handlungen jemals mehr rein." Die Zukunft auch des Schreibens scheint verbaut. Er ernährt sich nur noch von Brot und Öl, kollabiert in einer Kirche, eine Prostituierte nimmt sich seiner an, päppelt ihn wieder auf.
Der moralische Tiefschlag reißt ihn aus der Familie - Guyotat identifiziert sich mit Joseph aus 1 Mose, den seine Brüder verkauft haben. Als die Einberufung erfolgt, ist die Saat für die Katastrophe ausgebracht: Ein erster Text ("Sur un cheval", 1961) ist zur Veröffentlichung angenommen, und Guyotat hat sein Verhaltensmuster - halb Rebell, halb Sündenbock - eingeübt. Sogleich lehnt er sich auf, wird brutal gebändigt. Die Rebellion erstaunt nicht, die Zustände sind erbärmlich: "unterworfen, erniedrigt, überall Geschrei uns gegenüber, unser Wortschatz verarmt, unser Geist verneint, das sind also die Botschafter Frankreichs und der westlichen Zivilisation . . ." Das Verdikt am Schluss: "Die ganze Armee gehört abgeschafft und mit ihr Anklage, Verhör und Verließ."
In Algerien angekommen, arbeitet Guyotat an einer Einleitung: "An dem Text zu schreiben, lässt mein ziviles, in der Unterwerfung erkaltetes Ich wieder aufleben." Er wird abermals rebellisch und als subversives Element inhaftiert. Der Jung-Intellektuelle wird tagelang verhört, in monatelange Einzelhaft gesteckt. Die Nervosität der Hierarchie fußt in der militärisch-politischen Lage: Die Offiziere sperren sich gegen de Gaulles Willen, Algerien aufzugeben, obwohl die Lage eskalierte. Die Wehrpflichtigen folgen dem Putschaufruf im April 1961 nicht - sie sind "eine vernünftige Widerstandskraft gegen eine Hierarchie mit ungewisser Regierungstreue". Die Befehlsgewalt steht infrage.
Guyotat zeigt Sympathie für die aufständischen Algerier, lässt sich vom Freiheitsrausch mitreißen. Doch beschönigt er nichts, nutzt schlicht das literarische Potential des historischen Moments. Landschaftstableaus mischen sich mit (für ihn typischen) ekstatischen Ereignisschilderungen: "Das Dröhnen ferner Massaker, je nach Unebenheit des Geländes: immer lauter; doch da oben, das Dröhnen der Massaker auf den Berggipfeln, Krone aus Tränen, aus Schreien, wie ein Opfer an welche Götter? Die Ebene trunken vom Verbrechen."
Eine symbolische Szene verbindet das Epochengemälde mit der für das Werk so entscheidenden Inszenierung des Begehrens: Dem jungen Guyotat wird offenbar bewusst, wie eng Sexualität und Schreiben ineinandergreifen. Mit einem Kameraden verlässt er aus Neugier heimlich das Militärgelände. Sie betreten eine verlassene Kolonialherrenvilla, in der sich eine geistig behinderte Schönheit mit einem kastrierten Beschützer herumtreibt. Guyotat folgt dem aufreizenden Mädchen durch großbürgerliche Zimmer, den Blick mal auf Gemälden, mal auf Brüsten, die ihrem Kleid entschlüpfen. Ein heikles Angebot: "In diese Kleine einzudringen würde bedeuten, mich an ein Leben zu binden; und habe ich dazu das Recht, ich, der in diesem Körper mit versehrtem Gehirn Lust empfinden, mich als Mann bestätigen soll? Doch ihre Schönheit . . . gibt sie ihr nicht die Unversehrtheit ihres heute gestörten Verstandes zurück; bin ich nicht selbst ein wenig versehrt?" Die Enthaltsamkeit siegt, der Samen wird "durch Text aus mir" herausgelassen: Hier, in Begehren und Krieg, liegt der Ursprung des Werks - Literatur ist Guyotat sexuelle Katalyse.
"Idiotie" wurde in Frankreich gefeiert und mit dem Prix Médicis ausgezeichnet. Der Diaphanes Verlag sieht darin späte Gerechtigkeit: 1967 wurde der Preis Guyotats wohl wichtigstem Roman, "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten", verweigert, Claude Simon verließ die Jury damals im Protest. 2018 rundete die Auszeichnung eine Guyotat-Renaissance ab. Im deutschsprachigen Raum hat sie dank konsequenter Übersetzung ein Echo und mit "Idiotie" nun ihren Abschluss gefunden - ein Grabmal für nur einen Soldaten, und selbst der wider Willen. NIKLAS BENDER
Pierre Guyotat: "Idiotie".
Aus dem Französischen von Anne Krier. Diaphanes, Zürich 2023. 272 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Idiotie", der Text, mit dem das Enfant terrible Pierre Guyotat spät doch noch Erfolg hatte, erscheint erstmals auf Deutsch
Wie es der Zufall will: Der Tod von Philippe Sollers Anfang Mai folgte auf eine Veröffentlichung, die ihm lieb gewesen sein muss: "Idiotie", der letzte große Text seines Freundes Pierre Guyotat (1940 bis 2020), ist dieses Frühjahr auf Deutsch erschienen. Sollers und Guyotat waren zwei Avantgardisten, die viel vereinte: Als Kommunisten trafen sie sich im Kontext der Tel-Quel-Gruppe, beide betrieben eine Literatur der sexuellen Radikalität. Später entdeckten sie ihr christliches Erbe neu: Sollers provozierte damit, Guyotat erforschte es sozusagen naturgemäß, als Teil der eigenen Vita - die eine originelle Sicht darauf bot.
"Idiotie" gehört zu den autobiographischen Texten Guyotats: Nach einer schweren psychischen Krise kehrte er mittels der literarischen Verwandlung des eigenen Lebens in es zurück. Den Anfang machte "Koma" (2006), ein Text zur Krise 1981, es folgten "Herkunft" (2007) über die ländliche Kindheit und "In der Tiefe" (2010) zu wenigen Wochen im fünfzehnten Lebensjahr. "Idiotie" schließt daran an: Erzählt werden Episoden und Szenen zwischen 1958 und 1962. In diese Spanne fiel jene Erfahrung, die Guyotats Werk bestimmt: der Wehrdienst in Algerien (1960 bis 1962) in just dem Moment, als die Kolonie aufgegeben wurde.
Übergänge zwischen den Ausschnitten werden nicht immer geschaffen, Guyotat erforscht vielmehr jede in ihrer thematischen Besonderheit. Der Vorspann, der gut ein Drittel des Textes ausmacht, ist unentbehrlicher Hintergrund der Ereignisse, sowohl der offiziellen als auch der intimen. Er berichtet, wie Guyotat nach dem Tod seiner Mutter nach Paris zieht, weg vom Vater, der als Arzt auf dem Land praktiziert. Er schlägt sich mit kleinen Jobs durch, schläft auf der Straße, wenn es sein muss - und schreibt. Ein Ereignis wirft das fragile Leben aus der Bahn: Beim Weihnachtsfest stiehlt der abgebrannte Sohnemann Geld aus der Haushaltskasse. Der Vater und eine Schwester beginnen ein inquisitorisches Verhör: "Sie wissen, dass ich es war, weil ich schon seit langem als fragwürdig gelte - von zu Hause weglaufe, im Untergrund lebe, an eine Berufung glaube." Von Schuldgefühlen ausgelöscht, flüchtet er nach Paris: "Keiner meiner Blicke wird je wieder aufrichtig sein, keine meiner Handlungen jemals mehr rein." Die Zukunft auch des Schreibens scheint verbaut. Er ernährt sich nur noch von Brot und Öl, kollabiert in einer Kirche, eine Prostituierte nimmt sich seiner an, päppelt ihn wieder auf.
Der moralische Tiefschlag reißt ihn aus der Familie - Guyotat identifiziert sich mit Joseph aus 1 Mose, den seine Brüder verkauft haben. Als die Einberufung erfolgt, ist die Saat für die Katastrophe ausgebracht: Ein erster Text ("Sur un cheval", 1961) ist zur Veröffentlichung angenommen, und Guyotat hat sein Verhaltensmuster - halb Rebell, halb Sündenbock - eingeübt. Sogleich lehnt er sich auf, wird brutal gebändigt. Die Rebellion erstaunt nicht, die Zustände sind erbärmlich: "unterworfen, erniedrigt, überall Geschrei uns gegenüber, unser Wortschatz verarmt, unser Geist verneint, das sind also die Botschafter Frankreichs und der westlichen Zivilisation . . ." Das Verdikt am Schluss: "Die ganze Armee gehört abgeschafft und mit ihr Anklage, Verhör und Verließ."
In Algerien angekommen, arbeitet Guyotat an einer Einleitung: "An dem Text zu schreiben, lässt mein ziviles, in der Unterwerfung erkaltetes Ich wieder aufleben." Er wird abermals rebellisch und als subversives Element inhaftiert. Der Jung-Intellektuelle wird tagelang verhört, in monatelange Einzelhaft gesteckt. Die Nervosität der Hierarchie fußt in der militärisch-politischen Lage: Die Offiziere sperren sich gegen de Gaulles Willen, Algerien aufzugeben, obwohl die Lage eskalierte. Die Wehrpflichtigen folgen dem Putschaufruf im April 1961 nicht - sie sind "eine vernünftige Widerstandskraft gegen eine Hierarchie mit ungewisser Regierungstreue". Die Befehlsgewalt steht infrage.
Guyotat zeigt Sympathie für die aufständischen Algerier, lässt sich vom Freiheitsrausch mitreißen. Doch beschönigt er nichts, nutzt schlicht das literarische Potential des historischen Moments. Landschaftstableaus mischen sich mit (für ihn typischen) ekstatischen Ereignisschilderungen: "Das Dröhnen ferner Massaker, je nach Unebenheit des Geländes: immer lauter; doch da oben, das Dröhnen der Massaker auf den Berggipfeln, Krone aus Tränen, aus Schreien, wie ein Opfer an welche Götter? Die Ebene trunken vom Verbrechen."
Eine symbolische Szene verbindet das Epochengemälde mit der für das Werk so entscheidenden Inszenierung des Begehrens: Dem jungen Guyotat wird offenbar bewusst, wie eng Sexualität und Schreiben ineinandergreifen. Mit einem Kameraden verlässt er aus Neugier heimlich das Militärgelände. Sie betreten eine verlassene Kolonialherrenvilla, in der sich eine geistig behinderte Schönheit mit einem kastrierten Beschützer herumtreibt. Guyotat folgt dem aufreizenden Mädchen durch großbürgerliche Zimmer, den Blick mal auf Gemälden, mal auf Brüsten, die ihrem Kleid entschlüpfen. Ein heikles Angebot: "In diese Kleine einzudringen würde bedeuten, mich an ein Leben zu binden; und habe ich dazu das Recht, ich, der in diesem Körper mit versehrtem Gehirn Lust empfinden, mich als Mann bestätigen soll? Doch ihre Schönheit . . . gibt sie ihr nicht die Unversehrtheit ihres heute gestörten Verstandes zurück; bin ich nicht selbst ein wenig versehrt?" Die Enthaltsamkeit siegt, der Samen wird "durch Text aus mir" herausgelassen: Hier, in Begehren und Krieg, liegt der Ursprung des Werks - Literatur ist Guyotat sexuelle Katalyse.
"Idiotie" wurde in Frankreich gefeiert und mit dem Prix Médicis ausgezeichnet. Der Diaphanes Verlag sieht darin späte Gerechtigkeit: 1967 wurde der Preis Guyotats wohl wichtigstem Roman, "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten", verweigert, Claude Simon verließ die Jury damals im Protest. 2018 rundete die Auszeichnung eine Guyotat-Renaissance ab. Im deutschsprachigen Raum hat sie dank konsequenter Übersetzung ein Echo und mit "Idiotie" nun ihren Abschluss gefunden - ein Grabmal für nur einen Soldaten, und selbst der wider Willen. NIKLAS BENDER
Pierre Guyotat: "Idiotie".
Aus dem Französischen von Anne Krier. Diaphanes, Zürich 2023. 272 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main