Die digitale Welt im Post-Snowden-Zeitalter: Wir wissen, dass wir unter Überwachung stehen, aber machen weiter, als ob es nichts zu bedeuten hätte. Obwohl Unternehmen wie Facebook, Google und Amazon unsere Privatsphäre immer stärker infiltrieren, bleibt die Nutzung der sozialen Medien ungebrochen - unterstützt durch immer kleinere Geräte, die sich fest in unseren Alltag eingenistet haben. Wir sind hin- und hergeworfen zwischen Angst vor Abhängigkeit und verdeckter Obsession.Mit diesem fünften Teil seiner laufenden Untersuchungen zur kritischen Internetkultur taucht der niederländische Medientheoretiker Geert Lovink in die paradoxe Welt der neuen digitalen Normalität ein: Wohin bewegen sich Kunst, Kultur und Kritik, wenn sich das Digitale immer mehr in den Hintergrund des Alltags einfügt?Der Band behandelt u.a. die Selfie-Kultur, die Internet-Fixierung des amerikanischen Schriftstellers Jonathan Franzen, das Internet in Uganda, die Ästhetik von Anonymous und die Anatomie der Bitcoin-Religion: Wird die Geldschaffung durch Cyber-Währungen und Crowdfunding zu einer Neuverteilung des Reichtums beitragen oder die Kluft zwischen reich und arm eher vergrößern? Was wird in diesem Zeitalter des Freien das Einkommensmodell der 99% sein?Geert Lovink zeichnet nicht einfach ein düsteres Bild der leeren Wirklichkeit einer 24/7-Kommunikation, sondern zeigt auch radikale Alternativen hierzu auf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2017Wenn es kaputt ist, kann man es reparieren
Verlorenes Paradies: Geert Lovink überlegt, wie das Netz als Instrument der Befreiung wiederentdeckt werden kann
Die Gegenwart nimmt sich finster und lähmend aus - für das Internet, für den Nutzer, für die Welt. Zumal die Menschheit das Internet nur noch durch die Schlüssellöcher der Plattformen zu betrachten scheint. Vornehmlich solcher Plattformen, die als "soziale Medien" bezeichnet werden und sich in den Händen weniger großer Konzerne befinden. Ist das Internet zu einer Peepshow verkommen? Das Netz als ewiger Hochglanz-Rummelplatz, auf dem Nutzer jeden Alters um des billigen Vergnügens und der damit einhergehenden flüchtigen Endorphinschwemme willen unbemerkt mit ihrem Leben bezahlen - zumindest dem durch autonome Programme quantifizierbaren Teil davon?
Die erste Hälfte des Buches "Im Bann der Plattformen" des niederländischen Medientheoretikers, Internetaktivisten und -kritikers Geert Lovink, einem mitteilungsfreudigem Mann der ersten Stunde, zeichnet zunächst ein trauriges Bild der gescheiterten Ur-Idee des Internets - als Instrument zur Konstruktion einer positiv konnotierten Weltgesellschaft. Gleichzeitig, und das ist das Erfrischende an diesem Buch ist Lovink davon überzeugt, dass, wenn das "Internet kaputt" ist, man es auch reparieren kann. Romantischen Offline-Flucht-Phantasien erteilt er als "Lifestyle-Lösung" eine Absage. Denn das ändere schlicht nichts an der Tatsache, dass das Internet all das geworden ist, was niemand wollte.
Ein Großteil der Probleme kreist bei Lovink um die Dichotomie offen - geschlossen. Die Neunziger seien "das Jahrzehnt der Netzwerke" (offen) gewesen, heute befänden wir uns nun im titelgebenden "Bann der Plattformen" (geschlossen). In diesem Sinne stellt Lovink die Plattform als "strategischen" Begriff vor.
Mit Verweis auf den amerikanischen Kommunikationswissenschaftler Tarleton Gillespie zeigt Lovink, dass sich das Konzept der Plattformen aus den Nachwehen des Dotcom-Crashs entwickelte: Nachdem um die Jahrtausendwende hoch bewertete IT-Unternehmen die oft völlig aus der Luft gegriffenen Gewinnerwartungen nicht erfüllen konnten und der Wirtschaftszweig über Nacht in sich zusammenfiel, habe man den Plattform-Begriff gewählt, um sich eine neue Unschuld zu verleihen. Die "gegensätzlichen Aktivitäten der Online-Dienste" sollten als "neutraler Boden" für Do-it-yourself-Nutzer und "größere Medienproduzenten" erscheinen. Zugleich sei der "Kollision von Privatsphäre und Überwachungsaktivitäten, Gemeinschafts- und Werbeinvestitionen die Tür" geöffnet worden.
Mit diesem Buch, das als fünfter Teil einer Reihe über kritische Internetkultur erscheint, die der Professor für Medientheorie an der European Graduate School und Leiter des "Institute of Network Cultures" an der Hochschule von Amsterdam im Jahr 2002 begonnen hat, setzt er ein Zeichen gegen das allgegenwärtige Lamento, das "die Fixierung über den Verlust der Privatsphäre" begleite. Stattdessen betrachtet Lovink die Auswirkungen der als "Black Boxes" bezeichneten Plattformen, widmet sich den Einkommensmodellen des Internets in einem "persönlichen Bericht", blickt dorthin, wo sich ganz andere Formen des Austauschs etabliert haben ("Netcore in Uganda") und arbeitet sich an der "symptomatischen" Internetkritik des amerikanischen Schriftstellers Jonathan Franzen ab. Auch wenn Lovink sich oft darin erschöpft, den Finger in die Wunde zu legen, ist er mehr an Lösungen interessiert als an der Dekonstruktion des Apparats.
Eine zentrale Rolle spielen für Lovink die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, die das Ausmaß der Internet-Überwachung aufdeckten. Es gebe kaum einen Nutzer, der sich der "existenziellen Unsicherheit" erwehren könne, die in dem Moment eintrete, in dem "alles, was man sagt, gegen einen verwendet werden kann und wird". Gleichzeitig stagniere das Nachdenken über das Internet im alles vereinnahmenden "Big-Data-Hype".
Statt sich in den geschlossenen Systemen der Großkonzerne zu verausgaben, solle der Nutzer, meint Lovink, das Heft wieder selbst in die Hand nehmen. Dazu sei es nötig, die Überwachungstechniken im Netz wenigstens sichtbar zu machen oder zu umgehen. Die Herausforderung des Internets sei nicht dessen Allgegenwart, sondern die "Unsichtbarkeit".
Lovink formuliert Handlungsansätze für Nutzer, aber auch die Wissenschaft. Vor allem Letztere müsse helfen, den Computer als "Instrument der menschlichen Befreiung" wiederzuentdecken. Doch bis dato fehle es an Theoretikern und Intellektuellen, die akademisch etabliert seien und Kenntnisse im Programmieren, also der eigentlichen Materie, besitzen.
Problematisch wird es, wenn Lovink so viele Fragen aneinanderreiht, dass der Leser meint, sich in einer Art intellektuellem Brainstorming wiederzufinden. Manche Idee funkt ins Leere, da sich Lovink nicht immer bequemt, sie auszuführen. Die Perspektiven aber, die er mit seinem Wissen über die letzten dreißig Jahre des Internets aufzeigt, haben das Potential, unsere Sichtweise nachhaltig zu erschüttern: Es scheint bisweilen, dass ein großer Teil der privilegierten Nutzer - darunter Intellektuelle, Politiker und Journalisten - Konzerne wie Facebook und deren eingezäunte Gärten als unrevidierbar akzeptiert hat.
Der Autor erinnert daran, dass selbst vielversprechende Plattformen über Nacht verwaisten, nachdem ein vermeintlich attraktiverer Garten ausgewiesen wurde. Einerseits ist es ein beinahe zynischer Spaß, sich vorzustellen, was passierte, wenn Facebook die Nutzer davonliefen. Andererseits ist es beängstigend, sich auszumalen, welche Anstrengungen der Konzern unternimmt, um dies zu verhindern.
AXEL WEIDEMANN
Geert Lovink: "Im Bann der Plattformen". Die nächste Runde
der Netzkritik.
Aus dem Englischen von Andreas Kallfelz. Transcript Verlag, Bielefeld 2017. 268 S., br., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verlorenes Paradies: Geert Lovink überlegt, wie das Netz als Instrument der Befreiung wiederentdeckt werden kann
Die Gegenwart nimmt sich finster und lähmend aus - für das Internet, für den Nutzer, für die Welt. Zumal die Menschheit das Internet nur noch durch die Schlüssellöcher der Plattformen zu betrachten scheint. Vornehmlich solcher Plattformen, die als "soziale Medien" bezeichnet werden und sich in den Händen weniger großer Konzerne befinden. Ist das Internet zu einer Peepshow verkommen? Das Netz als ewiger Hochglanz-Rummelplatz, auf dem Nutzer jeden Alters um des billigen Vergnügens und der damit einhergehenden flüchtigen Endorphinschwemme willen unbemerkt mit ihrem Leben bezahlen - zumindest dem durch autonome Programme quantifizierbaren Teil davon?
Die erste Hälfte des Buches "Im Bann der Plattformen" des niederländischen Medientheoretikers, Internetaktivisten und -kritikers Geert Lovink, einem mitteilungsfreudigem Mann der ersten Stunde, zeichnet zunächst ein trauriges Bild der gescheiterten Ur-Idee des Internets - als Instrument zur Konstruktion einer positiv konnotierten Weltgesellschaft. Gleichzeitig, und das ist das Erfrischende an diesem Buch ist Lovink davon überzeugt, dass, wenn das "Internet kaputt" ist, man es auch reparieren kann. Romantischen Offline-Flucht-Phantasien erteilt er als "Lifestyle-Lösung" eine Absage. Denn das ändere schlicht nichts an der Tatsache, dass das Internet all das geworden ist, was niemand wollte.
Ein Großteil der Probleme kreist bei Lovink um die Dichotomie offen - geschlossen. Die Neunziger seien "das Jahrzehnt der Netzwerke" (offen) gewesen, heute befänden wir uns nun im titelgebenden "Bann der Plattformen" (geschlossen). In diesem Sinne stellt Lovink die Plattform als "strategischen" Begriff vor.
Mit Verweis auf den amerikanischen Kommunikationswissenschaftler Tarleton Gillespie zeigt Lovink, dass sich das Konzept der Plattformen aus den Nachwehen des Dotcom-Crashs entwickelte: Nachdem um die Jahrtausendwende hoch bewertete IT-Unternehmen die oft völlig aus der Luft gegriffenen Gewinnerwartungen nicht erfüllen konnten und der Wirtschaftszweig über Nacht in sich zusammenfiel, habe man den Plattform-Begriff gewählt, um sich eine neue Unschuld zu verleihen. Die "gegensätzlichen Aktivitäten der Online-Dienste" sollten als "neutraler Boden" für Do-it-yourself-Nutzer und "größere Medienproduzenten" erscheinen. Zugleich sei der "Kollision von Privatsphäre und Überwachungsaktivitäten, Gemeinschafts- und Werbeinvestitionen die Tür" geöffnet worden.
Mit diesem Buch, das als fünfter Teil einer Reihe über kritische Internetkultur erscheint, die der Professor für Medientheorie an der European Graduate School und Leiter des "Institute of Network Cultures" an der Hochschule von Amsterdam im Jahr 2002 begonnen hat, setzt er ein Zeichen gegen das allgegenwärtige Lamento, das "die Fixierung über den Verlust der Privatsphäre" begleite. Stattdessen betrachtet Lovink die Auswirkungen der als "Black Boxes" bezeichneten Plattformen, widmet sich den Einkommensmodellen des Internets in einem "persönlichen Bericht", blickt dorthin, wo sich ganz andere Formen des Austauschs etabliert haben ("Netcore in Uganda") und arbeitet sich an der "symptomatischen" Internetkritik des amerikanischen Schriftstellers Jonathan Franzen ab. Auch wenn Lovink sich oft darin erschöpft, den Finger in die Wunde zu legen, ist er mehr an Lösungen interessiert als an der Dekonstruktion des Apparats.
Eine zentrale Rolle spielen für Lovink die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, die das Ausmaß der Internet-Überwachung aufdeckten. Es gebe kaum einen Nutzer, der sich der "existenziellen Unsicherheit" erwehren könne, die in dem Moment eintrete, in dem "alles, was man sagt, gegen einen verwendet werden kann und wird". Gleichzeitig stagniere das Nachdenken über das Internet im alles vereinnahmenden "Big-Data-Hype".
Statt sich in den geschlossenen Systemen der Großkonzerne zu verausgaben, solle der Nutzer, meint Lovink, das Heft wieder selbst in die Hand nehmen. Dazu sei es nötig, die Überwachungstechniken im Netz wenigstens sichtbar zu machen oder zu umgehen. Die Herausforderung des Internets sei nicht dessen Allgegenwart, sondern die "Unsichtbarkeit".
Lovink formuliert Handlungsansätze für Nutzer, aber auch die Wissenschaft. Vor allem Letztere müsse helfen, den Computer als "Instrument der menschlichen Befreiung" wiederzuentdecken. Doch bis dato fehle es an Theoretikern und Intellektuellen, die akademisch etabliert seien und Kenntnisse im Programmieren, also der eigentlichen Materie, besitzen.
Problematisch wird es, wenn Lovink so viele Fragen aneinanderreiht, dass der Leser meint, sich in einer Art intellektuellem Brainstorming wiederzufinden. Manche Idee funkt ins Leere, da sich Lovink nicht immer bequemt, sie auszuführen. Die Perspektiven aber, die er mit seinem Wissen über die letzten dreißig Jahre des Internets aufzeigt, haben das Potential, unsere Sichtweise nachhaltig zu erschüttern: Es scheint bisweilen, dass ein großer Teil der privilegierten Nutzer - darunter Intellektuelle, Politiker und Journalisten - Konzerne wie Facebook und deren eingezäunte Gärten als unrevidierbar akzeptiert hat.
Der Autor erinnert daran, dass selbst vielversprechende Plattformen über Nacht verwaisten, nachdem ein vermeintlich attraktiverer Garten ausgewiesen wurde. Einerseits ist es ein beinahe zynischer Spaß, sich vorzustellen, was passierte, wenn Facebook die Nutzer davonliefen. Andererseits ist es beängstigend, sich auszumalen, welche Anstrengungen der Konzern unternimmt, um dies zu verhindern.
AXEL WEIDEMANN
Geert Lovink: "Im Bann der Plattformen". Die nächste Runde
der Netzkritik.
Aus dem Englischen von Andreas Kallfelz. Transcript Verlag, Bielefeld 2017. 268 S., br., 24,99 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2017Stadt
und Netz
Der Niederländer Geert Lovink
erweitert die Digital-Debatte
Dass Tech-Konzerne uns auf Schritt und Tritt verfolgen und detaillierte Bewegungsprofile erstellen, ist ein Allgemeinplatz. Dass Digitalisierung dadurch zugleich ein Phänomen der physischen Bewegung im Raum und damit auch ein urbanes Phänomen ist, wird in der Debatte eher weniger reflektiert. „Menschliche Bewegung ist gleich Informatik“, schreibt der niederländische Medientheoretiker und Netzkritiker Geert Lovink in seinem neuen Buch „Im Bann der Plattformen“. „Nicht nur werden unsere Bewegungen von Verkehrskameras erfasst, wir übermitteln dem ,System‘ auch ständig unseren Aufenthaltsort und informieren unsere Netzwerke über unsere Mobilitätsaffekte via soziale Medien wie Twitter, Facebook, Ping oder SMS. Wir lassen uns verfolgen, wir verfolgen uns selbst und halten die Daten in Bewegung.“ Der datengetriebene und datengenerierende Nutzer spinnt dieses Netzwerk immer weiter.
Lovink zeigt auf, dass der Netzwerkgedanke aus urbanen Systemen stammt und sich die digitalen Netzwerk-Infrastrukturen wie eine Schicht über die analoge Stadt legen. „Die Stadt ist ein dichtes Gelände und ein lesbares Territorium“. So überrascht es nicht, dass Google mit seiner Städtetochter Sidewalk Labs in New York 7000 ausrangierte Telefonzellen zu Wlan-Hotspots aufgerüstet hat. Was bedeutet es, wenn es weltweit sieben Milliarden Handyverträge gibt?
Das global verbindende Gewebe, das Synapse mit Synapse verknüpft, eine Vision des Internetpioniers John Perry Barlow, werde Wirklichkeit, schreibt Lovink. Die Stadt Chicago hat im Rahmen des Projekts Array of Things fünfzig Sensoren an Laternenpfählen installiert, die in Echtzeit Luftqualität, Lärm und Vibration (etwa durch vorbeifahrende Lastwägen) messen, im spanischen San Sebastián, das als Blaupause für smarte Städte dient, sind unter dem Asphalt Hunderte elektromagnetische und akustische Sensoren installiert, die Geräusche wie Sirenen und Schüsse aufzeichnen können. Und in den Städten laufen Bürger mit GPS-bewehrten Smartphones herum, die in Wirklichkeit Messgeräte sind, mit denen man praktischerweise noch telefonieren und ins Internet kann, mit denen aber nicht wir die Stadt vermessen, sondern selbst vermessen werden.
Die verblüffenden Drehungen und Wendungen Lovinks machen sein Buch lesenswert. So fragt er sich zum Beispiel, wer den urbanen Kosmos bevölkert, ob Walter Benjamins Flaneur des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert noch seinen Platz fände oder ob der Cyberpunk, der in den 1980er-Jahren noch der ideale Bürger zu sein schien, heutzutage zu „subkulturell“ wäre. Bräuchte es vielleicht eine „Proust’sche Datendandy-App“ als Navigationshilfe? Mit einer solchen „Ästhetik des Unsichtbaren“ will er die Terra incognita kartieren.
Der Untertitel des Buchs – „Die nächste Runde der Netzwerkkritik“ – verspricht nicht zu viel. Lovink fügt der Netzkritik, die nach den Büchern von Evgeny Morozov („To Save Everything, Click Here“), Nicholas Carr („The Glass Cage“) und Jaron Lanier („Who owns the future?“) um immer dieselben Themen kreist und nicht voranzukommen scheint,neben bekannten Themen wie Walled Gardens oder der Kybernetik einige interessante Kapitel hinzu.
Sein Buch ist kursorisch angelegt, streift nahezu alle Themen, von Bitcoin bis hin zu sozialen Netzwerken. Im Zentrum der Kritik stehen auch bei ihm die Tech-Konzerne. Er belässt es aber nicht bei einem allgemeinen Lamento über die Sammelwut der Datenkraken, sondern dekonstruiert luzide den Wandel des militärisch-industriellen Komplexes in den vergangenen Jahrzehnten. „Bis 1984 wurden Computer von großen Bürokratien benutzt, um die Bevölkerung zu zählen und zu kontrollieren, und sie hatten ihre militärischen Ursprünge nicht abgeschüttelt. Die radikale Kritik des Personal Computings richtete sich zu dieser Zeit gegen die Totalität der Maschine. Wir klebten vor unseren Terminals, angedockt an einen Big Daddy-Mainframe. Und nun, dreißig Jahre später, ist der Computer wieder einmal das perfekte technische Instrument eines kalten militärischen Sicherheitsapparats, der darauf aus ist, das andere einzuordnen, zu identifizieren, zu selektieren und letztendlich zu zerstören. Die NSA hat, mit aktiver Unterstützung von Google, Facebook, Microsoft und alliierten Geheimdiensten, die ,totale Wahrnehmung‘ erreicht. Genau in dem Moment, da der PC von unseren Schreibtischen verschwindet, übernehmen große und unsichtbare Datenzentren seinen Platz im kollektiven Raum des Techno-Imaginären. Willkommen zurück im Zentralrechner.“
Man mag sich an manchen Formulierungen, etwa dem offenkundig von Sloterdijk inspirierten „Ponzi-Messianismus“, stören, auch die seitenlange Auseinandersetzung mit Jonathan Franzen, der sich in der Rolle des Analog-Fundis gefällt, wirkt auf Dauer ermüdend. Dennoch ist dies ein gutes Buch, das auch für weniger digitalaffine Leser einen guten Überblick über den Debattenstand gibt.
ADRIAN LOBE
Geert Lovink: Im Bann der Plattformen: Die nächste Runde der Netzkritik. Aus dem Englischen von Andreas Kallfelz. Transcript Verlag, Berlin 2017. 266 Seiten, 24,99 Euro.
Lovink belässt es nicht beim
Lamento über die Sammelwut
der großen Datenkraken
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Netz
Der Niederländer Geert Lovink
erweitert die Digital-Debatte
Dass Tech-Konzerne uns auf Schritt und Tritt verfolgen und detaillierte Bewegungsprofile erstellen, ist ein Allgemeinplatz. Dass Digitalisierung dadurch zugleich ein Phänomen der physischen Bewegung im Raum und damit auch ein urbanes Phänomen ist, wird in der Debatte eher weniger reflektiert. „Menschliche Bewegung ist gleich Informatik“, schreibt der niederländische Medientheoretiker und Netzkritiker Geert Lovink in seinem neuen Buch „Im Bann der Plattformen“. „Nicht nur werden unsere Bewegungen von Verkehrskameras erfasst, wir übermitteln dem ,System‘ auch ständig unseren Aufenthaltsort und informieren unsere Netzwerke über unsere Mobilitätsaffekte via soziale Medien wie Twitter, Facebook, Ping oder SMS. Wir lassen uns verfolgen, wir verfolgen uns selbst und halten die Daten in Bewegung.“ Der datengetriebene und datengenerierende Nutzer spinnt dieses Netzwerk immer weiter.
Lovink zeigt auf, dass der Netzwerkgedanke aus urbanen Systemen stammt und sich die digitalen Netzwerk-Infrastrukturen wie eine Schicht über die analoge Stadt legen. „Die Stadt ist ein dichtes Gelände und ein lesbares Territorium“. So überrascht es nicht, dass Google mit seiner Städtetochter Sidewalk Labs in New York 7000 ausrangierte Telefonzellen zu Wlan-Hotspots aufgerüstet hat. Was bedeutet es, wenn es weltweit sieben Milliarden Handyverträge gibt?
Das global verbindende Gewebe, das Synapse mit Synapse verknüpft, eine Vision des Internetpioniers John Perry Barlow, werde Wirklichkeit, schreibt Lovink. Die Stadt Chicago hat im Rahmen des Projekts Array of Things fünfzig Sensoren an Laternenpfählen installiert, die in Echtzeit Luftqualität, Lärm und Vibration (etwa durch vorbeifahrende Lastwägen) messen, im spanischen San Sebastián, das als Blaupause für smarte Städte dient, sind unter dem Asphalt Hunderte elektromagnetische und akustische Sensoren installiert, die Geräusche wie Sirenen und Schüsse aufzeichnen können. Und in den Städten laufen Bürger mit GPS-bewehrten Smartphones herum, die in Wirklichkeit Messgeräte sind, mit denen man praktischerweise noch telefonieren und ins Internet kann, mit denen aber nicht wir die Stadt vermessen, sondern selbst vermessen werden.
Die verblüffenden Drehungen und Wendungen Lovinks machen sein Buch lesenswert. So fragt er sich zum Beispiel, wer den urbanen Kosmos bevölkert, ob Walter Benjamins Flaneur des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert noch seinen Platz fände oder ob der Cyberpunk, der in den 1980er-Jahren noch der ideale Bürger zu sein schien, heutzutage zu „subkulturell“ wäre. Bräuchte es vielleicht eine „Proust’sche Datendandy-App“ als Navigationshilfe? Mit einer solchen „Ästhetik des Unsichtbaren“ will er die Terra incognita kartieren.
Der Untertitel des Buchs – „Die nächste Runde der Netzwerkkritik“ – verspricht nicht zu viel. Lovink fügt der Netzkritik, die nach den Büchern von Evgeny Morozov („To Save Everything, Click Here“), Nicholas Carr („The Glass Cage“) und Jaron Lanier („Who owns the future?“) um immer dieselben Themen kreist und nicht voranzukommen scheint,neben bekannten Themen wie Walled Gardens oder der Kybernetik einige interessante Kapitel hinzu.
Sein Buch ist kursorisch angelegt, streift nahezu alle Themen, von Bitcoin bis hin zu sozialen Netzwerken. Im Zentrum der Kritik stehen auch bei ihm die Tech-Konzerne. Er belässt es aber nicht bei einem allgemeinen Lamento über die Sammelwut der Datenkraken, sondern dekonstruiert luzide den Wandel des militärisch-industriellen Komplexes in den vergangenen Jahrzehnten. „Bis 1984 wurden Computer von großen Bürokratien benutzt, um die Bevölkerung zu zählen und zu kontrollieren, und sie hatten ihre militärischen Ursprünge nicht abgeschüttelt. Die radikale Kritik des Personal Computings richtete sich zu dieser Zeit gegen die Totalität der Maschine. Wir klebten vor unseren Terminals, angedockt an einen Big Daddy-Mainframe. Und nun, dreißig Jahre später, ist der Computer wieder einmal das perfekte technische Instrument eines kalten militärischen Sicherheitsapparats, der darauf aus ist, das andere einzuordnen, zu identifizieren, zu selektieren und letztendlich zu zerstören. Die NSA hat, mit aktiver Unterstützung von Google, Facebook, Microsoft und alliierten Geheimdiensten, die ,totale Wahrnehmung‘ erreicht. Genau in dem Moment, da der PC von unseren Schreibtischen verschwindet, übernehmen große und unsichtbare Datenzentren seinen Platz im kollektiven Raum des Techno-Imaginären. Willkommen zurück im Zentralrechner.“
Man mag sich an manchen Formulierungen, etwa dem offenkundig von Sloterdijk inspirierten „Ponzi-Messianismus“, stören, auch die seitenlange Auseinandersetzung mit Jonathan Franzen, der sich in der Rolle des Analog-Fundis gefällt, wirkt auf Dauer ermüdend. Dennoch ist dies ein gutes Buch, das auch für weniger digitalaffine Leser einen guten Überblick über den Debattenstand gibt.
ADRIAN LOBE
Geert Lovink: Im Bann der Plattformen: Die nächste Runde der Netzkritik. Aus dem Englischen von Andreas Kallfelz. Transcript Verlag, Berlin 2017. 266 Seiten, 24,99 Euro.
Lovink belässt es nicht beim
Lamento über die Sammelwut
der großen Datenkraken
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Was der niederländische Medientheoretiker und Netzkritiker Geert Lovinks in seinem Buch über die vernetzte Stadt und das Screening unserer Mobilitätsaffekte schreibt, findet Adrian Lobe verblüffend. Bemerkenswert für ihn auch die Beoabcthtungen im Buch zu Walter Benjamins Flaneur, zum Cyberpunk und Daten-Dandy, mit denen der Autor laut Lobe der Netzkritik neue Impulse gibt. Dass es der Autor nicht beim Lamento über Datenkraken belässt, sondern luzide Zusammenhänge und Entwicklungen dekonstruiert, gefällt dem Rezensenten. Ein guter Überblick über den Debattenstand auch für weniger digitalaffine Leser, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Lovink hat etwas zu sagen und will gehört werden. Er positioniert sich dezidiert nicht als konservativer Rufer einer Sehnsucht nach der Vor-Internet-Zeit, sondern als progressiver Provokateur und alternativer Visionär.« Katja Grashöfer, [rezens.tfm], 1 (2018) O-Ton: »Über Techniksucht« - Geert Lovink im Gespräch bei Kulturzeit am 11.04.2018. »Eine anregende Lektüre.« Ariane Rüdiger, iX, 2 (2018) »Lovinks konsequente Ablehnung von Alternativlosigkeit hat etwas Erfrischendes. [...] Sehr gut nachvollziehbare, sehr detailreiche kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen.« Saskia Bell. Communicatio Socialis, 1 (2018) »Die verblüffenden Drehungen und Wendungen Lovinks machen sein Buch lesenswert. Ein gutes Buch, das auch für weniger digitalaffine Leser einen guten Überblick über den Debattenstand gibt.« Adrian Lobe, Süddeutsche Zeitung, 04.12.2017 O-Ton: »Das Internet muss repariert werden« - Geert Lovink im Gespräch beim SRF am 03.11.2017. »Die gewählten Themen sind hochaktuell und zukunftsorientiert. Aufgrund einer Reihe von neuen Ansätzen mit hoher Relevanz für die sozial-, kultur- und medienwissenschaftliche Forschung kann das Werk Fachkräften entsprechender Disziplinen zur Anregung für aktuelle Forschungsvorhaben empfohlen werden.« merz, 61/5 (2017) »Die Perspektiven [...], die Lovink mit seinem Wissen über die letzten 30 Jahre des Internets aufzeigt, haben das Potential, unsere Sichtweise nachhaltig zu erschüttern.« Axel Weidemann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2017 »Das Buch bringt eine Fülle von Informationen über laufende Entwicklungen im Internet und allgemein in digitalen Kommunikationsnetzen, was es zu einer lesenswerten Neuerscheinung mit neuen Ideen zu einem dynamischen Thema macht.« Peter Dahms, OpernInfo Berlin, 5 (2017) »Lovink zeigt überzeugend, dass sich die derzeitige Stellung der großen Plattformen aus der letzten Vereinfachungswelle unter dem Schlagwort 'Web 2.0' speist. Doch Alternativmodelle scheinen nach einer Phase von gefühlter Ohnmacht heute wieder greifbar zu werden.« Leon Kaiser, netzpolitik.org, 14.07.2017 Besprochen in: iX, 2 (2018), Ariane Rüdiger MEDIENwissenschaft, 2-3 (2018), Xenia Kitaeva