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Von den Nazis 1938 aus Wien vertrieben, verfaßte der österreichische Komponist und Schriftsteller Ernst Krenek (1900-1991) im amerikanischen Exil seine Erinnerungen an die erste Hälfte unseres Jahrhunderts. Er gewährt damit einen einzigartigen Einblick in die kulturelle Blütezeit der zwanziger und dreißiger Jahre.

Produktbeschreibung
Von den Nazis 1938 aus Wien vertrieben, verfaßte der österreichische Komponist und Schriftsteller Ernst Krenek (1900-1991) im amerikanischen Exil seine Erinnerungen an die erste Hälfte unseres Jahrhunderts. Er gewährt damit einen einzigartigen Einblick in die kulturelle Blütezeit der zwanziger und dreißiger Jahre.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.1999

Aber ich kann länger als Sie
Für Ernst Krenek konnte ein Stück nie zu viele Noten haben

Er glaube nicht, schreibt Ernst Krenek über seine Kindheit, dass er sich "irgendwie ungewöhnlich aufgeführt" habe, wenn seine Mutter Klavier spielte. Erstaunlich früh verspürte er jedoch schon den Wunsch, "Notenpapier mit Noten zu bedecken", lange bevor er wusste, was diese Zeichen bedeuten. Größere Mengen blankes Papier hat er auch später stets als Herausforderung empfunden. Als Sechzehnjähriger nutzte er seinen Besuch in der mährisch-schlesischen Grenzstadt Teschen, wo sein Vater als österreichischer Offizier 1916 stationiert war, zur Anfertigung eines Stadtplans. Einen Schrittzähler in der Tasche, lief er mit der Mutter sämtliche Ecken des Ortes ab und übertrug die Messergebnisse zu Hause in seine langsam wachsende Zeichnung. Die stolz geschilderte Begebenheit ist ihrerseits Teil einer ungleich umfangreicheren Vermessung: 1104 Seiten hat der Komponist mit Erinnerung an seine erste Lebenshälfte gefüllt. Und wiederum, bekennt der Autor, sei er vom "Umstand, dass etliche hundert leerer Prüfungsblätter vor mir lagen, die ich vom Vassar College mitgebracht hatte", angeregt worden. Die akribische "mind-map" schließt mit dem Aufbruch zur ersten Amerika-Reise 1937, der wenig später die Emigration folgte.

Als Krenek (1900 bis 1991) seine Aufzeichnungen 1942 in St. Paul, Minnesota, begann, trieb ihn indes nicht nur ein Papierberg, sondern auch die Angst. Angst, ob Nazi-Herrschaft und Weltkrieg von seiner österreichischen Heimat überhaupt noch etwas übrig lassen würden; Angst davor, im Exil die eigene Vergangenheit zu verlieren; Angst, entwurzelt zugrunde zu gehen. 1920, als der Kompositionsstudent seinem Lehrer Franz Schreker von Wien nach Berlin gefolgt war, hatte er eine Flasche Wiener Wasser "als das einzige Lebendige, das mich mit meiner Heimat verband", so lange aufgehoben, bis ihr Inhalt grün und faulig war. Nun, in Minnesota, glaubte der Zweiundvierzigjährige, bald sterben zu müssen. Wie kaum ein anderer Komponist war er angewiesen auf die Strömungen um ihn herum. In fast sämtlichen musikalischen Idiomen des Jahrhunderts suchte er zu Hause zu sein, wandelte sich in kürzesten Stilphasen vom "Atonalen" zum Neoklassizisten, vom schubertinspirierten Neu-Romantiker zum Jazz-Adepten, komponierte dann mit der Zwölftonmethode, später auch seriell, und experimentierte mit elektronischer Musik.

Wie Krenek mit der Angst im Exil fertig geworden ist, kann man seinem Buch unschwer entnehmen: Er schimpfte, schäumte und giftete dagegen an. Die Welt, von der er sich so schmerzlich abgetrennt fühlte, schuf er nach seinem Willen noch einmal neu und zahlte ihr auch gleich heim, dass es ihm ohne sie schlecht ging. Die Metropolen der Moderne, das Wien, Berlin und Paris der zwanziger und dreißiger Jahre, durchreist der Verfasser dabei ungefähr so wie Qualtingers Travnicek die Stätten des antiken Griechenlands. Schreker kleidete "seine Tagträume einer verlängerten Pubertät" in einen "pikanten Eintopf aus schweren, klebrigen Melodien" und war geistig schwerfällig, Hermann Scherchen stank und schwitzte grässlich vor sich hin; Arnold Schönberg war ein "schäbiger, kahlköpfiger kleiner Mann", der einen "fanatischen, militanten Orden gefährlicher, wildäugiger Mönche" leitete; Alban Berg hätte man "leicht für einen Homosexuellen halten können, und es gab Gerüchte, daß er impotent war". Anna Mahler, die erste Frau Kreneks, erwies sich schon nach kurzer Zeit als den "beträchtlichen sexuellen Möglichkeiten" ihres Ehemanns nicht gewachsen, während ihrer Mutter Alma, die wie Wagners Brünnhilde wirkte, "transponiert in die Atmosphäre der ,Fledermaus'", Sex nur als Instrument ihrer unbezwinglichen Machtgier diente. Bei genauerer Betrachtung erweist sich in diesem Buch fast jeder schließlich als Trottel. Einzig bei Karl Kraus macht Krenek eine radikale Ausnahme. Der findet einen Heldenplatz in der Rolle des apokalyptischen Anklägers. Denn alles hat er dokumentiert, so dass "sein Gesamtwerk den Charakter eines gigantischen Protokolls von einer endlosen Gerichtsverhandlung annahm, in der die ganze zeitgenössische Welt unentwegt unter Anklage stand". Darin wollte es Krenek ihm gleichtun.

All das hat zwar einen nicht unerheblichen Unterhaltungswert, hinterlässt auf die Dauer aber auch ein Gefühl der Leere. Denn trotz der unzähligen Details, die in sechs langen Kapiteln ohne Punkt und Komma angehäuft werden, erfährt man wenig und schon gar nichts Neues. Aufgetischt wird, was nach Kreneks Auffassung vom Leben übrig bleibt, wenn man die Kunst abzieht: "Das Vergängliche, von dem das Kunstwerk frei sein muß", so lautet seine Theorie, "ist genau das, was allein in unserer Erinnerung existiert: die verwirrende Fülle von Ereignissen, die anscheinend die Wirklichkeit unseres Daseins ausmachen." Hier das Werk: eine eherne Ordnung, dort die Welt: ein chaotischer Haufen. Vermittlung und Verarbeitung sind in dieser Spaltung nicht vorgesehen. So verlaufen auch die immer neuen Anläufe zur eingehenden Selbstreflexion im pseudophilosophischen Sande.

Jenes "Lebensmuster", das Krenek in seinem Buch zu suchen vorgibt, zeichnet sich eher unfreiwillig ab: in den Stereotypen der Erzählstruktur. Der dringliche "Wunsch, originell zu sein", durchzieht das gesamte Buch, oft gefolgt von seiner Variante, dem "Wunsch, modern zu sein". So manche Entgleisung geht womöglich auf dieses Konto. Eine Bemerkung über Anna Mahler: "Es mag sein, dass das jüdische Blut, das Anna von ihrem Vater geerbt hatte, die vorzeitige Reife bewirkt hatte, die bei Orientalen gewöhnlich zu finden ist." Oder über Egon Friedell, auch er - natürlich - ein bemitleidenswerter Idiot: "Als Friedell 1938 die Nazis die Treppe zu seiner Wohnung hinaufkommen hörte, machte er der traurigen Farce seines Lebens ein Ende, indem er aus dem Fenster sprang." Auch die diversen Strategien des mehr schlecht als recht kaschierten Eigenlobs gehen dem Leser irgendwann auf die Nerven. Wenn sich Krenek etwa mit Menge und "Länge" seiner Kompositionen brüstet, beeindruckt davon, wie man "so viele Noten in so kurzer Zeit" niederschreiben kann, schreckt er nicht vor der Folgerung zurück, in dieser Produktivität sei er nur Mozart und Schubert vergleichbar.

In Englisch verfasst, wendet sich das im Original schlicht "Memoirs" betitelte Buch an Kreneks neues, amerikanisches Publikum, zugleich an ein zukünftiges. Von ihm nahm der Autor offenbar an, dass es mit seiner Vergangenheit rein gar nichts zu tun haben würde. Die 1952 abgeschlossene Schrift sollte erst fünfzehn Jahre nach seinem Tod erscheinen. Die Witwe, Gladys Krenek, gab das Manuskript jedoch schon nach der Hälfte der Zeit frei. Da ihr Mann noch einundneunzig Jahre geworden ist, hatte er fast alle, die er in seinen Erinnerungen klein redete, überlebt. Dass er eigentlich auf sie alle neidisch war und große Selbstzweifel hatte, davon scheint Krenek selbst erst auf den allerletzten Seiten etwas gedämmert zu haben.

JULIA SPINOLA

Ernst Krenek: "Im Atem der Zeit". Erinnerungen an die Moderne. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1998. 1022 S., Abb., geb., 98,- DM.

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