Unter den vielen Persönlichkeiten, die Stefan Moses im Lauf der Jahrzehnte mit seiner Kamera porträtiert hat, ist es vor allem eine, deren großartige Präsenz ihn fasziniert und deren erstaunliche Ausdruckskraft seinen Blick immer wieder auf sich gezogen hat: Ilse Aichinger, die große österreichische Autorin, mit deren Roman 'Die größere Hoffnung' (1948) die deutschsprachige Gegenwartsliteratur einsetzte. Stefan Moses' 'Bilderbuch', das einen Bogen von Aichingers frühen Kindertagen, ihrem »doppelten Dasein« als Zwilling, bis in die späten Jahre spannt, ist eine Hommage auf eine bedeutende Persönlichkeit und Dichterin anlässlich ihres 85. Geburtstags am 1. November 2006.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2006Keine Verharmlosungen
Aus dem Café: Ilse Aichinger in Subtexten und auf Fotografien
Im Grunde genommen müßte man sofort, besser heute vormittag als heute nachmittag, nach Wien fahren - um ihr nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren: Am 1. November ist die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger fünfundachtzig Jahre alt geworden. Vor allem aber sollte man hinfahren, um sie einmal (oder wieder) zu sehen. Zu ihrem Geburtstag ist ein berückender Band mit Fotografien erschienen, die meisten stammen von dem Fotografen Stefan Moses. Einige Fotos hat er einfach deswegen nicht machen können, weil Ilse Aichinger damals noch nicht die Ilse Aichinger war, die sie erst wurde, als ihr Roman "Die größere Hoffnung" 1948 erschienen ist.
Ilse Aichinger, sagen wir es so: sie vertraut den sogenannten Selbstverständlichkeiten des Lebens nicht, die im Grunde genommen ja auch keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern einem immer nur so vorkommen; wir nehmen sie auch gerne als Selbstverständlichkeiten, denn das erleichtert einem das Dahinexistieren. Ilse Aichinger ist in Wien groß geworden und lebt dort noch heute. Die Eltern haben sich nach nur wenigen Ehejahren scheiden lassen. Die Tochter war damals fünf Jahre alt. Ihre jüdische Mutter war Ärztin und verlor beim Einmarsch Hitlers in Österreich im Jahr 1938 sofort ihre Praxis. Ilse Aichingers mußte sich in den vierziger Jahren von ihrer Großmutter verabschieden - die Großmutter hat in einen Zug einsteigen müssen und ist nicht mehr wiedergekommen, weil sie in einem nationalsozialistischen Vernichtungslager verschwunden ist.
Ilse Aichinger hat nur diesen einen Roman geschrieben; sie ist keine Romanschriftstellerin geworden, so wie der von ihr geschätzte österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard, der einen Roman nach dem anderen geschrieben hat, ohne damit seine bornierten Mitmenschen und deren Lügen und Lebensheucheleien restlos erledigt haben zu können. Sie hat sich auf die kleine Form (Prosastücke, Gedichte, Hörspiele), auf den kleinen scharfen Schnitt durch die Leichenleinwand des Daseins konzentriert, so wie ihr Ehemann, der Schriftsteller Günter Eich, sich dem Schreiben von Hörspielen zugewandt hat - so wie sich der von ihr bewunderte, alle (falschen) Hoffnungen zerstückelnde französische Philosoph E. M. Cioran auf die kleine Form (Essays) konzentriert und eben keine philosophiegeschichtlichen oder theoretischen Wälzer geschrieben hat wie zum Beispiel der Philosoph Hans Blumenberg.
Im Café Jelinek hat sie im letzten Jahr mit den Schriften von E. M. Cioran gesessen, und hier sind die Texte entstanden, die jetzt in dem Band "Subtexte" gesammelt wurden, nachdem sie alle einmal in der Zeitung "Die Presse" erschienen sind. Man müßte vielleicht besser sagen: Vom Café Jelinek aus sind diese Texte in die Welt vor dem Café abgeschossen worden, denn das Café Jelinek beziehungsweise ihr Tisch im Café Jelinek bezeichnet gleichsam einen festen Standpunkt fern vom allgemeinen Daseinskarussell, in dem nicht nur die Wiener Normalbürger, sondern alle Normalbürger sich selbst in (zuerst) Schwindel und (darauf) Bewußtlosigkeit verschleudern.
Wie man nicht nur in den kurzen Texten der Ilse Aichinger lesen, sondern eben auch auf den Fotos von Stefan Moses sehen kann (das sieht auf diesen wunderbaren Fotos gleichsam auch ein Blinder), paßt für den ganzen geistigen und moralischen Habitus der Ilse Aichinger insbesondere ein Satz, den sie selbst in einem ihrer "Subtexte" zitiert und der von Inge Scholl stammen soll. Der Satz ist eine Aufforderung, die man sich hinter die Ohren schreiben sollte, und lautet: "Nur keine Verharmlosungen mehr."
Dieser Satz, stellt man sich vor, könnte wie ein kleines Namensschildchen aus Pappe vor der Schriftstellerin auf dem Cafétisch stehen und neugierige Dritte vom "Sichniedersitzen und Unsinnplaudern abhalten. Das Schildchen braucht es aber gar nicht, man sieht ja sofort diesen hochsympathischen Satz in ihren sehr sympathischen Gesichtszügen. Wer einerseits so unerbittlich wie Ilse Aichinger darauf besteht, daß man sich nichts vormachen (lassen) soll, der kann, der muß andererseits in berückend höherem, in einem ernsten Sinne sehr menschenfreundlich sein.
Ilse Aichinger macht keine Umwege, sie kennt wahrscheinlich gar keine. Peter Sloterdijk (dessen neues Buch "Zorn und Zeit" fast durchgehend von den Kritikern gelobt worden ist) nennt sie "einen der größten Schwätzer", einen "Wanderprediger, dessen auswechselbare Sprechblasen kein Ende nehmen". Über die von den Medien durchgehend sehr gelobte Schauspielerin Julia Jentsch sagt sie: "Für den Anblick der Darstellerin von Sophie Scholl, der Banalität und absoluten Leere dieses Blicks, wären selbst die verblasensten Luftmaschen noch zu dicht." Da kommt die Karawane für Sekunden ins Stolpern.
So ist das: Die Welt tritt frontal als Nachricht, Ereignis und Erinnerung ins Café an den Tisch, wo Ilse Aichinger sitzt, Kaffee trinkt, liest und wartet, und verläßt das Café und Ilse Aichinger im Profil. Die Schriftstellerin dreht die Welt einfach ins Profil, damit man besser erkennt, auf was das alles hinausläuft, was da eben großspurig, breitbeinig, selbstgerecht und wie unanfechtbar dahergekommen ist. Der Mensch soll sich nicht durch Faxen und Augenzwinkereien, durch schiefe Münder oder gerümpfte Nasen etwas vormachen lassen.
Es ist sehr schade, daß wir nicht wenigstens heute vormittag nach Wien gefahren sind, und so bleibt uns für den Rest des Tages nichts anderes mehr übrig, als immer wieder die Fotos anzusehen und dabei zu denken, daß es solche Menschen wie die Schriftstellerin und passionierte Kinogängerin Ilse Aichinger kaum noch gibt und kaum noch geben wird in unserer in den ungeheuerlichsten Verharmlosungen wild aufgeregt dahindämmernden Zeit.
EBERHARD RATHGEB
Ilse Aichinger: "Subtexte". Edition Korrespondenzen. Franz Hammerbacher, Wien 2006. 73 S., geb., 16,- [Euro].
"Ilse Aichinger". Ein Bilderbuch von Stefan Moses. Mit Texten von Michael Krüger und Ilse Aichinger. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 159 S., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Café: Ilse Aichinger in Subtexten und auf Fotografien
Im Grunde genommen müßte man sofort, besser heute vormittag als heute nachmittag, nach Wien fahren - um ihr nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren: Am 1. November ist die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger fünfundachtzig Jahre alt geworden. Vor allem aber sollte man hinfahren, um sie einmal (oder wieder) zu sehen. Zu ihrem Geburtstag ist ein berückender Band mit Fotografien erschienen, die meisten stammen von dem Fotografen Stefan Moses. Einige Fotos hat er einfach deswegen nicht machen können, weil Ilse Aichinger damals noch nicht die Ilse Aichinger war, die sie erst wurde, als ihr Roman "Die größere Hoffnung" 1948 erschienen ist.
Ilse Aichinger, sagen wir es so: sie vertraut den sogenannten Selbstverständlichkeiten des Lebens nicht, die im Grunde genommen ja auch keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern einem immer nur so vorkommen; wir nehmen sie auch gerne als Selbstverständlichkeiten, denn das erleichtert einem das Dahinexistieren. Ilse Aichinger ist in Wien groß geworden und lebt dort noch heute. Die Eltern haben sich nach nur wenigen Ehejahren scheiden lassen. Die Tochter war damals fünf Jahre alt. Ihre jüdische Mutter war Ärztin und verlor beim Einmarsch Hitlers in Österreich im Jahr 1938 sofort ihre Praxis. Ilse Aichingers mußte sich in den vierziger Jahren von ihrer Großmutter verabschieden - die Großmutter hat in einen Zug einsteigen müssen und ist nicht mehr wiedergekommen, weil sie in einem nationalsozialistischen Vernichtungslager verschwunden ist.
Ilse Aichinger hat nur diesen einen Roman geschrieben; sie ist keine Romanschriftstellerin geworden, so wie der von ihr geschätzte österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard, der einen Roman nach dem anderen geschrieben hat, ohne damit seine bornierten Mitmenschen und deren Lügen und Lebensheucheleien restlos erledigt haben zu können. Sie hat sich auf die kleine Form (Prosastücke, Gedichte, Hörspiele), auf den kleinen scharfen Schnitt durch die Leichenleinwand des Daseins konzentriert, so wie ihr Ehemann, der Schriftsteller Günter Eich, sich dem Schreiben von Hörspielen zugewandt hat - so wie sich der von ihr bewunderte, alle (falschen) Hoffnungen zerstückelnde französische Philosoph E. M. Cioran auf die kleine Form (Essays) konzentriert und eben keine philosophiegeschichtlichen oder theoretischen Wälzer geschrieben hat wie zum Beispiel der Philosoph Hans Blumenberg.
Im Café Jelinek hat sie im letzten Jahr mit den Schriften von E. M. Cioran gesessen, und hier sind die Texte entstanden, die jetzt in dem Band "Subtexte" gesammelt wurden, nachdem sie alle einmal in der Zeitung "Die Presse" erschienen sind. Man müßte vielleicht besser sagen: Vom Café Jelinek aus sind diese Texte in die Welt vor dem Café abgeschossen worden, denn das Café Jelinek beziehungsweise ihr Tisch im Café Jelinek bezeichnet gleichsam einen festen Standpunkt fern vom allgemeinen Daseinskarussell, in dem nicht nur die Wiener Normalbürger, sondern alle Normalbürger sich selbst in (zuerst) Schwindel und (darauf) Bewußtlosigkeit verschleudern.
Wie man nicht nur in den kurzen Texten der Ilse Aichinger lesen, sondern eben auch auf den Fotos von Stefan Moses sehen kann (das sieht auf diesen wunderbaren Fotos gleichsam auch ein Blinder), paßt für den ganzen geistigen und moralischen Habitus der Ilse Aichinger insbesondere ein Satz, den sie selbst in einem ihrer "Subtexte" zitiert und der von Inge Scholl stammen soll. Der Satz ist eine Aufforderung, die man sich hinter die Ohren schreiben sollte, und lautet: "Nur keine Verharmlosungen mehr."
Dieser Satz, stellt man sich vor, könnte wie ein kleines Namensschildchen aus Pappe vor der Schriftstellerin auf dem Cafétisch stehen und neugierige Dritte vom "Sichniedersitzen und Unsinnplaudern abhalten. Das Schildchen braucht es aber gar nicht, man sieht ja sofort diesen hochsympathischen Satz in ihren sehr sympathischen Gesichtszügen. Wer einerseits so unerbittlich wie Ilse Aichinger darauf besteht, daß man sich nichts vormachen (lassen) soll, der kann, der muß andererseits in berückend höherem, in einem ernsten Sinne sehr menschenfreundlich sein.
Ilse Aichinger macht keine Umwege, sie kennt wahrscheinlich gar keine. Peter Sloterdijk (dessen neues Buch "Zorn und Zeit" fast durchgehend von den Kritikern gelobt worden ist) nennt sie "einen der größten Schwätzer", einen "Wanderprediger, dessen auswechselbare Sprechblasen kein Ende nehmen". Über die von den Medien durchgehend sehr gelobte Schauspielerin Julia Jentsch sagt sie: "Für den Anblick der Darstellerin von Sophie Scholl, der Banalität und absoluten Leere dieses Blicks, wären selbst die verblasensten Luftmaschen noch zu dicht." Da kommt die Karawane für Sekunden ins Stolpern.
So ist das: Die Welt tritt frontal als Nachricht, Ereignis und Erinnerung ins Café an den Tisch, wo Ilse Aichinger sitzt, Kaffee trinkt, liest und wartet, und verläßt das Café und Ilse Aichinger im Profil. Die Schriftstellerin dreht die Welt einfach ins Profil, damit man besser erkennt, auf was das alles hinausläuft, was da eben großspurig, breitbeinig, selbstgerecht und wie unanfechtbar dahergekommen ist. Der Mensch soll sich nicht durch Faxen und Augenzwinkereien, durch schiefe Münder oder gerümpfte Nasen etwas vormachen lassen.
Es ist sehr schade, daß wir nicht wenigstens heute vormittag nach Wien gefahren sind, und so bleibt uns für den Rest des Tages nichts anderes mehr übrig, als immer wieder die Fotos anzusehen und dabei zu denken, daß es solche Menschen wie die Schriftstellerin und passionierte Kinogängerin Ilse Aichinger kaum noch gibt und kaum noch geben wird in unserer in den ungeheuerlichsten Verharmlosungen wild aufgeregt dahindämmernden Zeit.
EBERHARD RATHGEB
Ilse Aichinger: "Subtexte". Edition Korrespondenzen. Franz Hammerbacher, Wien 2006. 73 S., geb., 16,- [Euro].
"Ilse Aichinger". Ein Bilderbuch von Stefan Moses. Mit Texten von Michael Krüger und Ilse Aichinger. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 159 S., br., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Ina Hartwig bewundert das gute "Kameraauge" des bekannten Fotografen, scheint aber keine Freundin von Stefan Moses' "Kultur-Milieu-Porträt-Ästhetik" zu sein. Wichtiger ist ihr allerdings, wie offen und wie oft lachend Ilse Aichinger in den Schwarz-Weiß Aufnahmen präsent ist. Die Rezensentin vermutet hier, die andere Seite der "kompromisslosen" Autorin zu sehen, die nur einen Roman geschrieben hat. Gelungen aus der Sicht der Rezensentin ist auch, dass Fotografien aus dem Familienarchiv die Aufnahmen von Stefan Moses ergänzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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