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  • ISBN-13: 9788806129392
  • Artikelnr.: 20758233
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.1995

Spielen oder Sterben
Pirandellos "Mattia Pascal" in neuer Übersetzung

Als Luigi Pirandello am 10. Dezember 1936 in seiner spartanischen Wohnung in Rom an einer Lungenentzündung starb, die er sich während der Dreharbeiten zur Verfilmung seines Romans "Il fu Mattia Pascal" zugezogen hatte, schickte Benito Mussolini sofort einen Regierungsvertreter in das Trauerhaus. Und der war entsetzt, als er von der letzten Verfügung des Verstorbenen erfuhr, weil sie dem faschistischen Regime das Spektakel eines pompösen Staatsbegräbnisses verwehrte. Schließlich hieß es da: "Man übergehe meinen Tod mit Stillschweigen. Keine Anzeigen . . . Man hülle mich nackt in ein Leinentuch. Wagen letzter Klasse wie für die Armen. Nackt . . . und sonst gar nichts."

Mit kategorischer Konsequenz hat der größte Dramatiker Italiens, dessen Stücke - das Theater des zwanzigsten Jahrhunderts revolutionierend - alle Bühnen der Welt erreichten, in seinem Testament noch einmal bekräftigt, daß wir alle nur maschere nude, nur nackte Masken sind. Unter diesem Titel ließ er sein dramatisches Werk drucken, und ohne den Schlüsselbegriff der Maske kommen auch seine sieben Romane, vornehmlich der "Mattia Pascal" und "Einer, keiner, hunderttausend", nicht aus. Denn "jeder richtet sich seine Maske so her, wie er es vermag", wie er 1908 in seinem langen Essay über den "L'umorismo" schrieb, mit dem er nicht nur die ästhetische Theorie zur Persönlichkeitsmaskerade des vier Jahre zuvor erschienenen "Mattia Pascal" nachlieferte, sondern auch den Relativismus seiner späteren Tragikomödien philosophierend begründete: "Was für ein Gesicht hat man uns denn mitgegeben, um die Rolle eines Lebenden darzustellen? Nichts als Masken, Masken . . . Ein Windhauch, und sie verfliegen, um anderen Masken Platz zu machen. Und nichts ist wahr. Wahr ist das Meer, wahr sind die Berge, die Felsen, wahr ist ein Grashalm. Doch der Mensch? Immer maskiert, ohne es zu wollen, ohne es zu wissen, maskiert mit dem Ding, was er guten Glaubens für sein Ich hält . . . Und das läßt einen vor Lachen platzen, wenn man nur daran denkt . . ."

Dem hat Umberto Eco entgegengehalten, daß es "wahrhaftig nichts mehr zu lachen gibt, wenn die menschliche Existenz tatsächlich so ist, wie Pirandello sie beschreibt". Doch genau das wollte der 1867 bei Agrigent geborene "geheimnisvolle Sizilianer" mit "Sechs Personen suchen einen Autor", "Enrico IV." mit "Heute abend spielen wir aus dem Stegreif" demonstrieren. Indem er den Vater und Wortführer der "Sechs Personen" verzweifelt ins Publikum rufen läßt, "in jedem von uns sind unzählige Ichs. Die Illusion, immer der gleiche für alle zu sein, ist eine Illusion", karikierte er die Idee menschlicher Identität und entlarvte die naturalistische Vorstellung von der Eindeutigkeit, der materialistischen Determiniertheit des Menschen als Farce. Nur maskentragend läßt sich das Leben überstehen, immer neue Rollen improvisierend. Wer sich dem Stegreifspiel entzieht, ja bewußt verweigert, wie etwa der Sohn aus den 1921 uraufgeführten "Sechs Personen", gibt sich selbst den Tod.

Von diesem bitterbösen Fazit, das bestenfalls durch die Flucht in den Wahnsinn scheinbar gemildert werden kann, ist Pirandello in seinem dritten Roman "Il fu Mattia Pascal" noch entfernt. Hier überwiegt die Freude am Spiel, darf die Wahl des Kostüms noch selbst getroffen werden und kann über den Blick der anderen zwar nicht gelacht, aber trotz mancher Beklemmung durchaus noch gelächelt werden.

Die längst überfällige Neuübersetzung der Geschichte vom eigenschaftslosen Provinzler Mattia Pascal, dem Fortuna ein zweites Ich ermöglicht, bekräftigt Pirandellos Aktualität als Romancier. Das ist auch nötig, nachdem der Erzähler Pirandello bei uns noch immer im Schatten des Dramatikers steht. Gewiß, ein filigraner Stilist ist hier nicht zu entdecken. Doch es war nicht Unvermögen, sondern jene (in den "Sechs Personen" bizarr thematisierte) Angst vor der endgültigen Form, die das Spontane, Lebendige, Unmittelbare tötet, von der der Autor schon damals auf fast neurotische Weise gequält war. Sabine Schneider hat in ihrer Übertragung weder die manchmal recht sprunghaften Satzverbindungen geglättet, noch hat sie die leicht antiquierte Sprache des kleinen Bibliothekars Mattia Pascal weniger sperrig und unbeholfen erscheinen lassen. Das verbürgt die Glaubwürdigkeit seines Berichtes und stellt uns einen einfachen, unbedeutenden Menschen vor, der von sich nur das eine zu sagen weiß: "Ich heiße Mattia Pascal."

Nachdem er aus dem Ghetto einer Bibliothek ohne Leser und eines Familienlebens ohne Zuneigung geflohen ist, gewinnt er beim Spiel in Monte Carlo eine beachtliche Summe, die ihm ein besseres, sogar ein völlig neues Leben ermöglichen könnte. Denn aus der Zeitung erfährt er, daß man bei ihm zu Hause einen Selbstmörder geborgen und als Mattia Pascal identifiziert hat. Er nutzt diesen doppelten Glücksfall, um unter dem Namen Adriano Meis ein ganz anderes, vermeintlich freies Leben zu beginnen. Aber nur scheinbar ist er ein völlig anderer, weil dieser Adriano Meis letztlich niemand ist, nur ein "erfundener Mensch" ohne zivilen Status. Gezwungen, vor jedermann sein Geheimnis zu wahren, wird er in Rom zu einem bindungslosen, einsamen Komödianten, für den es in der Gesellschaft keinen Platz gibt: ein Peter Schlemihl ohne Schatten. Nur sein zweiter Tod, der fingierte Selbstmord des Adriano Meis, kann ihm anscheinend seine verlorene Identität wiedergeben. In seine Heimat zurückgekehrt aber, gilt er den Leuten als ein Fremder, der dem ertrunken geglaubten Mattia Pascal verblüffend ähnlich sieht. Nicht mehr lebendig und doch nicht tot, nennt er sich - auf dem Grab des vermeintlichen Mattia Pascal einen Kranz niederlegend - "il fu Mattia Pascal", den gewesenen Mattia Pascal.

Noch erzählt Pirandello hier fast augenzwinkernd verschmitzt, läßt er Raum für Komik und bewahrt damit diese Persönlichkeitsmaskerade vor der Leere und Kälte höhnischer Verzweiflung, die später seine Protagonisten in den Wahnsinn versinken oder gar den Tod wählen läßt. "Mattia Pascal" ist Auftakt und Ritardando zugleich eines im wörtlichen Sinne fatalen Maskenspiels, bei dem Mattia immerhin die Demaskierung durch den Tod erspart bleibt. Den hat er ja schon hinter sich und ein mit der Maskenlosigkeit versöhntes Leben möglicherweise noch vor sich. UTE STEMPEL

Luigi Pirandello: "Mattia Pascal". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Sabine Schneider. Manesse Verlag, Zürich 1995. 433 S., geb., 31,10 DM.

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