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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2006

Ein Mordsgeschäft
O. J. Simpson phantasiert in seinem neuen Buch und im Fernsehen über die Verbrechen, für die er freigesprochen wurde / Von Stewart O'Nan

Eigentlich sollten die frisch gekrönten Gewinner der National Book Awards im Mittelpunkt des literarischen Lebens in New York stehen. Doch Judith Regan stiehlt ihnen die Schau. Denn sie kündigte an, sie werde in ihrem Verlag ein Buch mit dem Titel "If I Did It" (Wenn ich es getan hätte) herausbringen, in dem O. J. Simpson eine neue Darstellung der Doppelmorde geben werde, die er nach Meinung der meisten Amerikaner begangen hat. Außerdem will Judith Regan im Rahmen einer Fernsehsondersendung Simpson in einem "weitreichenden, mit harten Bandagen geführten Interview" befragen. Ausstrahlungstermin soll die für jede Werbekampagne so wichtige Woche nach Thanksgiving Ende November sein.

Die meisten Amerikaner fragten spontan: Was soll's? Die Morde wurden vor mehr als zwölf Jahren begangen, und die überwiegende Mehrheit der Amerikaner war vom ersten Augenblick an davon überzeugt, daß O. J. Simpson der Täter war. Was der sich anschließende Prozeß und der Freispruch über Rasse, Klasse und Starkult in Amerika aussagten, ist in die Geschichte eingegangen. Und unsere Meinungen über Simpsons Schuld oder Unschuld haben sich längst so verfestigt, daß selbst eine neue Beweislage (die es gar nicht gibt) nichts an ihnen ändern würde.

O. J. Simpson ist nicht nur ein alter Hut. Wir haben ihn auch gründlich satt. Uns wird übel, wenn wir ihn in den Boulevardblättern sehen, wie er über endlose Golfplätze in Florida spaziert, wie er mit der Polizei aneinandergerät, weil er wieder mal die Nerven verloren hat, oder wie er mit seiner neuesten kleinen Freundin beim Essen sitzt. Anders als Mord verjährt das Berühmtsein. O. J. Simpson nervt nur noch.

Dennoch gibt es verständlicherweise eine lautstarke Minderheit, die sich darüber empört, daß Simpson und Judith Regan ein Verbrechen zu Geld machen, das Simpson aller Wahrscheinlichkeit nach begangen hat und daß das neue Buch kein wahrhaftiges Geständnis, sondern eine spekulative Version der Geschehnisse ist: Simpson grübelt darüber nach, wie er vorgegangen wäre, wenn er die Tat begangen hätte - wie er, so muß man annehmen, noch erfolgreicher hätte sein können bei einem Verbrechen, das an sich ja schon ziemlich erfolgreich war.

Dieses bizarre Sichhineinversetzen in die Morde brachte dem Buch seine Schlagzeilen und führte zu Boykottaufrufen gegenüber Amazon, Harper Collins (dem der Imprint Regan Books gehört) und dem Sender Fox, der das Interview ausstrahlen wird. Rupert Murdochs altes Imperium News Corporation umfaßt sowohl Harper Collins als auch Fox, deshalb rühren beide die Werbetrommel für das Buch, und der öffentliche Streit hat ihm nun noch mehr Aufmerksamkeit in den Medien verschafft. Kurz, durch die Neuverpackung des toten Stoffs hat Judith Regan einen garantierten Bestseller an der Hand.

Simpson hat schon einmal einen Bestseller geschrieben, "I Want to Tell You". Das Buch, dessen Titel (weniger sein Inhalt) ein Geständnis andeutet, kam im Verlag Little Brown heraus, während Simpson im Gefängnis saß und auf seinen Prozeß wartete. In diesem Buch beantwortete er ganz unschuldig Briefe, die ihn dort erreichten, und benutzte diese indirekte Methode, um seine Sicht des Falls darzustellen.

Als eine Fingerübung mit einem unzuverlässigen Ich-Erzähler und über die Macht der Verleugnung sollte "I Want to Tell You" Pflichtlektüre für angehende Romanautoren sein. Gezielt vermeidet Simpson jede ernsthafte Diskussion der Verbrechen, für die er im Gefängnis sitzt, und konzentriert sich statt dessen auf seine Liebe zu Jesus, seine alte Mutter und seine nun mutterlosen Kinder, die ihn mehr denn je bräuchten. Es ist ein sentimentales, ein langweiliges Buch, das jeden Leser enttäuscht, der auf größeren Einblick in die Morde oder mehr Informationen (auch über den Mann, der sie begangen hat) gehofft hatte. Ein Schwindel in gewisser Weise.

"If I Did It" umgeht die Probleme des vorherigen Buchs und legt den Schwerpunkt auf die Morde, wenn auch in einem angeblich fiktionalen Rahmen. Auf dem Einband sehen wir ein altes (nichtfiktives) Foto von Simpson im Gerichtssaal. Er schaut den Leser über die Schulter hinweg an. Das "If" im Titel ist weiß, und das "I Did It" ist rot - nicht gerade eine Geheimbotschaft, sondern eine bewußte Anmache, gerade so wie die Form des Buchs, die ein Geständnis verspricht und doch von vornherein ausschließt.

Der Fall Simpson bleibt offen und deshalb auch für Leute unwiderstehlich, die behaupten, er kümmere sie nicht. Denn der Geschichte fehlt ein Ende - ein Ende, das unseren Gerechtigkeitssinn befriedigt. Wir sind so voller Zorn auf Simpson, weil wir den Verdacht haben, er sei nicht nur mit den Morden an Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman ungeschoren davongekommen, sondern er lache uns aus und erinnere uns selbstgefällig immer wieder an seinen Triumph, während er sein Luxusleben einfach weiterlebt.

"If I Did It" ist kein whodunit, soviel macht schon der Einband klar. Aber es ist ein howdunit, wie ein Roman von Agatha Christie - oder, wenn man zu den Wurzeln aller Kriminalgeschichten gehen will, wie Edgar Allan Poes "Der Doppelmord in der Rue Morgue". Allerdings ist in diesem Fall der Detektiv selbst der Mörder, der den Auftrag hat, sein eigenes perfektes Verbrechen aufzuklären. Hitchcock hat diese dramaturgische Umkehrung häufig benutzt (in "Cocktail für eine Leiche" aus dem Jahr 1948 zum Beispiel), einem großen Publikum geläufig wurde sie bei uns aber erst in den siebziger Jahren durch Peter Falk in der Fernsehserie "Columbo".

Die Bösen in "Columbo" sind ausnahmslos reich, egoistisch und sich ihrer professionellen und intellektuellen Überlegenheit so sicher, daß sie nicht widerstehen können, dem verkrumpelten Detektiv bei seiner Untersuchung behilflich zu sein. Columbo läßt sie das Verbrechen in Gedanken nachstellen, weil er weiß, daß der Mörder sich an irgendeinem Punkt selbst ein Bein stellen und etwas ausplaudern wird, das ausreicht, ihn zu überführen. Columbo muß (wie wir zu Hause) nur auf diese Fehlleistung, diesen einen entscheidenden Widerspruch warten, und der Fall ist gelöst. Am Ende gehen die Hochmögenden und Mächtigen unter, und die Gerechtigkeit triumphiert. Nicht die ausgefuchsten Fälle und Peter Falks Charme allein machten "Columbo" so erfolgreich, sondern die Verbrecher, deren Gesichter wir kannten - verblühende Hollywood-Stars wie Vincent Price oder langjährige Fernsehschauspieler wie William Shatner oder Roddy McDowell. Vielleicht war es sogar ein wenig Kult, jedenfalls umgab "Columbo" eine Vertrautheit, und wir konnten ein bißchen mit dem Bösen flirten. Die Serie war eine leichthändige, zivilisierte Variation auf ein unerfreuliches Thema.

"If I Did It" sucht den Erfolg auf vermeintlich dieselbe Art - als fiktive Detektivgeschichte mit vertrauten Figuren, einem leicht verständlichen Plot und einem Bösen, den wir zu hassen lieben und der sich möglicherweise jeden Augenblick selbst ans Messer liefert -, kränkelt allerdings daran, daß die Mordopfer menschliche Wesen waren. Ihren Tod in den Mittelpunkt eines selbstgerechten Unterhaltungsbestsellers zu stellen ist vom Autor wie von der Herausgeberin auf brutale Weise zynisch, man möchte sogar sagen: seelenlos. Vielleicht könnten wir die Morde als Verbrechen aus Leidenschaft begreifen. "If I Did It" aber ist reines Profitkalkül. Und ihm fehlt, wie allen Folgen der Geschichte O. J. Simpsons und des Doppelmordes, ein befriedigender Schluß.

Aus dem Amerikanischen von Verena Lueken.

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