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In seinem letzten Typoskript verarbeitete Max Frisch auf sehr persönliche Art und in einer für ihn typischen literarischen Form jenen Skandal, der die Schweiz 1989/1990 erschütterte: Fast eine Million Einwohner war während des Kalten Krieges vom schweizerischen Staatsschutz observiert worden. Auf individuell angelegten Karteikarten oder "Fichen" hatte die Bundesanwaltschaft eine eigene Verdachtschronik produziert, deren grotesk banaler Charakter den Skandal nur verstärkte. Frischs Arbeit an der eigenen Akte fand 1990 statt, im Vorfeld der umstrittenen 700 Jahrfeier der Eidgenossenschaft statt.…mehr

Produktbeschreibung
In seinem letzten Typoskript verarbeitete Max Frisch auf sehr persönliche Art und in einer für ihn typischen literarischen Form jenen Skandal, der die Schweiz 1989/1990 erschütterte: Fast eine Million Einwohner war während des Kalten Krieges vom schweizerischen Staatsschutz observiert worden. Auf individuell angelegten Karteikarten oder "Fichen" hatte die Bundesanwaltschaft eine eigene Verdachtschronik produziert, deren grotesk banaler Charakter den Skandal nur verstärkte. Frischs Arbeit an der eigenen Akte fand 1990 statt, im Vorfeld der umstrittenen 700 Jahrfeier der Eidgenossenschaft statt. Fast ein halbes Jahrhundert nach Stiller sah sich Frisch gezwungen, die Frage nach dem Verhältnis von Lebensgeschichten und Identität nochmals aufzunehmen. Er rückte dem Strandgut des analogen Überwachungsapparates mit Schere, Tacker und Schreibmaschine auf den Leib. Die dabei entstandene Collage ist die erschütternde Abrechnung mit der Ignoranz, nicht nur des Staatsschutzes. Und damit erweist sie sich als eminnent aktuell. Sie wird hier zum ersten Mal veröffentlicht.
Autorenporträt
Frisch, MaxMax Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren und starb am 4. April 1991 an den Folgen eines Krebsleidens in seiner Wohnung in Zürich. 1930 begann er sein Germanistik-Studium an der Universität Zürich, das er jedoch 1933 nach dem Tod seines Vaters (1932) aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Er arbeitete als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung.Seine erste Buchveröffentlichung Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt erschien 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. 1950 erschien Das Tagebuch 1946-1949 als erstes Werk Frischs im neugegründeten Suhrkamp Verlag. Zahlreiche weitere Publikationen folgten.

Gugerli, DavidDavid Gugerli, geboren 1961, ist Professor für Technikgeschichte an der ETH in Zürich. Er war Gastwissenschaftler in Paris, an der Stanford University, am Colegio de México, Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, sowie Professor an der Universidad Nacional Autónoma de México. Gugerli ist Mitglied des Zentrums Geschichte des Wissens, das von der ETH und der Universität Zürich getragen wird.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Barbara Möller ist schockiert über die Bitterkeit, die aus diesem letzten, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Werk von Max Frisch spricht. Bitterkeit über eine Heimat, die ihn, den Schriftsteller, wie 650.000 weitere Eidgenossen auch wie einen Staatsfeind behandelt und über ein halbes Leben hinweg ausspioniert hat. Ein Schweizer Skandal, dem Frisch laut Möller in diesem Buch seinen beißenden Kommentar hinterherschickt. Die so entstandene Collage aus den Staatsschutz-Karteikarten und den Korrekturen und Anmerkungen des Autors liest Möller als Protest eines auch im Todeskampf noch geistig alerten Engagierten. Die Ernüchterung des Autors kann Möller aus der Empörung heraushören.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2016

Der Staatsschutz und sein Nachdichter
Der Schweizer Geheimdienst sammelte Fakten und Gerüchte über Max Frisch - ein Buch zur sogenannten "Fichen Affäre" stellt provokante Thesen auf

GENF, 3. April

Als "nicht faktisch, aber geistig tot" bezeichnete der ehemalige Minister Rudolf Friedrich den Dichter Max Frisch, der selbst kein Beispiel für gelassene Toleranz war und einem ungeliebten Politiker auch mal den Handschlag verweigerte. Zwei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer zelebrierte die Schweiz 1989 als einziges Land der Welt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, von dem sie verschont geblieben war, fünfzig Jahre zuvor. Ende November 1989 stand dann die Abstimmung über die Abschaffung der Schweizer Armee auf dem Programm. Der ehemalige Soldat Frisch hatte sich in mehreren Schriften kritisch mit ihr befasst. In Zürich wollten rechtsbürgerliche Politiker um Rudolf Friedrich deshalb die Uraufführung seines Theaterstücks "Jonas und sein Veteran", einem "Palaver über die Armee", als gegen das Militär gerichtete Propaganda und Einmischung in den Abstimmungskampf verhindern. Es sollte Frisch letztes Stück bleiben, er starb am 4. April 1991, heute vor 25 Jahren.

Der helvetische Dialog zwischen den Intellektuellen, die "Enge" und "kulturellen Holzboden" ihres Landes beklagt hatten, und der politischen Macht war damals auf dem Tiefpunkt angekommen. Seit dem Zweiten Weltkrieg mit seiner "geistigen Landesverteidigung" wurde Kritik in der Schweiz als Verrat - Landesverrat! - empfunden, Vom mentalen Zustand der Eidgenossenschaft auch nach 1945 zeugte die "Fichen-Affäre", die ebenfalls im Epochenjahr 1989 publik wurde: Die Schweiz hatte Hunderttausende von Einwohnern ihrer politischen Gesinnung wegen überwacht. Aus Protest boykottierten die Kulturschaffenden zwei Jahre später die Feierlichkeiten zum 700. Geburtstag des "Schnüffelstaats". Zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung fiel die Schweiz in eine Depression, in der nicht nur die Abschaffung der Armee, sondern des Staatsmodells schlechthin zum Programm wurde: unter dem Motto "La Suisse n'existe pas" zeigte sich das Land auf der Weltausstellung von 1992.

Frisch hatte die Karteikarten, die der Staatsschutz über ihn angelegt hatte, ausgerechnet am Nationalfeiertag zu Gesicht bekommen. Der Auseinandersetzung mit den Akten waren die letzten Monate seines Lebens gewidmet. "Die Fichen-Affäre setzte bei Frisch Energien frei", schreiben David Gugerli und Hannes Mangold im Band "Ignoranz als Staatsschutz" (Suhrkamp), den sie im Vorfeld von Frischs 25. Todestag herausgegeben haben. Er enthält die Akten der Beamten und die Kommentare und Korrekturen des offenbar lückenhaft observierten Max Frisch.

Es ist eine mühsame Lektüre. Sie ergibt ein pingeliges Porträt des alten, kranken Dichters, der sich in Details und Rechthaberei verliert. "Das ist korrekt", merkt er an, wenn etwas stimmt. "Auch das noch!" heißt es an anderer Stelle, oder "Gott sei Dank". Frisch beharrt darauf, von der Armee keine Einladung bekommen zu haben - "Ehrenwort" -, obwohl es sie gab. Er korrigiert seine Adresse in Zürich (Nummer 28, nicht 18). Und dass er abends kein Bier, sondern Wein trinkt. Auch Lücken in den Akten ist er zu schließen bemüht. "Nicht vermerkt" sei in den Protokollen des Geheimdiensts neben anderen Aktionen der Solidarität und des politischen Engagements, dass er 25 000 D-Mark, die er in Düsseldorf als Heine-Preisträger erhalten hatte, für ein Plakat zur Abstimmung über die Armeeabschaffung aufwendete. Frisch erinnert auch an Einladungen bei Schweizer Ministern und dem Bürgermeister von Zürich, angenommenen und abgelehnten: "F. antwortet mit ausführlichem, aber negativem Brief." Die Anmerkungen des Dichters sind nicht selbstironisch, sondern voller Sarkasmus.

Um daraus ein einigermaßen präsentables Büchlein zu machen, steuern Gugerli und Mangold Fußnoten, Einleitung und Nachwort bei. Einen unsäglichen Eiertanz führen sie auf, wenn es um Frischs Anwesenheit beim Weltfriedenskongress 1948 in Polen, in Begleitung den Schweizer Publizisten François Bondy, geht. Frisch nennt in seinen Randbemerkungen beim Studium der Fiches den Schweizer Botschafter in Polen als Informanten -, "oder es ist François Bondy, der dafür keinen Schwarzen Balken braucht". Beide Herren kann man sich schwerlich als Mitarbeiter des Geheimdienstes vorstellen. Die Herausgeber entblöden sich jedoch nicht, den grotesken Verdacht weiter zu schüren: "Wofür aber sonst könnte François Bondy einen Schwarzen Balken brauchen?" Sie stilisieren die Fiches ohne Belang zum "wuchernden Geschwür", zur "Verdachtsmaschine, die vor nichts zurückschreckt". Das fällt auf sie zurück. Die Konstruktion ist um so perverser, als sie sich auf eine historische Tatsache stützen könnte, die von den Herausgebern unterschlagen wird: Bondy gehörte kurz danach zu den führenden Intellektuellen des "Kongresses für die Freiheit der Kultur", der von Amerika als Gegenstück zur stalinistischen Friedenspropaganda ins Leben gerufen und mit Geldern der CIA finanziert wurde. An diesen Zusammenhang mag Frisch gedacht haben. Gugerli und Mangold aber spekulieren, ob er "den absurden Verdacht verarbeiten musste, dass François Bondy der Informant gewesen sei". In Anlehnung an ihren Buchtitel muss man das wohl als "Infamie aus Ignoranz" bezeichnen.

Die politische und literarische Überhöhung nimmt noch komischere Züge an: "Frisch unternahm den Versuch, die Deutungshoheit über das eigene Leben zurück zu erlangen. Dabei brach er mit jenem Staat, der seine Kritik nur als zerstörenden Tadel behandelt hatte." Frischs Verhältnis zur Schweiz, die er in seinen Anfängen als Architekt und Schriftsteller durchaus verinnerlicht hatte, war da längst geklärt. Und die Deutungshoheit hatte der Autor großer Romane mit dem gemeinsamen Thema Identität nie verloren, schon gar nicht an den Staat.

Es gab gute Gründe, die Fiches zu Frisch und ihre Kommentierung durch den Dichter zu publizieren. Sie zeigen, wie sehr das System Schweiz im Kalten Krieg auch die Köpfe seiner Kritiker kolonisiert hatte. Die Staats-Identitätskrise von 1989 wurde verstärkt durch die kurz darauf folgenden Tode der beiden prominentesten Schweizer Schriftsteller, Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Letzteren hatte die Schnüffelstaat-Affäre zur Metapher vom Gefängnis, das von Freiwilligen bewohnt werde, inspiriert. In einem Gefängnis mit sauber geputzten Zellen, wo "selbst die Gitterstäbe abgestaubt werden", beginnt auch Frischs Klassiker "Stiller".

Sein Roman "Homo Faber" wiederum startet mit einem Flugzeugabsturz. 25 Jahre nach Frischs Tod gibt es viele Anzeichen für ein Ende seines Purgatoriums und eine Rückkehr des politischen Intellektuellen in der Schweiz. Adolf Muschg hatte in den Neunzigern die Debatten über die Kriegsvergangenheit noch fast allein bestritten und Hugo Lötscher die Gewissheit, dass nicht der Einfluss der Intellektuellen, sondern nur Druck von außen das Land verändern würde. Ihm widersetzte sich die Schweizerische Volkspartei, deren kulturelle Hegemonie nun zu Ende geht. Dass es zu Frischs Todestag keine Ausgabe der Schweizer Kulturzeitschrift "Du" über ihn gibt, hat allerdings mit der SVP und dem vieldiskutierten Aufsatz "Die Schweiz ist des Wahnsinns" zu tun, den Lukas Bärfuss für diese Zeitung verfasst hat (F.A.Z. vom 15. Oktober 2015). Der Schriftsteller hatte enthüllt, dass der SVP-Politiker Christoph Blocher für das "Du"-Heft über seine Gemäldesammlung Geld bezahlt hatte. Die Frisch-Stiftung, in der Bärfuss mitwirkt, wollte dagegen nicht bezahlen, und für die im Dezember publizierte Ausgabe des Magazins zu Dürrenmatts 25. Todestag zog der Schweizer Literaturkritiker Stefan Zweifel aus Protest gegen die Praxis der Finanzierung seinen Beitrag zurück.

Das Bändchen "Ignoranz als Staatsschutz" erscheint also am Anfang einer neuen Schweizer Epoche. Es kündet noch von einer Zeit, in der die politische Polizei belanglose Daten von Eidgenossen sammelte, die diese heute freiwillig auf Facebook vertreiben. Und das Buch ist eng mit dem literarischen Werk Frischs vernetzt. Der todkranke reale Dichter, der sich mit den Fetzen seiner Fiches herumschlägt, erinnert an den Herrn Geiser aus seiner großartigen Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän". Der alte Witwer, allein in seinem Haus im Tessin, schneidet im Dauerregen, der das Dorf von der Umwelt isoliert hat, aus Lexika Artikel aus, die er an die Wand klebt, wo sie der Wind verweht. Frisch hat sie in Faksimile in den Text montiert: "Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht."

JÜRG ALTWEGG

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»Es ist ein Akt der Gespensteraustreibung. Schreibend macht Frisch aus der Fremd- eine Autobiografie. In diesem Prozess bricht er mit einem Staat, der seine, Frischs, Kritik nicht verkraftet hat ... Was für ein bitteres Buch. Was für ein ernüchternder Blick auf ein vermeintlich gelobtes Land.« Barbara Möller DIE WELT 20151024