Was wäre, wenn Evolution nicht dasselbe wie Fortschritt bedeutete? In diesem Buch geht Stephen Jay Gould dieser Frage nach und gelangt zu bahnbrechenden Einsichten.
Aus Sicht des Menschen war Evolution lange Zeit gleichzusetzen mit der Zunahme von Komplexität. Der Mensch als das komplexeste aller Lebewesen galt folglich als ihre Vollendung. Doch hier, so Gould, täuschen wir uns - und das gründlich. Zwar haben sich einige wenige Lebewesen, insbesondere die Säugetiere, zu größerer Komplexität hin entwickelt, aber die große Mehrheit der Organismen, z. B. die Bakterien, zeigen keine solche kontinuierliche Tendenz, obwohl sie von ihrer Anzahl, Vielfalt und Entwicklungsgeschichte her die erfolgreichsten Organismen der Erde sind. Gould zufolge gilt demnach ein Prinzip der Variation, das außer der Entwicklung zu immer komplexeren auch die zu einfacheren Strukturen vorsieht.
Anh and zahlreicher Beispiele aus dem Alltagsleben, aus dem Sport und auch aus seiner eigenen Lebensgeschichte entwickelt Gould in ebenso überzeugender wie unterhaltsamer Weise seine Argumentation.
Aus Sicht des Menschen war Evolution lange Zeit gleichzusetzen mit der Zunahme von Komplexität. Der Mensch als das komplexeste aller Lebewesen galt folglich als ihre Vollendung. Doch hier, so Gould, täuschen wir uns - und das gründlich. Zwar haben sich einige wenige Lebewesen, insbesondere die Säugetiere, zu größerer Komplexität hin entwickelt, aber die große Mehrheit der Organismen, z. B. die Bakterien, zeigen keine solche kontinuierliche Tendenz, obwohl sie von ihrer Anzahl, Vielfalt und Entwicklungsgeschichte her die erfolgreichsten Organismen der Erde sind. Gould zufolge gilt demnach ein Prinzip der Variation, das außer der Entwicklung zu immer komplexeren auch die zu einfacheren Strukturen vorsieht.
Anh and zahlreicher Beispiele aus dem Alltagsleben, aus dem Sport und auch aus seiner eigenen Lebensgeschichte entwickelt Gould in ebenso überzeugender wie unterhaltsamer Weise seine Argumentation.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Die Kronkorken der Schöpfung
Was die Evolution auf ihrem Weg verwarf, sammelt Stephen Jay Gould wieder ein / Von Ernst Horst
Wer christlich erzogen wurde, kennt den Schöpfungsbericht des Buchs Genesis. Die Erschaffung der Lebewesen erfolgt darin in dieser Reihenfolge: Zunächst kommen die Pflanzen (dritter Tag). Danach die Meeresbewohner einschließlich der Walfische (Säugetiere!) und die Vögel (fünfter Tag). Anschließend folgen die Tiere und das Gewürm des Landes und als krönender Höhepunkt die Menschen (sechster Tag). Auch wer seinen Kindheitsglauben verloren hat, der hat ein ähnliches Schema oft noch verinnerlicht. Es ist Teil unseres abendländischen Denkens. Es gibt eine Hierarchie des Lebens, eine Reihenfolge wie beim Kartenspiel. Der Ober sticht den Unter, und der Max sticht alle. Der Max sind natürlich wir (wer auch sonst, nachdem wir den Schöpfergott abgeschafft haben?). Das gibt uns das Recht, uns munter die Erde untertan zu machen. Heutzutage wird die Entstehung des Lebens in der Regel nicht mehr nach Moses, sondern nach Darwin gelehrt, aber das verwendete Paradigma ist im Grunde das gleiche geblieben.
"Illusion Fortschritt" heißt das neue Buch des Paläontologen Stephen Jay Gould. Um zu verstehen, worum es geht, muß man sich klarmachen, was genau der Verfasser unter dem "Fortschritt" versteht, der eine Illusion sein soll. Man stelle sich ein Gebüsch vor, das sich im Laufe der Zeit langsam und zufällig in alle Richtungen ausdehnt. Dann ist es Unsinn zu sagen, das Gebüsch bewege sich systematisch nach Norden. Es bewegt sich natürlich auch nach Norden, aber die Essenz seiner Bewegung wird durch diese Beschreibung völlig verfehlt. Das Beispiel wird noch absurder, wenn das Gestrüpp alle paar Jahre abbrennt und alles wieder von vorne anfängt. Es gibt in diesem Fall eben keinen eindeutigen Fortschritt auf einer a priori festliegenden Skala. Goulds Hauptanliegen ist die Widerlegung der naiven Vorstellung, daß sich das Leben auf der Erde zwangsläufig vom Einzeller zum vernunftbegabten Wesen entwickelt hat. Gould ist Paläontologe, und seine Lieblingsthemen sind die Evolution und das Baseballspiel. Seine Ideen kann er auf beides anwenden und tut es auch.
Ältere Darstellungen der Entwicklung des Lebens, seien es Schautafeln in Museen oder bunte Bücher für die reifere Jugend, folgten fast immer dem gleichen Schema. Vorgeführt wurden stets nur die glamourösen Neuankömmlinge auf der Bühne der Evolution, die großen, bunten, wilden Tiere. Das ist etwa so, wie wenn man die Entwicklung des Straßenverkehrs einschließlich der Fußgänger und Radfahrer nur anhand der jeweiligen gepanzerten Luxuslimousinen der Staatsoberhäupter demonstrieren wollte. Beim Straßenverkehr würden wir wohl die Verzerrung der Tatsachen merken, bei der Evolution müssen wir leider auf die Kompetenz der Fachleute vertrauen.
Ein klassisches Beispiel für diese Art, an sich Richtiges unter einem falschen Blickwinkel darzustellen, ist die Evolution des Pferdes. Vom älteren Standpunkt gesehen, entwickelten sich die Ahnen der Gattung Equus im Laufe der Äonen langsam, aber stetig vom putzigen foxterriergroßen Eohippus hin zu Winnetous edlem Rappen. Dabei verkümmerten alle Zehen bis auf eine, die sich zum Huf entwickelte, der Körper wurde langsam größer, und die Zähne paßten sich an die Nahrung an, die sich von den Blättern zu den gerade entstehenden Gräsern verlagerte. Ein deutlicheres Walten des Fortschritts kann man sich kaum vorstellen. Nur war es überhaupt nicht so. Der Stammbaum der Pferdeverwandten besteht eigentlich nur aus Sackgassen.
Im Verlauf von 35 Millionen Jahren entstanden Dutzende von Arten, die alle wieder ausstarben. Diese Entwicklung spielte sich fast ausschließlich in Nordamerika ab, von wenigen Zweigen abgesehen, die nach Südamerika oder in die Alte Welt auswanderten, dort aber meist nur kurze Zeit (das heißt in diesem Zusammenhang wenige Millionen Jahre) überlebten. Ganz am Ende starben dann aber alle amerikanischen Pferde aus. Die Indianer, die wir uns meistens hoch zu Roß vorstellen, waren bis zum Eintreffen der Conquistadores schlichte Fußgänger. Alles, was von der ganzen Mischpoke übriggeblieben ist, sind acht Arten: drei Zebras, vier Esel und die eigentlichen Pferde (Equus caballus). Die wahren Helden der Säugetierevolution sind die Ratten, Fledermäuse und Antilopen. Diese haben sich in vielen Arten über die Erde verbreitet. Die Geschichte der Pferde ist hingegen eine Geschichte des Niedergangs. Es ist mehr oder weniger Zufall, daß es sie heute noch gibt; eine kleine Änderung der Lebensbedingungen irgendwann in der Vergangenheit, und wir würden heute in Ascot Ochsenrennen anschauen.
In einem weiteren Teil des Buchs geht es um Baseball. Für europäische Leser sind diese Dinge schwer zugänglich. In einer speziell für diesen Kreis verfaßten Einleitung werden zwar die Spielregeln erläutert, aber unsereinem fehlt doch die langjährige Erfahrung. Gould will uns anhand eines subtilen Problems etwas über Statistik beibringen, und das gelingt ihm auch. Die Lehre, die wir ziehen sollen, ist ganz einfach: Ein biologisches System, etwa eine Population von Baseballspielern oder von Weinbergschnecken, wird nicht nur durch Mittelwerte charakterisiert, sondern auch durch Schwankungsbreiten. Ein anderes Beispiel erklärt den Sachverhalt genausogut: Die Familien des Hauses Blumenstraße 13 besitzen im Mittel eine Waschmaschine und einen PKW, aber die Variabilitäten sind unterschiedlich. Der Mittelwert für die Waschmaschinen kommt daher, daß jede Familie genau eine besitzt. Der Mittelwert für die PKWs kommt daher, daß die zwanzig Familien zusammen zwanzig Autos besitzen. Allerdings besitzen manche gar keins und eine Familie sogar drei. Aus dem Maximalwert (drei) kann man nicht auf den Mittelwert (eins) schließen. Auch wenn der Maximalwert im Laufe der Zeit sinkt, kann der Mittelwert trotzdem gleichbleiben oder sogar steigen.
Ein wichtiger Begriff in Goulds Argumentation ist der der "linken Wand". Man stelle sich einen Betrunkenen vor, der auf dem Trottoir nach Hause wankt. Links gibt es eine natürliche Grenze, nämlich die Wände der Häuser. Nach rechts hat er mehr Bewegungsfreiheit. Wenn er rein zufällig ohne bevorzugte Richtung schwankt, wird er sich immer wieder mal weit nach rechts verirren. Wenn hundert Betrunkene gleichzeitig diesen Weg gehen, dann wird sich die Gruppe im Laufe der Zeit fächerförmig nach rechts ausdehnen, obwohl kein Mitglied eine inhärente Tendenz nach rechts hat. Mit der Evolution verhält es sich ähnlich. Betrachten wir als Beispiel die Körpergröße. In der Vergangenheit kam es immer wieder einmal zu einem Massensterben des Lebens auf der Erde. Dabei überlebten hauptsächlich kleinere Arten. Es ist uns Menschen leichtgefallen, den Vogel Dodo auszurotten, während die Küchenschabe noch da ist. Dabei wäre es uns umgekehrt lieber gewesen. Auch die Dinosaurier sind nicht deshalb ausgestorben, weil sie Fehlkonstruktionen waren, sondern wegen ihrer Körpergröße.
Nach dem Massensterben beginnt die Diversifikation dann immer wieder von neuem. Die Arten, die überlebt haben, sind klein, und es besteht oft nur ein geringer Spielraum für eine zusätzliche Verkleinerung. Das heißt, die neue Evolution beginnt in bezug auf die Körpergröße an einer linken Wand. Deshalb gibt es dann sehr wohl eine Zunahme der Durchschnittsgröße. Das bedeutet aber nicht, daß die größeren Arten überlebenstüchtiger sind, sondern nur, daß noch einige Nischen für größere Arten frei waren. Neu entstehende Arten sind im Durchschnitt genausooft größer wie kleiner als ihre Ahnen. Irgendwann wird uns aber wieder der Himmel auf den Kopf fallen, und dann geht alles von vorne los. Die Entwicklung des Lebens auf der Erde läßt sich noch am besten durch eine Sägezahnkurve beschreiben.
Das Leben begann mit den bakterienähnlichen Prokaryonten, einfachen Einzellern ohne Zellkern, ohne Chromosomen, ohne Mitochondrien und Chloroplasten. Es ist aber keineswegs so, daß die einfachen Lebewesen den komplexen unterlegen sind. Seit die Menschheit existiert, steht sie in einem erbitterten Kampf gegen das Ungeziefer. Und vielleicht wird sie dereinst von einem mikroskopischen Retrovirus ausgelöscht werden. Die Bakterien waren zu allen Zeiten die einfachste und trotzdem erfolgreichste Gruppe, und sie sind es nach wie vor. Die Rolle des komplexesten Lebewesens wurde im Laufe der Jahrmilliarden von sehr unterschiedlichen Darstellern gespielt. Laut Gould gab es dabei etwa folgende zeitliche Reihenfolge. Bakterium, Eukaryontenzelle, Meeresalge, Qualle, Trilobit, Nautilid, Panzerfisch, Dinosaurier, Säbelzahntiger und Homo sapiens. Von den ersten beiden Übergängen abgesehen, ist keine von diesen Formen aus der vorhergehenden entstanden. Daß die Trilobiten, Panzerfische, Dinosaurier und Säbelzahntiger ausgestorben sind, gibt aber berechtigten Anlaß zu der Hoffnung, daß die Erde auch Homo sapiens überstehen wird.
Gemessen an der Zahl der Individuen und an der genetischen Vielfalt, bilden die Prokaryonten die weitaus größte Gruppe von Lebewesen. (Nebenbei bemerkt sind auch zehn Prozent des menschlichen Trockengewichts Bakterien.) Wo es auf der Erde überhaupt Leben gibt, da gibt es auch Bakterien, sei es im kalten Gletschersee oder unter Druck im 250 Grad Celsius heißen Wasser. Bisher glaubte man allerdings, daß ihre gesamte Biomasse von der der Wälder übertroffen wird. Aber selbst da meldet Gould Zweifel an. Verblüffenderweise ist es nämlich sehr schwierig, diese Größen abzuschätzen. Sogar die Menge der Bakterien im Meerwasser hat man erst in den letzten zwanzig Jahren exakt zu bestimmen gelernt. Dabei kam heraus, daß man früher 99 Prozent übersehen hatte. Noch viel schwerer ist es natürlich, diese Werte für unzugängliche Stellen zu messen. Wie wir heute wissen, gibt es Bakterien in heißen Tiefseequellen, in Öllagerstätten und sogar tief in der Erdkruste. Wenn man einen Moment nachdenkt, begreift man, vor welchen Problemen die Biologen stehen. Ein Bakterium, das sich nur bei einer Temperatur von 340 Grad Celsius und einem Druck von 265 Atmosphären richtig wohl fühlt, im Labor zu kultivieren ist nicht völlig trivial.
Am erstaunlichsten war aber die Entdeckung, daß sich Bakterien auch in ganz normalem Gestein finden, vorausgesetzt, es enthält eine Spur von Wasser. Beispielsweise wurden sie bei einer Bohrung in Virginia in einer Tiefe von 2750 Metern entdeckt. Diese Lebensformen beziehen ihre Energie von der Erdwärme, die ihren Ursprung im Zerfall von radioaktiven Isotopen im Erdinnern hat. Letztlich sind sie nicht viel zugänglicher, als wenn sie sich auf dem Mond befänden. Tom Gold von der Cornell University vermutet übrigens, daß es in unserem Sonnensystem mindestens zehn planetare Körper gibt, die diese Art von Leben zulassen würden. Vielleicht hat Gould recht mit seiner Hypothese, und der Großteil der irdischen Biomasse befindet sich weit unter der Erdoberfläche. So ist für Gould ein allgemeiner Trend zur Komplexitätszunahme des irdischen Lebens nicht zu erkennen. Die "höheren" Lebewesen, die in unseren Biologiebüchern so liebevoll beschrieben werden, sind letzten Endes nur ein ganz kleiner Schwanz an einem ganz großen Hund. Daß die Evolution auch ein Vieh geschaffen hat, das ein Gehirn besitzt, mit dem man Bücher über sie schreiben kann, war ein rein zufälliges, ja vielleicht sogar ein sehr unwahrscheinliches Ereignis.
Der Epilog beschäftigt sich mit der Kultur des Menschen. Hier gibt es völlig andere Mechanismen als bei der Evolution. Was wir einmal erfunden haben, können wir schnell und gezielt an andere weitergeben, sei es eine Symphonie, sei es die Anleitung zur Herstellung eines biologischen Massenvernichtungsmittels. Die Entwicklung von etwas wie der Musik vollzieht sich mit einer ungleich höheren Geschwindigkeit als die Evolution der Cephalopoden. Deshalb spielen in der menschlichen Kultur auch rechte Mauern eine bedeutende Rolle. Bei vielen Dingen wie dem Baseballspiel, dem Salto im Zirkus, der Herstellung von Champagner oder dem Absingen der Lohengrin-Arie lassen sich die gegenwärtigen Spitzenleistungen kaum noch verbessern.
Dem insgesamt zuverlässigen Übersetzer hätte ein Lektor seine ordinäre Ausdrucksweise abgewöhnen sollen. Wenn Bill Gates "a billion bucks" verdient, dann sind das auf deutsch keine "Kröten", sondern allenfalls "Taler" oder ganz banale "Dollar", wenn einem nichts Besseres einfällt. Der Autor vertritt seinen Standpunkt mit Vehemenz und scheut auch keine Wiederholungen. Manchmal hat man den Eindruck, daß er gegen Windmühlen kämpft. Das stimmt. Die Windmühlen sind in unseren Köpfen.
Stephen Jay Gould: "Illusion Fortschritt". Die vielfältigen Wege der Evolution. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 287 S., Abb., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was die Evolution auf ihrem Weg verwarf, sammelt Stephen Jay Gould wieder ein / Von Ernst Horst
Wer christlich erzogen wurde, kennt den Schöpfungsbericht des Buchs Genesis. Die Erschaffung der Lebewesen erfolgt darin in dieser Reihenfolge: Zunächst kommen die Pflanzen (dritter Tag). Danach die Meeresbewohner einschließlich der Walfische (Säugetiere!) und die Vögel (fünfter Tag). Anschließend folgen die Tiere und das Gewürm des Landes und als krönender Höhepunkt die Menschen (sechster Tag). Auch wer seinen Kindheitsglauben verloren hat, der hat ein ähnliches Schema oft noch verinnerlicht. Es ist Teil unseres abendländischen Denkens. Es gibt eine Hierarchie des Lebens, eine Reihenfolge wie beim Kartenspiel. Der Ober sticht den Unter, und der Max sticht alle. Der Max sind natürlich wir (wer auch sonst, nachdem wir den Schöpfergott abgeschafft haben?). Das gibt uns das Recht, uns munter die Erde untertan zu machen. Heutzutage wird die Entstehung des Lebens in der Regel nicht mehr nach Moses, sondern nach Darwin gelehrt, aber das verwendete Paradigma ist im Grunde das gleiche geblieben.
"Illusion Fortschritt" heißt das neue Buch des Paläontologen Stephen Jay Gould. Um zu verstehen, worum es geht, muß man sich klarmachen, was genau der Verfasser unter dem "Fortschritt" versteht, der eine Illusion sein soll. Man stelle sich ein Gebüsch vor, das sich im Laufe der Zeit langsam und zufällig in alle Richtungen ausdehnt. Dann ist es Unsinn zu sagen, das Gebüsch bewege sich systematisch nach Norden. Es bewegt sich natürlich auch nach Norden, aber die Essenz seiner Bewegung wird durch diese Beschreibung völlig verfehlt. Das Beispiel wird noch absurder, wenn das Gestrüpp alle paar Jahre abbrennt und alles wieder von vorne anfängt. Es gibt in diesem Fall eben keinen eindeutigen Fortschritt auf einer a priori festliegenden Skala. Goulds Hauptanliegen ist die Widerlegung der naiven Vorstellung, daß sich das Leben auf der Erde zwangsläufig vom Einzeller zum vernunftbegabten Wesen entwickelt hat. Gould ist Paläontologe, und seine Lieblingsthemen sind die Evolution und das Baseballspiel. Seine Ideen kann er auf beides anwenden und tut es auch.
Ältere Darstellungen der Entwicklung des Lebens, seien es Schautafeln in Museen oder bunte Bücher für die reifere Jugend, folgten fast immer dem gleichen Schema. Vorgeführt wurden stets nur die glamourösen Neuankömmlinge auf der Bühne der Evolution, die großen, bunten, wilden Tiere. Das ist etwa so, wie wenn man die Entwicklung des Straßenverkehrs einschließlich der Fußgänger und Radfahrer nur anhand der jeweiligen gepanzerten Luxuslimousinen der Staatsoberhäupter demonstrieren wollte. Beim Straßenverkehr würden wir wohl die Verzerrung der Tatsachen merken, bei der Evolution müssen wir leider auf die Kompetenz der Fachleute vertrauen.
Ein klassisches Beispiel für diese Art, an sich Richtiges unter einem falschen Blickwinkel darzustellen, ist die Evolution des Pferdes. Vom älteren Standpunkt gesehen, entwickelten sich die Ahnen der Gattung Equus im Laufe der Äonen langsam, aber stetig vom putzigen foxterriergroßen Eohippus hin zu Winnetous edlem Rappen. Dabei verkümmerten alle Zehen bis auf eine, die sich zum Huf entwickelte, der Körper wurde langsam größer, und die Zähne paßten sich an die Nahrung an, die sich von den Blättern zu den gerade entstehenden Gräsern verlagerte. Ein deutlicheres Walten des Fortschritts kann man sich kaum vorstellen. Nur war es überhaupt nicht so. Der Stammbaum der Pferdeverwandten besteht eigentlich nur aus Sackgassen.
Im Verlauf von 35 Millionen Jahren entstanden Dutzende von Arten, die alle wieder ausstarben. Diese Entwicklung spielte sich fast ausschließlich in Nordamerika ab, von wenigen Zweigen abgesehen, die nach Südamerika oder in die Alte Welt auswanderten, dort aber meist nur kurze Zeit (das heißt in diesem Zusammenhang wenige Millionen Jahre) überlebten. Ganz am Ende starben dann aber alle amerikanischen Pferde aus. Die Indianer, die wir uns meistens hoch zu Roß vorstellen, waren bis zum Eintreffen der Conquistadores schlichte Fußgänger. Alles, was von der ganzen Mischpoke übriggeblieben ist, sind acht Arten: drei Zebras, vier Esel und die eigentlichen Pferde (Equus caballus). Die wahren Helden der Säugetierevolution sind die Ratten, Fledermäuse und Antilopen. Diese haben sich in vielen Arten über die Erde verbreitet. Die Geschichte der Pferde ist hingegen eine Geschichte des Niedergangs. Es ist mehr oder weniger Zufall, daß es sie heute noch gibt; eine kleine Änderung der Lebensbedingungen irgendwann in der Vergangenheit, und wir würden heute in Ascot Ochsenrennen anschauen.
In einem weiteren Teil des Buchs geht es um Baseball. Für europäische Leser sind diese Dinge schwer zugänglich. In einer speziell für diesen Kreis verfaßten Einleitung werden zwar die Spielregeln erläutert, aber unsereinem fehlt doch die langjährige Erfahrung. Gould will uns anhand eines subtilen Problems etwas über Statistik beibringen, und das gelingt ihm auch. Die Lehre, die wir ziehen sollen, ist ganz einfach: Ein biologisches System, etwa eine Population von Baseballspielern oder von Weinbergschnecken, wird nicht nur durch Mittelwerte charakterisiert, sondern auch durch Schwankungsbreiten. Ein anderes Beispiel erklärt den Sachverhalt genausogut: Die Familien des Hauses Blumenstraße 13 besitzen im Mittel eine Waschmaschine und einen PKW, aber die Variabilitäten sind unterschiedlich. Der Mittelwert für die Waschmaschinen kommt daher, daß jede Familie genau eine besitzt. Der Mittelwert für die PKWs kommt daher, daß die zwanzig Familien zusammen zwanzig Autos besitzen. Allerdings besitzen manche gar keins und eine Familie sogar drei. Aus dem Maximalwert (drei) kann man nicht auf den Mittelwert (eins) schließen. Auch wenn der Maximalwert im Laufe der Zeit sinkt, kann der Mittelwert trotzdem gleichbleiben oder sogar steigen.
Ein wichtiger Begriff in Goulds Argumentation ist der der "linken Wand". Man stelle sich einen Betrunkenen vor, der auf dem Trottoir nach Hause wankt. Links gibt es eine natürliche Grenze, nämlich die Wände der Häuser. Nach rechts hat er mehr Bewegungsfreiheit. Wenn er rein zufällig ohne bevorzugte Richtung schwankt, wird er sich immer wieder mal weit nach rechts verirren. Wenn hundert Betrunkene gleichzeitig diesen Weg gehen, dann wird sich die Gruppe im Laufe der Zeit fächerförmig nach rechts ausdehnen, obwohl kein Mitglied eine inhärente Tendenz nach rechts hat. Mit der Evolution verhält es sich ähnlich. Betrachten wir als Beispiel die Körpergröße. In der Vergangenheit kam es immer wieder einmal zu einem Massensterben des Lebens auf der Erde. Dabei überlebten hauptsächlich kleinere Arten. Es ist uns Menschen leichtgefallen, den Vogel Dodo auszurotten, während die Küchenschabe noch da ist. Dabei wäre es uns umgekehrt lieber gewesen. Auch die Dinosaurier sind nicht deshalb ausgestorben, weil sie Fehlkonstruktionen waren, sondern wegen ihrer Körpergröße.
Nach dem Massensterben beginnt die Diversifikation dann immer wieder von neuem. Die Arten, die überlebt haben, sind klein, und es besteht oft nur ein geringer Spielraum für eine zusätzliche Verkleinerung. Das heißt, die neue Evolution beginnt in bezug auf die Körpergröße an einer linken Wand. Deshalb gibt es dann sehr wohl eine Zunahme der Durchschnittsgröße. Das bedeutet aber nicht, daß die größeren Arten überlebenstüchtiger sind, sondern nur, daß noch einige Nischen für größere Arten frei waren. Neu entstehende Arten sind im Durchschnitt genausooft größer wie kleiner als ihre Ahnen. Irgendwann wird uns aber wieder der Himmel auf den Kopf fallen, und dann geht alles von vorne los. Die Entwicklung des Lebens auf der Erde läßt sich noch am besten durch eine Sägezahnkurve beschreiben.
Das Leben begann mit den bakterienähnlichen Prokaryonten, einfachen Einzellern ohne Zellkern, ohne Chromosomen, ohne Mitochondrien und Chloroplasten. Es ist aber keineswegs so, daß die einfachen Lebewesen den komplexen unterlegen sind. Seit die Menschheit existiert, steht sie in einem erbitterten Kampf gegen das Ungeziefer. Und vielleicht wird sie dereinst von einem mikroskopischen Retrovirus ausgelöscht werden. Die Bakterien waren zu allen Zeiten die einfachste und trotzdem erfolgreichste Gruppe, und sie sind es nach wie vor. Die Rolle des komplexesten Lebewesens wurde im Laufe der Jahrmilliarden von sehr unterschiedlichen Darstellern gespielt. Laut Gould gab es dabei etwa folgende zeitliche Reihenfolge. Bakterium, Eukaryontenzelle, Meeresalge, Qualle, Trilobit, Nautilid, Panzerfisch, Dinosaurier, Säbelzahntiger und Homo sapiens. Von den ersten beiden Übergängen abgesehen, ist keine von diesen Formen aus der vorhergehenden entstanden. Daß die Trilobiten, Panzerfische, Dinosaurier und Säbelzahntiger ausgestorben sind, gibt aber berechtigten Anlaß zu der Hoffnung, daß die Erde auch Homo sapiens überstehen wird.
Gemessen an der Zahl der Individuen und an der genetischen Vielfalt, bilden die Prokaryonten die weitaus größte Gruppe von Lebewesen. (Nebenbei bemerkt sind auch zehn Prozent des menschlichen Trockengewichts Bakterien.) Wo es auf der Erde überhaupt Leben gibt, da gibt es auch Bakterien, sei es im kalten Gletschersee oder unter Druck im 250 Grad Celsius heißen Wasser. Bisher glaubte man allerdings, daß ihre gesamte Biomasse von der der Wälder übertroffen wird. Aber selbst da meldet Gould Zweifel an. Verblüffenderweise ist es nämlich sehr schwierig, diese Größen abzuschätzen. Sogar die Menge der Bakterien im Meerwasser hat man erst in den letzten zwanzig Jahren exakt zu bestimmen gelernt. Dabei kam heraus, daß man früher 99 Prozent übersehen hatte. Noch viel schwerer ist es natürlich, diese Werte für unzugängliche Stellen zu messen. Wie wir heute wissen, gibt es Bakterien in heißen Tiefseequellen, in Öllagerstätten und sogar tief in der Erdkruste. Wenn man einen Moment nachdenkt, begreift man, vor welchen Problemen die Biologen stehen. Ein Bakterium, das sich nur bei einer Temperatur von 340 Grad Celsius und einem Druck von 265 Atmosphären richtig wohl fühlt, im Labor zu kultivieren ist nicht völlig trivial.
Am erstaunlichsten war aber die Entdeckung, daß sich Bakterien auch in ganz normalem Gestein finden, vorausgesetzt, es enthält eine Spur von Wasser. Beispielsweise wurden sie bei einer Bohrung in Virginia in einer Tiefe von 2750 Metern entdeckt. Diese Lebensformen beziehen ihre Energie von der Erdwärme, die ihren Ursprung im Zerfall von radioaktiven Isotopen im Erdinnern hat. Letztlich sind sie nicht viel zugänglicher, als wenn sie sich auf dem Mond befänden. Tom Gold von der Cornell University vermutet übrigens, daß es in unserem Sonnensystem mindestens zehn planetare Körper gibt, die diese Art von Leben zulassen würden. Vielleicht hat Gould recht mit seiner Hypothese, und der Großteil der irdischen Biomasse befindet sich weit unter der Erdoberfläche. So ist für Gould ein allgemeiner Trend zur Komplexitätszunahme des irdischen Lebens nicht zu erkennen. Die "höheren" Lebewesen, die in unseren Biologiebüchern so liebevoll beschrieben werden, sind letzten Endes nur ein ganz kleiner Schwanz an einem ganz großen Hund. Daß die Evolution auch ein Vieh geschaffen hat, das ein Gehirn besitzt, mit dem man Bücher über sie schreiben kann, war ein rein zufälliges, ja vielleicht sogar ein sehr unwahrscheinliches Ereignis.
Der Epilog beschäftigt sich mit der Kultur des Menschen. Hier gibt es völlig andere Mechanismen als bei der Evolution. Was wir einmal erfunden haben, können wir schnell und gezielt an andere weitergeben, sei es eine Symphonie, sei es die Anleitung zur Herstellung eines biologischen Massenvernichtungsmittels. Die Entwicklung von etwas wie der Musik vollzieht sich mit einer ungleich höheren Geschwindigkeit als die Evolution der Cephalopoden. Deshalb spielen in der menschlichen Kultur auch rechte Mauern eine bedeutende Rolle. Bei vielen Dingen wie dem Baseballspiel, dem Salto im Zirkus, der Herstellung von Champagner oder dem Absingen der Lohengrin-Arie lassen sich die gegenwärtigen Spitzenleistungen kaum noch verbessern.
Dem insgesamt zuverlässigen Übersetzer hätte ein Lektor seine ordinäre Ausdrucksweise abgewöhnen sollen. Wenn Bill Gates "a billion bucks" verdient, dann sind das auf deutsch keine "Kröten", sondern allenfalls "Taler" oder ganz banale "Dollar", wenn einem nichts Besseres einfällt. Der Autor vertritt seinen Standpunkt mit Vehemenz und scheut auch keine Wiederholungen. Manchmal hat man den Eindruck, daß er gegen Windmühlen kämpft. Das stimmt. Die Windmühlen sind in unseren Köpfen.
Stephen Jay Gould: "Illusion Fortschritt". Die vielfältigen Wege der Evolution. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 287 S., Abb., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main