Der sympathische sizilianische Commissario Salvo Montalbano ermittelt wieder: Beim Schwimmen im Meer vor seinem Haus in Marinella findet er eine Leiche. Der namenlose Tote ist einer der vielen illegalen Einwanderer, die nachts von Schleppern auf Booten vor der Küste abgesetzt werden. Als Montalbano kurze Zeit später einem Flüchtlingskind zu helfen versucht, erweist sich das als eine Tat mit fatalen Folgen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2003Sommerhit Vigàta
Wie ein literarischer Ort auf Sizilien Wirklichkeit wurde
So sicher wie der Sommer in Italien kommt ein Bestseller von Andrea Camilleri. Seit nicht einmal zehn Jahren wirft der anscheinend altersbedingt von allen Schreibhemmungen befreite 78-jährige Dramaturgie- Pensionär höchst erfolgreiche Bücher auf den Markt. Oft erscheinen gar im Abstand von nur wenigen Monaten mal ein Krimi über die sizilianische Gegenwart, mal eine romanhafte Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit (Wagenbach hat gerade die Übersetzung der wunderschönen Geschichte von „König Zosimo” verlegt). Aber jedes Mal ist ein Sommerbuch dabei, das die italienischen Leser in die warme Jahreszeit begleitet wie das sich langsam aufbauende Azorenhoch. Diesmal ist es wieder der Kommissar Montalbano – längst auch deutschen Lesern (bei Lübbe) oder Zuschauern (durch die TV-Serie) bekannt –, der für den Sellerio Verlag aus Palermo die Bestsellerlisten fest im Polizeigriff hat. Wie immer bei Camilleris fiktiven Geschichten spielen auch in diesem Roman „Il giro di boa” („Das Wendemanöver”) soziale und politische Anspielungen eine große Rolle. Eine so große sogar, dass sie den rechtschaffenen und links fühlenden Salvo Montalbano aus dem südsizilianischen Phantasieort Vigàta in eine Sinnkrise stürzen. Die ganz realen Polizeigriffe beim G8-Gipfel von Genua vor zwei Jahren, das Fälschen von Beweisen, das Misshandeln von Demonstranten, lassen den fiktiven Kommissar an seinem Berufsstand verzweifeln. „Ich fühle mich nicht verraten”, sagt er seiner Dauerverlobten Livia, die fern von ihm in Ligurien lebt, „ich bin verraten worden.”
Dass dann dennoch das Schlimmste, seine Demission nämlich, vorerst verhindert werden kann, liegt auch an verzweifelten Dritte-Welt-Flüchtlingen, die an der sizilianischen Küste landen – und an einer Leiche, die im Meer vor Vigàta schwimmt. Montalbano kann vielleicht nicht die Wirklichkeit erlösen, aber, wenn auch mit schlechtem Gewissen, einen Fall in Vigàta klären, dass kann er dann doch noch.
Camilleri-Fans wissen längst, dass dieses sympathische Vigàta, wo man außerdem wundervolle Fischgerichte serviert bekommt, dem Städtchen Porto Empedocle mit seinen 17000 Einwohnern vor den Toren von Agrigent, wo der Autor 1925 das Licht Siziliens erblickte, erstaunlich ähnlich sieht. Den Stadtvätern von Porto Empedocle ist das ebenfalls nicht entgangen. Und wenn Camilleri sich in seinen Romanen bei der Wirklichkeit bedient, warum sollten sie sich nicht an der Fiktion schadlos halten? Gesagt getan: mit einem einstimmigen Beschluss des Gemeinderates (und auch mit der Zustimmung des sich geehrt fühlenden Schriftstellers) nennt sich das Städtchen vom ersten Mai an ganz offiziell „Porto Empedocle Vigàta”. In der italienischen Toponomastik kennt man Fälle, wo sich Orte mit einem Autorennamen verbinden (zum Beispiel Arqua Petrarca oder Castagneto Carducci). Es ist jedoch das erste Mal in der Geschichte, dass man an einen literarischen Ort wirklich reisen kann. Und vermutlich wird das auch erwünscht. Vigàta, ein Sommerhit? Vielleicht. Aber nur, wenn Montalbano weitermacht.
HENNING KLÜVER
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wie ein literarischer Ort auf Sizilien Wirklichkeit wurde
So sicher wie der Sommer in Italien kommt ein Bestseller von Andrea Camilleri. Seit nicht einmal zehn Jahren wirft der anscheinend altersbedingt von allen Schreibhemmungen befreite 78-jährige Dramaturgie- Pensionär höchst erfolgreiche Bücher auf den Markt. Oft erscheinen gar im Abstand von nur wenigen Monaten mal ein Krimi über die sizilianische Gegenwart, mal eine romanhafte Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit (Wagenbach hat gerade die Übersetzung der wunderschönen Geschichte von „König Zosimo” verlegt). Aber jedes Mal ist ein Sommerbuch dabei, das die italienischen Leser in die warme Jahreszeit begleitet wie das sich langsam aufbauende Azorenhoch. Diesmal ist es wieder der Kommissar Montalbano – längst auch deutschen Lesern (bei Lübbe) oder Zuschauern (durch die TV-Serie) bekannt –, der für den Sellerio Verlag aus Palermo die Bestsellerlisten fest im Polizeigriff hat. Wie immer bei Camilleris fiktiven Geschichten spielen auch in diesem Roman „Il giro di boa” („Das Wendemanöver”) soziale und politische Anspielungen eine große Rolle. Eine so große sogar, dass sie den rechtschaffenen und links fühlenden Salvo Montalbano aus dem südsizilianischen Phantasieort Vigàta in eine Sinnkrise stürzen. Die ganz realen Polizeigriffe beim G8-Gipfel von Genua vor zwei Jahren, das Fälschen von Beweisen, das Misshandeln von Demonstranten, lassen den fiktiven Kommissar an seinem Berufsstand verzweifeln. „Ich fühle mich nicht verraten”, sagt er seiner Dauerverlobten Livia, die fern von ihm in Ligurien lebt, „ich bin verraten worden.”
Dass dann dennoch das Schlimmste, seine Demission nämlich, vorerst verhindert werden kann, liegt auch an verzweifelten Dritte-Welt-Flüchtlingen, die an der sizilianischen Küste landen – und an einer Leiche, die im Meer vor Vigàta schwimmt. Montalbano kann vielleicht nicht die Wirklichkeit erlösen, aber, wenn auch mit schlechtem Gewissen, einen Fall in Vigàta klären, dass kann er dann doch noch.
Camilleri-Fans wissen längst, dass dieses sympathische Vigàta, wo man außerdem wundervolle Fischgerichte serviert bekommt, dem Städtchen Porto Empedocle mit seinen 17000 Einwohnern vor den Toren von Agrigent, wo der Autor 1925 das Licht Siziliens erblickte, erstaunlich ähnlich sieht. Den Stadtvätern von Porto Empedocle ist das ebenfalls nicht entgangen. Und wenn Camilleri sich in seinen Romanen bei der Wirklichkeit bedient, warum sollten sie sich nicht an der Fiktion schadlos halten? Gesagt getan: mit einem einstimmigen Beschluss des Gemeinderates (und auch mit der Zustimmung des sich geehrt fühlenden Schriftstellers) nennt sich das Städtchen vom ersten Mai an ganz offiziell „Porto Empedocle Vigàta”. In der italienischen Toponomastik kennt man Fälle, wo sich Orte mit einem Autorennamen verbinden (zum Beispiel Arqua Petrarca oder Castagneto Carducci). Es ist jedoch das erste Mal in der Geschichte, dass man an einen literarischen Ort wirklich reisen kann. Und vermutlich wird das auch erwünscht. Vigàta, ein Sommerhit? Vielleicht. Aber nur, wenn Montalbano weitermacht.
HENNING KLÜVER
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