Mik ist verdammt klein für sein Alter und hat auch sonst alle Voraussetzungen, um unter die Räder zu kommen. Sein Leben in einem Vorort von Stockholm ist alles andere als rosig: sein Vater trinkt, der große Bruder geht seine eigenen Wege. Nur der 12-jährige Mik hält nach außen die Fassade einer halbwegs heilen Familie aufrecht. Bis ihn das Jugendamt bei einer Pflegefamilie unterbringt. Mik läuft davon und schlägt sich zu seiner Tante im Norden von Schweden durch, wo er Geborgenheit und Freunde findet. Als die Sozialarbeiter ihn auch dort abholen wollen, kommt es zur Entscheidung auf Leben und Tod. Ein realistisches und trotz allem humorvolles Jugendbuch vom Alltag eines Jungen am Rande der Gesellschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2009Die hilflosen Helfer
Für seine Jugendromane wird der Schwede Mikael Engström in Deutschland gefeiert. Das ist auch ein Verdienst seiner trefflichen Übersetzerin Birgitta Kicherer.
Schon wieder ein übersetztes Buch, dieser neue Jugendroman des schwedischen Autors Mikael Engström. Man mag sich über den Überhang an Übersetzungen auf dem deutschen Jugendbuchmarkt ärgern, Tatsache ist: Wir haben wenige aufregende Autoren im Lande, und die Übernahme von schon bewährten Titeln aus dem Ausland ist für die Verlage einfacher, als eigene Autoren aufzubauen. Über die Transportarbeiten der Übersetzer denkt dabei kaum jemand nach. Es denkt ja auch niemand über den festen Boden nach, auf dem er geht. Es sei denn, er trifft auf Stolperstellen.
Daher ist Mikael Engströms Übersetzerin Birgitta Kicherer wahrscheinlich die Allerletzte, über die ein Leser nachdenkt, während er "Ihr kriegt mich nicht!" liest. Schon allein, weil der Roman einfach zu spannend ist, um nebenher an etwas anderes zu denken als an seinen Helden Mik, der sich ein besseres Leben erkämpft. Aber auch, weil Birgitta Kicherer sich im Dienste aller Bücher, die sie in Händen hat, vollkommen unsichtbar macht. In Schweden geboren, kam sie im Alter von acht Jahren nach Deutschland. Sie hält Kontakt zu Jugendlichen, sie hält sich eine schwedische Tageszeitung, sie hält im Alltag Augen und Ohren offen. Und sie bringt uns die grausamsten, witzigsten, heitersten, dunkelsten Geschichten, die Schweden für Kinder und Jugendliche bereithält, ins Deutsche. Für den pubertären Schwerenöter Bert ("Berts Katastrophen") kann sie hemmungslos albern sein und auch mal einige seiner besten Witze und Sprüche selbst erfinden; für die freundlichen Kindergeschichten von Gunnel Linde schlägt sie deren heiter schwingenden Ton an; für den Jugendbuchautor Peter Pohl hat sie todestiefe Abgründe zur Sprache gebracht. Ihr Meisterwerk war vor einigen Jahren die Neuübersetzung der "Mumin"-Bücher von Tove Jansson in ihrer ganzen funkelnden Lebensfülle und mit ihren Untiefen.
Nun hat auch Mikael Engström das Glück, von ihr aufgenommen zu werden. Die große Zeit von Peter Pohl ist vorüber, der direkte, mit zunehmendem Alter manchmal auch etwas schmierige Mats Wahl ist nicht jedermanns Sache - aus Schweden kam in letzter Zeit wenig Großartiges für jugendliche Leser. Mikael Engström ist eine erfreuliche Ausnahme. Schon seine ersten beiden Romane aus den Jahren 2003 und 2006, "Brando" und "Steppo", waren Stromstöße von Leselust und -schreck. So beißend, geistreich und zugleich herzerwärmend hatte noch niemand die Vorstadttristesse des Wohlfahrtsstaates ins Jugendbuch gebracht; dergleichen war bisher eher Sache der Krimiautoren für Erwachsene gewesen.
Ein Übersetzer hat immer eine Wahl, speziell beim Jugendbuch. Schon die ersten beiden Seiten von "Ihr kriegt mich nicht" stellen klar, dass Mikael Engström alles andere als ein korrekter Autor ist. Birgitta Kicherer entscheidet sich aber stets für Worte, die um einen Grad haltbarer sind als die sich nach vorne drängelnden kurzlebigen Modeausdrücke der Jugendsprache. Der Tonfall wird dadurch nicht etwa lascher, sondern kraftvoller.
Mikael Engström ist begeisterter Angler - das Thema durchzieht alle drei Werke. Wenn "Brando" und "Steppo" nicht so viel Eigensubstanz hätten, könnte man sagen: Mit ihnen hat er uns nur angefüttert, um uns mit seinem dritten Jugendroman endgültig an den Haken zu kriegen. Zunächst sind die Zutaten ähnlich: Auch der zwölf Jahre alte Mik wohnt in Hagalund am Rande Stockholms, auch ihm fehlt ein Elternteil, während das andere nicht zurechnungsfähig ist. Auch er ist in der Schule einem rauhen Klima ausgesetzt. Die Erwachsenen sind gleichgültig oder gönnerhaft oder beides. Engström hegt eine ausgeprägte Abneigung gegen die staatliche Sozialfürsorge - die hilflosen Helfer kommen hier wieder am schlechtesten weg.
Allerdings lernen wir mit Mik auch differenziertere Erwachsenenfiguren kennen. Als der Junge die Alkoholsucht seines Vaters nicht mehr verheimlichen kann, wird er vorübergehend zu seiner Tante Lena nach Nordschweden aufs Land geschickt. Aus dem Zusammenprall des Problemkindes aus der Großstadt mit den kräftigen Originalen, die in einem im Schnee vergrabenen Dorf versammelt sind, entstehen die witzigsten Situationen der Geschichte. Mik gewinnt unter den cleveren Landkindern schnell Freunde, er mag Lena, die unbekannten Wintersensationen schärfen seine Sinne, er fühlt sich zum ersten Mal seit langem wohl. Statt sich nur zu wehren, beginnt er, etwas in sich zu entwickeln.
Doch Engström vermeidet dabei jeden Anflug von Landliebe-Romantik, indem er die Dorfleute und ihre Schrullen aus Miks nüchternem Stadtpflanzen-Blickwinkel beschreibt. Lakonisch und unbarmherzig ist der Ton, den er anschlägt, aber es gibt auch warme Unterströmungen, die Birgitta Kicherer ebenso beiläufig zwischen die Zeilen fließen lässt, wie sie gewisse Derbheiten klar markiert. Alles bleibt aus einem Guss. Das Ergebnis ist oft so komisch oder grausam oder beides, dass die Essenz des Buches unauffällig wirken kann: Echte, bedingungslose und unbezahlte Verbindlichkeit ist existentiell. Oder, wenn man den Begriff weiter fasst: Familie ist wichtig.
Bis dies für Mik wahr wird, muss er noch einige tiefschwarze Runden drehen, die auch für den Leser schwer auszuhalten sind. Dafür wird er am Ende mit zwei atemberaubenden Abenteuern belohnt, bei denen Mik jedes Mal fast untergeht. Aber er lernt schwimmen, im Wortsinn und auch sonst für sein Leben.
Was bleibt danach noch zu wünschen? Dass wir auch hierzulande mehr Autoren hätten, die so zupackend und geistreich das wirkliche Leben erfassen. Und dass die sich dann bei Birgitta Kicherer den letzten Schliff holen, damit jeder Satz genau so dasteht, wie er gemeint ist.
MONIKA OSBERGHAUS.
Mikael Engström: "Ihr kriegt mich nicht!". Aus dem Schwedischen übersetzt von Birgitta Kicherer. Carl Hanser Verlag, München 2009. 267 S., br., 15,90 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für seine Jugendromane wird der Schwede Mikael Engström in Deutschland gefeiert. Das ist auch ein Verdienst seiner trefflichen Übersetzerin Birgitta Kicherer.
Schon wieder ein übersetztes Buch, dieser neue Jugendroman des schwedischen Autors Mikael Engström. Man mag sich über den Überhang an Übersetzungen auf dem deutschen Jugendbuchmarkt ärgern, Tatsache ist: Wir haben wenige aufregende Autoren im Lande, und die Übernahme von schon bewährten Titeln aus dem Ausland ist für die Verlage einfacher, als eigene Autoren aufzubauen. Über die Transportarbeiten der Übersetzer denkt dabei kaum jemand nach. Es denkt ja auch niemand über den festen Boden nach, auf dem er geht. Es sei denn, er trifft auf Stolperstellen.
Daher ist Mikael Engströms Übersetzerin Birgitta Kicherer wahrscheinlich die Allerletzte, über die ein Leser nachdenkt, während er "Ihr kriegt mich nicht!" liest. Schon allein, weil der Roman einfach zu spannend ist, um nebenher an etwas anderes zu denken als an seinen Helden Mik, der sich ein besseres Leben erkämpft. Aber auch, weil Birgitta Kicherer sich im Dienste aller Bücher, die sie in Händen hat, vollkommen unsichtbar macht. In Schweden geboren, kam sie im Alter von acht Jahren nach Deutschland. Sie hält Kontakt zu Jugendlichen, sie hält sich eine schwedische Tageszeitung, sie hält im Alltag Augen und Ohren offen. Und sie bringt uns die grausamsten, witzigsten, heitersten, dunkelsten Geschichten, die Schweden für Kinder und Jugendliche bereithält, ins Deutsche. Für den pubertären Schwerenöter Bert ("Berts Katastrophen") kann sie hemmungslos albern sein und auch mal einige seiner besten Witze und Sprüche selbst erfinden; für die freundlichen Kindergeschichten von Gunnel Linde schlägt sie deren heiter schwingenden Ton an; für den Jugendbuchautor Peter Pohl hat sie todestiefe Abgründe zur Sprache gebracht. Ihr Meisterwerk war vor einigen Jahren die Neuübersetzung der "Mumin"-Bücher von Tove Jansson in ihrer ganzen funkelnden Lebensfülle und mit ihren Untiefen.
Nun hat auch Mikael Engström das Glück, von ihr aufgenommen zu werden. Die große Zeit von Peter Pohl ist vorüber, der direkte, mit zunehmendem Alter manchmal auch etwas schmierige Mats Wahl ist nicht jedermanns Sache - aus Schweden kam in letzter Zeit wenig Großartiges für jugendliche Leser. Mikael Engström ist eine erfreuliche Ausnahme. Schon seine ersten beiden Romane aus den Jahren 2003 und 2006, "Brando" und "Steppo", waren Stromstöße von Leselust und -schreck. So beißend, geistreich und zugleich herzerwärmend hatte noch niemand die Vorstadttristesse des Wohlfahrtsstaates ins Jugendbuch gebracht; dergleichen war bisher eher Sache der Krimiautoren für Erwachsene gewesen.
Ein Übersetzer hat immer eine Wahl, speziell beim Jugendbuch. Schon die ersten beiden Seiten von "Ihr kriegt mich nicht" stellen klar, dass Mikael Engström alles andere als ein korrekter Autor ist. Birgitta Kicherer entscheidet sich aber stets für Worte, die um einen Grad haltbarer sind als die sich nach vorne drängelnden kurzlebigen Modeausdrücke der Jugendsprache. Der Tonfall wird dadurch nicht etwa lascher, sondern kraftvoller.
Mikael Engström ist begeisterter Angler - das Thema durchzieht alle drei Werke. Wenn "Brando" und "Steppo" nicht so viel Eigensubstanz hätten, könnte man sagen: Mit ihnen hat er uns nur angefüttert, um uns mit seinem dritten Jugendroman endgültig an den Haken zu kriegen. Zunächst sind die Zutaten ähnlich: Auch der zwölf Jahre alte Mik wohnt in Hagalund am Rande Stockholms, auch ihm fehlt ein Elternteil, während das andere nicht zurechnungsfähig ist. Auch er ist in der Schule einem rauhen Klima ausgesetzt. Die Erwachsenen sind gleichgültig oder gönnerhaft oder beides. Engström hegt eine ausgeprägte Abneigung gegen die staatliche Sozialfürsorge - die hilflosen Helfer kommen hier wieder am schlechtesten weg.
Allerdings lernen wir mit Mik auch differenziertere Erwachsenenfiguren kennen. Als der Junge die Alkoholsucht seines Vaters nicht mehr verheimlichen kann, wird er vorübergehend zu seiner Tante Lena nach Nordschweden aufs Land geschickt. Aus dem Zusammenprall des Problemkindes aus der Großstadt mit den kräftigen Originalen, die in einem im Schnee vergrabenen Dorf versammelt sind, entstehen die witzigsten Situationen der Geschichte. Mik gewinnt unter den cleveren Landkindern schnell Freunde, er mag Lena, die unbekannten Wintersensationen schärfen seine Sinne, er fühlt sich zum ersten Mal seit langem wohl. Statt sich nur zu wehren, beginnt er, etwas in sich zu entwickeln.
Doch Engström vermeidet dabei jeden Anflug von Landliebe-Romantik, indem er die Dorfleute und ihre Schrullen aus Miks nüchternem Stadtpflanzen-Blickwinkel beschreibt. Lakonisch und unbarmherzig ist der Ton, den er anschlägt, aber es gibt auch warme Unterströmungen, die Birgitta Kicherer ebenso beiläufig zwischen die Zeilen fließen lässt, wie sie gewisse Derbheiten klar markiert. Alles bleibt aus einem Guss. Das Ergebnis ist oft so komisch oder grausam oder beides, dass die Essenz des Buches unauffällig wirken kann: Echte, bedingungslose und unbezahlte Verbindlichkeit ist existentiell. Oder, wenn man den Begriff weiter fasst: Familie ist wichtig.
Bis dies für Mik wahr wird, muss er noch einige tiefschwarze Runden drehen, die auch für den Leser schwer auszuhalten sind. Dafür wird er am Ende mit zwei atemberaubenden Abenteuern belohnt, bei denen Mik jedes Mal fast untergeht. Aber er lernt schwimmen, im Wortsinn und auch sonst für sein Leben.
Was bleibt danach noch zu wünschen? Dass wir auch hierzulande mehr Autoren hätten, die so zupackend und geistreich das wirkliche Leben erfassen. Und dass die sich dann bei Birgitta Kicherer den letzten Schliff holen, damit jeder Satz genau so dasteht, wie er gemeint ist.
MONIKA OSBERGHAUS.
Mikael Engström: "Ihr kriegt mich nicht!". Aus dem Schwedischen übersetzt von Birgitta Kicherer. Carl Hanser Verlag, München 2009. 267 S., br., 15,90 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.08.2009Auf der Flucht
Michael Engströms Roman: „Ihr kriegt mich nicht!”
In Mikael Engströms neuem Roman Ihr kriegt mich nicht! fragt sich der Leser, wo sind wir hier eigentlich? In Nangijala? Im Mattiswald? Selbst dem elfjährigen Helden Mik kommen immer wieder Krümel und Jonathan Löwenherz in den Sinn, wenn er an sein eigenes karges Leben denkt, mit Bruder und Vater.
Wir Leser werden in der Geschichte an Die Brüder Löwenherz erinnert, an das Kirschblütental, manchmal an das Heckenrosental und an die Karmafälle, hinter denen Katla und Tengil lauern. In hoffnungsvollen Augenblicken lugen sogar Ronja und Birk aus Ronja Räubertochter drüben hinterm Buschwerk am Fluss hervor. Fluss – ja, hier kommen auch Huckleberry Finn und Tom Sawyer ins Spiel, selbst wenn die nordschwedische Flusslandschaft – in der sich ein großer Teil der Geschichte ereignet – nicht im entferntesten an den Mississippi erinnert und auch nicht an das liebliche Småland Astrid Lindgrens. Und bei Solna schließlich – wo Mik aufwächst – denken wir an die düstere Stimmung in Mats Wahls Adoleszenzromanen, vor allem in der Winterbucht.
Wie geht das zusammen? Durch eine kluge Dramaturgie des Autors, der – wie in seinem Romandebüt Brando – das gar nicht anheimelnde Leben eines Großstadtkindes so märchenhaft realistisch in Szene setzt (hervorragend von Birgitta Kicherer übersetzt), dass wir uns während der Lektüre keine Verschnaufpause gönnen. Für die jungen Leser ist Ihr kriegt mich nicht! ein spannender und aufwühlender Roman, für die Älteren ähnelt das Buch fast einem Gleichnis. Die anfänglichen Bedenken, Engström könne den Fehler wiederholen, der seinen zweiten Roman Steppo durchzog, verflüchtigen sich bald. Damals hatte der Autor das Sozialdrama um seinen jugendlichen Antihelden gar zu künstlich mit Atmosphäre aufgeladen.
Zwar beginnt Ihr kriegt mich nicht! in ähnlich schwierigem Milieu wie Steppo. Aber dann befreit sich Engström, indem er Mik auf eine dramatische Reise schickt. Mik ist ein Kind aus einer kaputten Familie: Mutter gestorben, Vater Alkoholiker ohne Einsicht. Der ältere Bruder versorgt Mik und Vater, gerät dabei jedoch auf die schiefe Bahn. Das Sozialamt schaltet sich ein. Nach ein paar wunderbaren Winterwochen bei seiner unkonventionellen Tante an einem See im hohen Norden wird der kleine Mik von zwei diensteifrigen Sozialarbeitern „in Obhut genommen” und einer Pflegefamilie zugeführt. Der Junge geht durch die Hölle, versucht mehrmals zu fliehen und landet schließlich wieder – diesmal illegal – bei der Tante und den skurrilen, eigensinnigen und dennoch liebenswerten Bewohnern des Dorfes am Rande der Welt. Doch die Sozialstaatsmacht ist ihm auf der Spur, beharrt auf der Durchsetzung der Beschlüsse und ahnt nicht, was sie damit anrichtet.
Engström verbindet das soziale Drama geschickt mit Elementen eines Abenteuerromans in schrecklich-schöner Landschaft. Er verbindet zudem die inneren Kämpfe des Kindes, das jede Orientierung verloren hat, mit einer im Hintergrund wirkenden moralischen Kraft, die Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung setzt. Der Junge nähert sich ganz vorsichtig Menschen, bei denen er sich geborgen fühlt und anerkannt. Aber es ist wie bei den Brüdern Löwenherz: Dummheit und Bösartigkeit lauern nicht nur im tristen Milieu der Großstadt, sie lauern selbst in Gegenden, die dem Kirschblütental aus den Brüdern Löwenherz gleichen.
Das Kirschblütental Engströms ist ein Dorf an einem zauberhaften See in Nordschweden. Ob es von Tengil und damit dem Bösen erobert wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Menschen bereit sind, den Jungen Mick aufzunehmen und in einer dramatischen Aktion zu retten. (ab 12 Jahre) SIGGI SEUSS
MIKAEL ENGSTRÖM: Ihr kriegt mich nicht! Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. Hanser 2009. 268 Seiten, 15,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Michael Engströms Roman: „Ihr kriegt mich nicht!”
In Mikael Engströms neuem Roman Ihr kriegt mich nicht! fragt sich der Leser, wo sind wir hier eigentlich? In Nangijala? Im Mattiswald? Selbst dem elfjährigen Helden Mik kommen immer wieder Krümel und Jonathan Löwenherz in den Sinn, wenn er an sein eigenes karges Leben denkt, mit Bruder und Vater.
Wir Leser werden in der Geschichte an Die Brüder Löwenherz erinnert, an das Kirschblütental, manchmal an das Heckenrosental und an die Karmafälle, hinter denen Katla und Tengil lauern. In hoffnungsvollen Augenblicken lugen sogar Ronja und Birk aus Ronja Räubertochter drüben hinterm Buschwerk am Fluss hervor. Fluss – ja, hier kommen auch Huckleberry Finn und Tom Sawyer ins Spiel, selbst wenn die nordschwedische Flusslandschaft – in der sich ein großer Teil der Geschichte ereignet – nicht im entferntesten an den Mississippi erinnert und auch nicht an das liebliche Småland Astrid Lindgrens. Und bei Solna schließlich – wo Mik aufwächst – denken wir an die düstere Stimmung in Mats Wahls Adoleszenzromanen, vor allem in der Winterbucht.
Wie geht das zusammen? Durch eine kluge Dramaturgie des Autors, der – wie in seinem Romandebüt Brando – das gar nicht anheimelnde Leben eines Großstadtkindes so märchenhaft realistisch in Szene setzt (hervorragend von Birgitta Kicherer übersetzt), dass wir uns während der Lektüre keine Verschnaufpause gönnen. Für die jungen Leser ist Ihr kriegt mich nicht! ein spannender und aufwühlender Roman, für die Älteren ähnelt das Buch fast einem Gleichnis. Die anfänglichen Bedenken, Engström könne den Fehler wiederholen, der seinen zweiten Roman Steppo durchzog, verflüchtigen sich bald. Damals hatte der Autor das Sozialdrama um seinen jugendlichen Antihelden gar zu künstlich mit Atmosphäre aufgeladen.
Zwar beginnt Ihr kriegt mich nicht! in ähnlich schwierigem Milieu wie Steppo. Aber dann befreit sich Engström, indem er Mik auf eine dramatische Reise schickt. Mik ist ein Kind aus einer kaputten Familie: Mutter gestorben, Vater Alkoholiker ohne Einsicht. Der ältere Bruder versorgt Mik und Vater, gerät dabei jedoch auf die schiefe Bahn. Das Sozialamt schaltet sich ein. Nach ein paar wunderbaren Winterwochen bei seiner unkonventionellen Tante an einem See im hohen Norden wird der kleine Mik von zwei diensteifrigen Sozialarbeitern „in Obhut genommen” und einer Pflegefamilie zugeführt. Der Junge geht durch die Hölle, versucht mehrmals zu fliehen und landet schließlich wieder – diesmal illegal – bei der Tante und den skurrilen, eigensinnigen und dennoch liebenswerten Bewohnern des Dorfes am Rande der Welt. Doch die Sozialstaatsmacht ist ihm auf der Spur, beharrt auf der Durchsetzung der Beschlüsse und ahnt nicht, was sie damit anrichtet.
Engström verbindet das soziale Drama geschickt mit Elementen eines Abenteuerromans in schrecklich-schöner Landschaft. Er verbindet zudem die inneren Kämpfe des Kindes, das jede Orientierung verloren hat, mit einer im Hintergrund wirkenden moralischen Kraft, die Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung setzt. Der Junge nähert sich ganz vorsichtig Menschen, bei denen er sich geborgen fühlt und anerkannt. Aber es ist wie bei den Brüdern Löwenherz: Dummheit und Bösartigkeit lauern nicht nur im tristen Milieu der Großstadt, sie lauern selbst in Gegenden, die dem Kirschblütental aus den Brüdern Löwenherz gleichen.
Das Kirschblütental Engströms ist ein Dorf an einem zauberhaften See in Nordschweden. Ob es von Tengil und damit dem Bösen erobert wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Menschen bereit sind, den Jungen Mick aufzunehmen und in einer dramatischen Aktion zu retten. (ab 12 Jahre) SIGGI SEUSS
MIKAEL ENGSTRÖM: Ihr kriegt mich nicht! Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. Hanser 2009. 268 Seiten, 15,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dies ist eine überaus freundliche Besprechung von Mikael Engströms Jugendroman, mehr noch aber ist es eine Hymne auf die Übersetzerin Brigitta Kicherer. Der gelinge es keinesfalls nur bei diesem Roman, lobt Monika Osberghaus, mit schlafwandlerischer Sicherheit den richtigen Ton zu treffen und sich selbst so unsichtbar zu machen, dass das reine - und in diesem Fall auch sehr spannende - Lesevergnügen daraus wird. Dabei ist der vorliegende Roman eine durchaus harte Geschichte. Der Held des Buchs Mik wächst in sozial schwierigen Großstadtverhältnissen auf und wird, als gar nichts mehr geht, aufs Land geschickt. Osberghaus gibt gleich Entwarnung: Bei einem versierten Autor wie Engström besteht aber nicht die mindeste Land- und Sozialromantikgefahr. Der einzige Wunsch, den die Rezensentin am Ende der Lektüre hat, wäre der, es möge auch in Deutschland vergleichbar gute Jugendbuchautoren wie Engström geben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Birgitta Kicherer hat die Erzählkunst des Autors souverän ins Deutsche übersetzt. Engström ist seinem Helden spürbar zärtlich verbunden, vermeidet Pathos und hat einen ausgeprägten Sinn für Humor. Er baut in diese Odyssee durch die Hölle Erholungspausen ein, inszeniert die nordschwedische Landschaft als paradiesisches Eiland, besiedelt von skurrilen, aber liebenswerten Figuren, gut geeignet für kindliche Abenteuer." Franz Lettner, DIE ZEIT, 29.10.09 "Ein spannender und aufwühlender Roman: Engström verbindet das soziale Drama geschickt mit Elementen eines Abenteuerromans in schrecklich-schöner Landschaft. Er verbindet zudem die inneren Kämpfe des Kindes, das jede Orientierung verloren hat, mit einer im Hintergrund wirkenden moralischen Kraft, die Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung setzt." Siggi Seuss, Süddeutsche Zeitung, 07.08.09 "Wenn Brando und Steppo nicht so viel Eigensubstanz hätten, könnte man sagen: Mit ihnen hat er uns nur angefüttert, um uns mit seinem dritten Jugendroman endgültig an den Haken zu kriegen. Was bleibt danach noch zu wünschen? Dass wir hierzulande mehr Autoren hätten, die so zupackend und geistreich das wirkliche Leben erfassen." Monika Osberghaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.09 "Engström schafft eine großartige Balance zwischen der Dramatik des eigentlichen Plots und Momentaufnahmen aus Miks Alltag, die mit zahlreichen originellen Einfällen angereichert sind." Florin Bühler, Neue Zürcher Zeitung, 07.10.09 Ausgezeichnet mit dem Coverpreis 2010 - Jury der jungen Leser, Literaturhaus Wien: "Das Cover von "Ihr Kriegt mich nicht", ist vermutlich das einzig Cover, an dem sogar wir nichts auszusetzen haben. Jede Farbnuance harmoniert mit dem Rest, der Titel fügt sich perfekt in das Gesamtbild ein. Wirklich ins Auge springt einem das unglaublich süße, verschmitzt lächelnde Gesicht eines Jungen mit knallroten Haaren. Es weckt schlichtweg Sympathie.""Engström treibt hier einen regelrechten Abenteuerthriller voran. Zugleich ist Ihr kriegt mich nicht! ein - oft schmerzlich - realistischer Roman, der seinen Helden nie alleine lässt und ihn immer ernst nimmt, gleich, ob es um dessen Angst geht, dessen Prahlerei oder dessen Sehnsucht." Guido Graf, Die Welt, 05.12.09 "Ein schwedischer Geniestreich: Es ist eines dieser Bücher, die man nicht aus der Hand legen kann, ehe man sie ausgelesen hat. Ein zugleich trauriges und vergnügliches Buch - eines der besten Jugendbücher der Saison." Susanne Lintl, Kurier, 22.11.09 "Es gibt zu wenig gute Literatur für Jungs? Hier ist ein Buch, das man nicht verpassen sollte. Denn wie Mik die Abgründe meistert, die sich in Engströms Roman auftun, zeigt famos, was das Leben lebenswert macht. Engström erzählt unsentimental, in schnörkellos aus dem Leben gegriffenen, oft witzigen Dialogen - und trifft uns doch mitten ins Herz." Andrea Kachelriess, Stuttgarter Nachrichten, 13.10.09 "Wie Lindgren hat Engström die Gabe, mitten hineinzutauchen in die Seelen von Kindern und Jugendlichen, aus deren Perspektive er seinen Kosmos aus Gut und Böse entfaltet und für die er entschieden Partei ergreift." Anita Rüffer, Badische Zeitung, 08.09.09
»Mikael Engström beschreibt die emotionale Berg- und Talfahrt des Kindes auf eine spannende Art und Weise. Der Roman lässt den Leser durch seine packende Handlung aufhorchen.« Jana Pecikiewicz, Heilbronner Stimme 03.11.2011