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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.1996

Schicksal massenhaft
Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion

Stefan Karner: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956. R. Oldenbourg Verlag, Wien, München 1995. 269 Seiten, 218 Abbildungen, 48,- Mark.

Vier Millionen Soldaten gerieten zwischen 1942 und 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Ihr Schicksal haben Historiker anhand mündlicher und schriftlicher Erinnerungen der ehemaligen Gefangenen beschrieben, denn sowjetische Akten waren unzugänglich. Seit wenigen Jahren stehen die Dokumente über die Kriegsgefangenen in den russischen Archiven offen. Stefan Karner, Geschichtsprofessor in Graz und Leiter des österreichischen Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, hat sie studiert. Er beschreibt das Netz von Lagern, Sonderspitälern und Arbeitsbataillonen, das sich über die gesamte UdSSR erstreckte, als "Archipel GUPVI". GUPVI war die russische Abkürzung für "Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte". Zugleich standen diese Buchstaben für das - nach dem GULag - zweite große Lagersystem des sowjetischen Innenministeriums NKWD. Es wurde zwei Tage nach der Besetzung Ostpolens durch die Sowjetarmee im Jahre 1939 gegründet, um mehr als 230000 verhaftete Polen, Weißrussen und Balten aufzunehmen.

Mit den Erfolgen der Roten Armee seit 1942 wuchs die Bedeutung der GUPVI, da die Zahl der Kriegsgefangenen schnell anstieg. Gefangene Soldaten aus über 30 Nationalitäten, neben den Deutschen vor allem Ungarn, Rumänen und Österreicher, bevölkerten den Archipel. Später kamen immer mehr Zivilisten hinzu: 280000 Deutsche aus Südost- und Ostmitteleuropa wurden auf Stalins Befehl seit dem Dezember 1944 in die Sowjetunion deportiert und in Arbeitskolonnen der GUPVI zusammengefaßt. Schließlich brachte man auch Sowjetbürger, die freiwillig oder gezwungenermaßen in die UdSSR zurückgekehrt waren, in die Lager der Hauptverwaltung. Zu ihnen gehörten sowjetische Kriegsgefangene und sogenannte "Ostarbeiter", die während des Krieges nach Deutschland verschleppt worden waren, aber auch Soldaten der Kosaken- und Wlassow-Armeen, die gegen die Rote Armee gekämpft hatten. Sie alle galten als "Vaterlandsverräter".

Karner widmet sein Buch, das aus einer Fernsehdokumentation des ORF hervorging, vor allem den Kriegsgefangenen. Ihre Zahl nahm ab 1942 rasch zu und erreichte mit Stalingrad ihren ersten Höhepunkt. Die GUPVI war darauf nicht eingestellt. Nach der Gefangennahme mußten die ohnehin geschwächten Soldaten häufig ohne Verpflegung zwei- bis dreihundert Kilometer bis zur nächsten Eisenbahnstation laufen, wie der stellvertretende Innenminister Ende 1942 seinem Chef Berija berichtete. Die toten Kameraden ließ man in den Waggons liegen, weil man ihre Essensrationen benötigte. In einem Lager bei Pokrowsk im Gebiet Saratow waren von 8000 Gefangenen, die im März 1943 überstellt wurden, sechs Wochen später nur noch 1800 am Leben. Über 1500 waren bereits auf dem Transport an Hunger und Seuchen gestorben. Die Hälfte der Gefangenen überlebte 1942/ 43 den Weg von der Gefangennahme über die Frontlager zu den stationären Lagern in Zentralrußland, Sibirien, im Kaukasus oder in Mittelasien. 1944 sank die Sterberate unter den Gefangenen dann deutlich auf acht, 1945 auf vier Prozent.

Die meisten Kriegsgefangenen erreichten das Lagernetz der GUPVI zwischen Anfang und Mitte 1945. Ihre Zahl stieg nun um mehr als das Doppelte an. Auch nach dem Ende des Krieges hungerten die Gefangenen. Ihre Chance zu überleben war aber bedeutend größer als die der sowjetischen Kriegsgefangenen in den nationalsozialistischen Lagern, von denen mehr als die Hälfte in der Gefangenschaft umkam. Auch standen sich die Kriegsgefangenen in der UdSSR besser als die sowjetischen GULag- und Gefängnisinsassen, häufig sogar als die ländliche Zivilbevölkerung, die im Winter 1946/47 millionenfach hungerte.

Die Kriegsgefangenen wurden ab 1946 zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Mehr als 1,8 Millionen Gefangene arbeiteten auf den Baustellen und in der Industrie der Sowjetunion. Auf die sowjetische Arbeitsweise, bei der Quantität vor Qualität ging, mußten sie sich umstellen, damit sie die verlangte Norm erfüllten. Nach Schätzung des Verfassers erwirtschafteten die Kriegsgefangenen acht bis zehn Prozent der Wertschöpfung des vierten "Fünfjahresplans" 1946 bis 1950.

Karners Buch beeindruckt vor allem durch das Fotomaterial. Viele Abbildungen stammen aus bislang unbekannten russischen Archivbeständen. Sie zeigen das Lagerelend, aber auch die "Lagerkultur": Fußball- und Boxkämpfe, "Ernst-Thälmann-Kundgebungen" der antifaschistischen Lagerkomitees, Theater- und Operettenaufführungen, so etwa des "Weißen Rößls" und des "Zigeunerbarons" durch österreichische Kriegsgefangene. Im Gegensatz zu den Fotos enttäuscht die sprunghafte Darstellung, die zudem unnötig viele Wiederholungen enthält. Widersprüchliche Zahlenangaben aus den Archiven werden nicht diskutiert, es bleibt unklar, wo Karner ihnen Glauben schenkt. Mit wichtigen Grundzügen des Stalinismus hat sich der Verfasser nicht eingehend beschäftigt. Dies zeigt sich beispielsweise an der Darstellung der Kriegsverbrecherprozesse, die gegen Gefangene geführt wurden. So glaubt der Autor, Verurteilungen seien in der Sowjetunion bis zum Krieg nur von zivilen Gerichten ausgegangen. Militärgerichte hatten aber bereits in den Jahren 1937 und 1938 Hunderttausende Sowjetbürger zum Tode verurteilt. Zwischen 1942 und 1953 standen mehr als 30000 deutsche Kriegsgefangene vor sowjetischen Militärtribunalen. Nach Karners Ansicht wurde der größte Teil dieser Gefangenen 1949/50 deshalb zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt, um ihre Arbeitskraft weiter auszunutzen. Warum man ausgerechnet mit einer verhältnismäßig kleinen Gruppe der Kriegsgefangenen so verfahren sollte, kann Karner nicht erklären. Ebensowenig weist er nach, daß die Mehrheit der Verurteilten nicht aufgrund tatsächlicher Kriegsverbrechen angeklagt wurde. Wie viele von ihnen die Haft im GULag bis zur Ausreise der letzten Kriegsgefangenen 1956 antreten mußten, bleibt unbeantwortet. Der Verfasser weiß offenbar von den Schwächen seines Buches, wenn er von einem "ersten Versuch" spricht, die Kriegsgefangenschaft in der UdSSR mit Hilfe der sowjetischen Akten zu beschreiben. MARKUS WEHNER

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