Ilse Koch war die Ehefrau des SS-Kommandanten von Buchenwald und eine der wenigen verurteilten NS-Täterinnen. Die Historikerin Alexandra Przyrembel skizziert in einer fundierten Spurensuche ihren Lebensweg, beschreibt den Prozess und die internationale Berichterstattung sowie die Zeit im Frauengefängnis in Aichach und die Unterstützung durch das Netzwerk der »Stillen Hilfe«.
Bereits 1932 wurde Ilse Koch (1906-1967) Mitglied der NSDAP, 1936 heiratete sie den späteren Kommandanten von Buchenwald. 1947 stand sie in Deutschland vor einem US-Gericht, 1950/51 vor einem deutschen Gericht, das sie zu lebenslanger Haft verurteilte. Ausgiebig berichtete die internationale Presse über die als besonders grausam geltende »Hexe von Buchenwald«. Von der Zeit des Nationalsozialismus über den Prozess bis zum Suizid 1967 in der Haft rekonstruiert Alexandra Przyrembel die unterschiedlichen Erzählungen über Ilse Koch. Dabei zeigt sie, welche Vorstellungen von Gewalt, Geschlecht und Schuld sich darin kristallisieren und warum.
Für die Nachkriegsgesellschaften wird klar: Je grausamer Ilse Koch geschildert wurde, desto mehr konnten Deutsche sich von ihr distanzieren und sich selbst entschulden. Eine kluge, erhellende Studie über das personalisierte Böse, das außerhalb der menschlichen Sphäre verortet wird.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Bereits 1932 wurde Ilse Koch (1906-1967) Mitglied der NSDAP, 1936 heiratete sie den späteren Kommandanten von Buchenwald. 1947 stand sie in Deutschland vor einem US-Gericht, 1950/51 vor einem deutschen Gericht, das sie zu lebenslanger Haft verurteilte. Ausgiebig berichtete die internationale Presse über die als besonders grausam geltende »Hexe von Buchenwald«. Von der Zeit des Nationalsozialismus über den Prozess bis zum Suizid 1967 in der Haft rekonstruiert Alexandra Przyrembel die unterschiedlichen Erzählungen über Ilse Koch. Dabei zeigt sie, welche Vorstellungen von Gewalt, Geschlecht und Schuld sich darin kristallisieren und warum.
Für die Nachkriegsgesellschaften wird klar: Je grausamer Ilse Koch geschildert wurde, desto mehr konnten Deutsche sich von ihr distanzieren und sich selbst entschulden. Eine kluge, erhellende Studie über das personalisierte Böse, das außerhalb der menschlichen Sphäre verortet wird.
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Bizarres
aus Buchenwald
Ilse Koch, die Frau eines KZ-Kommandanten,
wurde nach dem Krieg gern als Personifikation
des Bösen vorgeführt. Alexandra Przyrembel zeigt,
wie dies der Selbstentlastung der jungen BRD diente
VON BARBARA DISTEL
Der Anteil von Frauen unter den Angeklagten wegen NS-Verbrechen macht nur fünf Prozent aus, und das Bild der „unpolitischen“ Frauen, die ihr Privatleben von ihrer Rolle und ihrem Handeln im NS-Alltag trennten, blieb lange Zeit vorherrschend. Auch aus diesem Grund fokussieren sich Darstellungen über Frauen in der NS-Diktatur oft auf berühmte Einzelfälle wie Ilse Koch, die Frau des Kommandanten des KZ Buchenwald. Der Titel „Im Bann des Bösen“ eines eben erschienenen Buches über den Fall wirkt abschreckend, denn er evoziert unmittelbar die noch immer in sozialen Medien kursierenden sensationslüsternen Filme und Texte über die „Hexe von Buchenwald“. Und man fragt sich, welche Leserschaft der renommierte S.-Fischer-Verlag dabei im Auge hatte.
Lässt man sich jedoch auf die umfangreiche Studie der Historikerin Alexandra Przyrembel ein, so erfährt man am Beispiel der Geschichte des Lebens und der strafrechtlichen Verfolgung der Ilse Koch viel über die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen durch alliierte Kriegsverbrechertribunale und die deutsche Nachkriegsjustiz in ihrer frühen Phase.
Die in vier chronologisch aufeinanderfolgende „Teile“ gegliederte Arbeit beginnt unter dem Begriff „Peinigen“ mit dem Werdegang der Ilse Koch. Dort wird der Weg der 1906 Geborenen (und 1932 in die NSDAP Eingetretenen) von der durch die SS bis ins Detail reglementierten Eheschließung mit Karl Otto Koch, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald (1937 – 1941), bis zur Befreiung des Konzentrationslagers im April 1945 nachgezeichnet.
In der Villa des Lagerkommandanten in der SS-Siedlung erlebte Ilse Koch einen enormen gesellschaftlichen Aufstieg, der ihr ein Leben im Luxus ermöglichte. Die Privilegien reichten vom Besitz eigener Reitpferde und vielfältigen Dienstleistungen durch die Häftlingssklaven bis zu Bestechungsgeschenken aller Art durch Vertreter des Lagers und öffentlicher Institutionen. Sie brachte drei Kinder zur Welt und inszenierte während dieser Jahre das Bild einer idyllischen SS-Familie, bei der die Verbrechen an den Gefangenen des Konzentrationslagers ausgeblendet blieben.
Obwohl sie keine offizielle Funktion bekleidete und das Häftlingslager nicht betreten durfte, spielte sie für die Gefangenen eine vielfach bezeugte unheilvolle Rolle. Sie veranlasste SS-Bewacher zu Gewalttaten gegen Häftlinge, die ihr missfielen, sodass sich ihr Ruf als böser Geist des Lagers innerhalb der Häftlingsgesellschaft schnell verbreitete. Gerüchte über die unbegrenzte Macht der „Kommandeuse“ erhielten zusätzlich Nahrung durch ein Projekt der pathologischen Abteilung in Buchenwald, bei dem Stücke tätowierter Haut von toten Gefangenen präpariert wurden. Ilse Koch wurde beschuldigt, gezielt Tötungen von Häftlingen mit Tätowierungen veranlasst zu haben, um in den Besitz von Alltagsgegenständen aus tätowierter menschlicher Haut wie Lampenschirm, Handtasche oder Fotoalbum zu gelangen. Diese Vorwürfe konnten später nicht belegt werden.
Der zweite Teil „Konfrontationen“ beginnt mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur am Beispiel der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 durch Einheiten der US-Armee. Von Anfang an wurde vor allem in der US-Presse ein Bild der Ilse Koch als perverse und nymphomanische Massenmörderin verbreitet, das im Laufe der Jahre immer groteskere Formen annahm.
Ilse Koch wurde von einem überlebenden Häftling erkannt und im Juni 1945 bei ihrer Schwägerin in Ludwigsburg verhaftet. Am 11. April 1947 begann der US-Militärgerichtsprozess in Dachau gegen Ilse Koch und 30 weitere Angeklagte nach angelsächsischem Prozessrecht. Sie wurde am 14. August 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt. Da sie während ihrer Inhaftierung schwanger geworden war, konnte sie nicht zum Tode verurteilt werden.
1948 entschied der für die Bestätigung des Urteils verantwortliche US-Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, das Strafmaß für Koch rückwirkend auf vier Jahre zu beschränken, da er das Urteil für übertrieben hielt. Dieser Beschluss löste einen internationalen Skandal aus, der zur Einberufung eines Untersuchungsausschusses durch den US-Senat führte. Der gesamte Prozess wurde erneut aufgerollt. Vor allem die Skandalisierung der Person Ilse Kochs als Personifizierung des Bösen verschärfte den öffentlichen Protest gegen die Revision des Urteils.
Im dritten Teil „Verantworten“ wird der Blick auf den zweiten Prozess gegen Ilse Koch vor einem westdeutschen Gericht gerichtet und die unterschiedliche Sichtweise der beteiligten Personen und Institutionen beleuchtet. Mit Gründung der beiden deutschen Staaten verschärfte sich der Ost-West-Konflikt und führte in diesem Fall zu einem erbitterten Kampf um den Ort des Verfahrens, Augsburg im Westen oder Weimar im Osten. Die politische Führung der DDR versuchte zusammen mit Vertretern der Justiz und den im Buchenwald-Komitees organisierten KZ-Überlebenden mit allen Mitteln, das Verfahren vor ein DDR-Gericht zu bekommen. Ein anfänglicher Aufruf an die KZ-Überlebenden, einen westdeutschen Prozess zu boykottieren, wurde nach Protesten von ehemaligen Buchenwald-Häftlingen in westlichen Ländern revidiert. Die Gemeinschaft der Überlebenden des KZ Buchenwald wurde in die Grabenkämpfe des Kalten Krieges verstrickt, was eine bereits bestehende Spaltung vertiefte.
Das Schwurgerichtserfahren in Augsburg wurde jedoch im Spannungsfeld unterschiedlicher Zielsetzungen korrekt durchgeführt. Die Verteidigung war von Anfang an bemüht, das Gericht zu diskreditieren. Zeugenaussagen von Überlebenden, die in der DDR lebten, konnten nur schriftlich verlesen werden, und die vorgeladenen Zeugen standen unter schwerer psychischer Belastung. Die deutsche und internationale Presse war auf die Person Ilse Koch fokussiert, die immer mehr zur Verkörperung nationalsozialistischer Verbrechen stilisiert wurde. Am 15. Januar 1951 wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt.
Im abschießenden Teil „Leugnen“ werden die Entlastungs- und Legitimationsstrategien der deutschen Nachkriegsgesellschaft untersucht. Die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft forderte generell die Entlassung inhaftierter Massenmörder, allerdings nicht die Begnadigung von Ilse Koch. Deren Verurteilung diente somit auch der Entlastung der westdeutschen Gesamtgesellschaft. Die DDR prangerte die fehlende Ahnung der Verbrechen durch die westdeutsche Justiz und den Verbleib hoher NS-Funktionäre in öffentlichen Ämtern an, der eigenen Justizapparat agierte gleichzeitig immer mehr nach politischen Vorgaben.
Ilse Koch verbrachte die Jahre bis zu ihrem Selbstmord im Jahr 1967 im Frauengefängnis Aichach. Sie hatte bereits vor Gericht jegliche eigene Verantwortung geleugnet und sie gerierte sich auch in den darauffolgenden Jahren als unschuldiges Opfer einer Verschwörung. Unterstützung erhielt sie von ihren Kindern sowie von der 1951 gegründeten Organisation „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, die sich für verurteilte NS-Täter und deren Familien einsetzte. Die lange von der Öffentlichkeit unbeachtete Organisation wurde von ehemaligen SS-Führern getragen, aber auch von prominenten Geistlichen und herausragenden Vertretern von Staat und Gesellschaft wie Bundeskanzler Konrad Adenauer oder Albert Schweitzer unterstützt.
Es bleibt ein Erschrecken über das Ausmaß der Verstrickung der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft in die weiterhin wirkmächtige nationalsozialistische Ideologie, insbesondere den Antisemitismus nach 1945. Ein großer Teil der in ihren Ämtern verbliebenen oder zurückgekehrten Vertreter der Eliten, vor allem in Justiz, Bildung und Medizin und Medien, prägte mit ihrer Geisteshaltung auch die nachwachsende Generation.
Die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald bleiben leider, trotz der Würdigung des kommunistischen Widerstandes durch das deutsche Gericht, als
eine Gemeinschaft „gekennzeichnet von
einer Kultur des Misstrauens“ in Erinnerung.
Trotz der inzwischen mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegenden juristischen Ahndung der KZ-Verbrechen am Beispiel von Ilse Koch und der so unterschiedlichen politischen Gemengelage in Bayern und Thüringen ermöglicht die Analyse einen neuen, man kann sagen frischen und gewinnbringenden Blick auf ein Thema, von dem man dachte, dass es bereits gründlich erforscht wurde.
Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Das Bild von der
perversen Massenmörderin
verbreitete sich rasch
Bonn und Ost-Berlin
stritten sich, wo der Prozess
stattfinden sollte
Alexandra Przyrembel:
Im Bann des Bösen.
Ilse Koch – ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933 bis 1970.
S. Fischer-Verlage,
Frankfurt 2023.
423 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 24,99 Euro.
Alle Augen auf die „Hexe“ und das „Biest“: Ilse Koch 1947 vor dem Militärtribunal in Dachau.
Foto: AP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
aus Buchenwald
Ilse Koch, die Frau eines KZ-Kommandanten,
wurde nach dem Krieg gern als Personifikation
des Bösen vorgeführt. Alexandra Przyrembel zeigt,
wie dies der Selbstentlastung der jungen BRD diente
VON BARBARA DISTEL
Der Anteil von Frauen unter den Angeklagten wegen NS-Verbrechen macht nur fünf Prozent aus, und das Bild der „unpolitischen“ Frauen, die ihr Privatleben von ihrer Rolle und ihrem Handeln im NS-Alltag trennten, blieb lange Zeit vorherrschend. Auch aus diesem Grund fokussieren sich Darstellungen über Frauen in der NS-Diktatur oft auf berühmte Einzelfälle wie Ilse Koch, die Frau des Kommandanten des KZ Buchenwald. Der Titel „Im Bann des Bösen“ eines eben erschienenen Buches über den Fall wirkt abschreckend, denn er evoziert unmittelbar die noch immer in sozialen Medien kursierenden sensationslüsternen Filme und Texte über die „Hexe von Buchenwald“. Und man fragt sich, welche Leserschaft der renommierte S.-Fischer-Verlag dabei im Auge hatte.
Lässt man sich jedoch auf die umfangreiche Studie der Historikerin Alexandra Przyrembel ein, so erfährt man am Beispiel der Geschichte des Lebens und der strafrechtlichen Verfolgung der Ilse Koch viel über die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen durch alliierte Kriegsverbrechertribunale und die deutsche Nachkriegsjustiz in ihrer frühen Phase.
Die in vier chronologisch aufeinanderfolgende „Teile“ gegliederte Arbeit beginnt unter dem Begriff „Peinigen“ mit dem Werdegang der Ilse Koch. Dort wird der Weg der 1906 Geborenen (und 1932 in die NSDAP Eingetretenen) von der durch die SS bis ins Detail reglementierten Eheschließung mit Karl Otto Koch, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald (1937 – 1941), bis zur Befreiung des Konzentrationslagers im April 1945 nachgezeichnet.
In der Villa des Lagerkommandanten in der SS-Siedlung erlebte Ilse Koch einen enormen gesellschaftlichen Aufstieg, der ihr ein Leben im Luxus ermöglichte. Die Privilegien reichten vom Besitz eigener Reitpferde und vielfältigen Dienstleistungen durch die Häftlingssklaven bis zu Bestechungsgeschenken aller Art durch Vertreter des Lagers und öffentlicher Institutionen. Sie brachte drei Kinder zur Welt und inszenierte während dieser Jahre das Bild einer idyllischen SS-Familie, bei der die Verbrechen an den Gefangenen des Konzentrationslagers ausgeblendet blieben.
Obwohl sie keine offizielle Funktion bekleidete und das Häftlingslager nicht betreten durfte, spielte sie für die Gefangenen eine vielfach bezeugte unheilvolle Rolle. Sie veranlasste SS-Bewacher zu Gewalttaten gegen Häftlinge, die ihr missfielen, sodass sich ihr Ruf als böser Geist des Lagers innerhalb der Häftlingsgesellschaft schnell verbreitete. Gerüchte über die unbegrenzte Macht der „Kommandeuse“ erhielten zusätzlich Nahrung durch ein Projekt der pathologischen Abteilung in Buchenwald, bei dem Stücke tätowierter Haut von toten Gefangenen präpariert wurden. Ilse Koch wurde beschuldigt, gezielt Tötungen von Häftlingen mit Tätowierungen veranlasst zu haben, um in den Besitz von Alltagsgegenständen aus tätowierter menschlicher Haut wie Lampenschirm, Handtasche oder Fotoalbum zu gelangen. Diese Vorwürfe konnten später nicht belegt werden.
Der zweite Teil „Konfrontationen“ beginnt mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur am Beispiel der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 durch Einheiten der US-Armee. Von Anfang an wurde vor allem in der US-Presse ein Bild der Ilse Koch als perverse und nymphomanische Massenmörderin verbreitet, das im Laufe der Jahre immer groteskere Formen annahm.
Ilse Koch wurde von einem überlebenden Häftling erkannt und im Juni 1945 bei ihrer Schwägerin in Ludwigsburg verhaftet. Am 11. April 1947 begann der US-Militärgerichtsprozess in Dachau gegen Ilse Koch und 30 weitere Angeklagte nach angelsächsischem Prozessrecht. Sie wurde am 14. August 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt. Da sie während ihrer Inhaftierung schwanger geworden war, konnte sie nicht zum Tode verurteilt werden.
1948 entschied der für die Bestätigung des Urteils verantwortliche US-Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, das Strafmaß für Koch rückwirkend auf vier Jahre zu beschränken, da er das Urteil für übertrieben hielt. Dieser Beschluss löste einen internationalen Skandal aus, der zur Einberufung eines Untersuchungsausschusses durch den US-Senat führte. Der gesamte Prozess wurde erneut aufgerollt. Vor allem die Skandalisierung der Person Ilse Kochs als Personifizierung des Bösen verschärfte den öffentlichen Protest gegen die Revision des Urteils.
Im dritten Teil „Verantworten“ wird der Blick auf den zweiten Prozess gegen Ilse Koch vor einem westdeutschen Gericht gerichtet und die unterschiedliche Sichtweise der beteiligten Personen und Institutionen beleuchtet. Mit Gründung der beiden deutschen Staaten verschärfte sich der Ost-West-Konflikt und führte in diesem Fall zu einem erbitterten Kampf um den Ort des Verfahrens, Augsburg im Westen oder Weimar im Osten. Die politische Führung der DDR versuchte zusammen mit Vertretern der Justiz und den im Buchenwald-Komitees organisierten KZ-Überlebenden mit allen Mitteln, das Verfahren vor ein DDR-Gericht zu bekommen. Ein anfänglicher Aufruf an die KZ-Überlebenden, einen westdeutschen Prozess zu boykottieren, wurde nach Protesten von ehemaligen Buchenwald-Häftlingen in westlichen Ländern revidiert. Die Gemeinschaft der Überlebenden des KZ Buchenwald wurde in die Grabenkämpfe des Kalten Krieges verstrickt, was eine bereits bestehende Spaltung vertiefte.
Das Schwurgerichtserfahren in Augsburg wurde jedoch im Spannungsfeld unterschiedlicher Zielsetzungen korrekt durchgeführt. Die Verteidigung war von Anfang an bemüht, das Gericht zu diskreditieren. Zeugenaussagen von Überlebenden, die in der DDR lebten, konnten nur schriftlich verlesen werden, und die vorgeladenen Zeugen standen unter schwerer psychischer Belastung. Die deutsche und internationale Presse war auf die Person Ilse Koch fokussiert, die immer mehr zur Verkörperung nationalsozialistischer Verbrechen stilisiert wurde. Am 15. Januar 1951 wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt.
Im abschießenden Teil „Leugnen“ werden die Entlastungs- und Legitimationsstrategien der deutschen Nachkriegsgesellschaft untersucht. Die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft forderte generell die Entlassung inhaftierter Massenmörder, allerdings nicht die Begnadigung von Ilse Koch. Deren Verurteilung diente somit auch der Entlastung der westdeutschen Gesamtgesellschaft. Die DDR prangerte die fehlende Ahnung der Verbrechen durch die westdeutsche Justiz und den Verbleib hoher NS-Funktionäre in öffentlichen Ämtern an, der eigenen Justizapparat agierte gleichzeitig immer mehr nach politischen Vorgaben.
Ilse Koch verbrachte die Jahre bis zu ihrem Selbstmord im Jahr 1967 im Frauengefängnis Aichach. Sie hatte bereits vor Gericht jegliche eigene Verantwortung geleugnet und sie gerierte sich auch in den darauffolgenden Jahren als unschuldiges Opfer einer Verschwörung. Unterstützung erhielt sie von ihren Kindern sowie von der 1951 gegründeten Organisation „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, die sich für verurteilte NS-Täter und deren Familien einsetzte. Die lange von der Öffentlichkeit unbeachtete Organisation wurde von ehemaligen SS-Führern getragen, aber auch von prominenten Geistlichen und herausragenden Vertretern von Staat und Gesellschaft wie Bundeskanzler Konrad Adenauer oder Albert Schweitzer unterstützt.
Es bleibt ein Erschrecken über das Ausmaß der Verstrickung der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft in die weiterhin wirkmächtige nationalsozialistische Ideologie, insbesondere den Antisemitismus nach 1945. Ein großer Teil der in ihren Ämtern verbliebenen oder zurückgekehrten Vertreter der Eliten, vor allem in Justiz, Bildung und Medizin und Medien, prägte mit ihrer Geisteshaltung auch die nachwachsende Generation.
Die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald bleiben leider, trotz der Würdigung des kommunistischen Widerstandes durch das deutsche Gericht, als
eine Gemeinschaft „gekennzeichnet von
einer Kultur des Misstrauens“ in Erinnerung.
Trotz der inzwischen mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegenden juristischen Ahndung der KZ-Verbrechen am Beispiel von Ilse Koch und der so unterschiedlichen politischen Gemengelage in Bayern und Thüringen ermöglicht die Analyse einen neuen, man kann sagen frischen und gewinnbringenden Blick auf ein Thema, von dem man dachte, dass es bereits gründlich erforscht wurde.
Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Das Bild von der
perversen Massenmörderin
verbreitete sich rasch
Bonn und Ost-Berlin
stritten sich, wo der Prozess
stattfinden sollte
Alexandra Przyrembel:
Im Bann des Bösen.
Ilse Koch – ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933 bis 1970.
S. Fischer-Verlage,
Frankfurt 2023.
423 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 24,99 Euro.
Alle Augen auf die „Hexe“ und das „Biest“: Ilse Koch 1947 vor dem Militärtribunal in Dachau.
Foto: AP
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Dass Alexandra Przyrembel in ihrem Buch über die NS-Täterin Ilse Koch eine weibliche Biographie in den Fokus nimmt, interessiert Rezensentin Melanie Longerich besonders. Die Autorin beleuchtet hier den Werdegang Kochs, lesen wir, und versucht gleichzeitig die Mechanismen aufzudecken, die nach dem Krieg zur Entstehung des Mythos von der "Ikone des Bösen" beitrugen. Als Gattin des SS-Führers Karl Koch erlebte sie im KZ-Buchenwald einen rapiden gesellschaftlichen Aufstieg, lesen wir. Aus den Vernehmungsprotokollen Überlebender entnimmt die Autorin, dass Koch in den "Gewaltraum des Konzentrationslagers" durchaus eingebunden war. Ohne Kochs Taten zu relativieren, zeigt die Autorin auf, dass während des späteren Prozesses gegen sie, teilweise misogyne Narrative aufgegriffen wurden und nie nachgewiesene Legenden in Umlauf kamen, die eine Dämonisierung und Stilisierung Kochs zum absoluten Bösen befeuerten - der Rest der deutschen Gesellschaft nahm dies dankbar auf, man hatte ein "Ventil" gefunden, die eigene Verantwortung zu leugnen, zu personalisieren, erklärt Longerich. Przyrembel legt hier weit mehr vor als eine Biographie, urteilt Longerich, sondern analysiert "deutsche Gesellschaftsgeschichte".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.05.2023Bizarres
aus Buchenwald
Ilse Koch, die Frau eines KZ-Kommandanten,
wurde nach dem Krieg gern als Personifikation
des Bösen vorgeführt. Alexandra Przyrembel zeigt,
wie dies der Selbstentlastung der jungen BRD diente
VON BARBARA DISTEL
Der Anteil von Frauen unter den Angeklagten wegen NS-Verbrechen macht nur fünf Prozent aus, und das Bild der „unpolitischen“ Frauen, die ihr Privatleben von ihrer Rolle und ihrem Handeln im NS-Alltag trennten, blieb lange Zeit vorherrschend. Auch aus diesem Grund fokussieren sich Darstellungen über Frauen in der NS-Diktatur oft auf berühmte Einzelfälle wie Ilse Koch, die Frau des Kommandanten des KZ Buchenwald. Der Titel „Im Bann des Bösen“ eines eben erschienenen Buches über den Fall wirkt abschreckend, denn er evoziert unmittelbar die noch immer in sozialen Medien kursierenden sensationslüsternen Filme und Texte über die „Hexe von Buchenwald“. Und man fragt sich, welche Leserschaft der renommierte S.-Fischer-Verlag dabei im Auge hatte.
Lässt man sich jedoch auf die umfangreiche Studie der Historikerin Alexandra Przyrembel ein, so erfährt man am Beispiel der Geschichte des Lebens und der strafrechtlichen Verfolgung der Ilse Koch viel über die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen durch alliierte Kriegsverbrechertribunale und die deutsche Nachkriegsjustiz in ihrer frühen Phase.
Die in vier chronologisch aufeinanderfolgende „Teile“ gegliederte Arbeit beginnt unter dem Begriff „Peinigen“ mit dem Werdegang der Ilse Koch. Dort wird der Weg der 1906 Geborenen (und 1932 in die NSDAP Eingetretenen) von der durch die SS bis ins Detail reglementierten Eheschließung mit Karl Otto Koch, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald (1937 – 1941), bis zur Befreiung des Konzentrationslagers im April 1945 nachgezeichnet.
In der Villa des Lagerkommandanten in der SS-Siedlung erlebte Ilse Koch einen enormen gesellschaftlichen Aufstieg, der ihr ein Leben im Luxus ermöglichte. Die Privilegien reichten vom Besitz eigener Reitpferde und vielfältigen Dienstleistungen durch die Häftlingssklaven bis zu Bestechungsgeschenken aller Art durch Vertreter des Lagers und öffentlicher Institutionen. Sie brachte drei Kinder zur Welt und inszenierte während dieser Jahre das Bild einer idyllischen SS-Familie, bei der die Verbrechen an den Gefangenen des Konzentrationslagers ausgeblendet blieben.
Obwohl sie keine offizielle Funktion bekleidete und das Häftlingslager nicht betreten durfte, spielte sie für die Gefangenen eine vielfach bezeugte unheilvolle Rolle. Sie veranlasste SS-Bewacher zu Gewalttaten gegen Häftlinge, die ihr missfielen, sodass sich ihr Ruf als böser Geist des Lagers innerhalb der Häftlingsgesellschaft schnell verbreitete. Gerüchte über die unbegrenzte Macht der „Kommandeuse“ erhielten zusätzlich Nahrung durch ein Projekt der pathologischen Abteilung in Buchenwald, bei dem Stücke tätowierter Haut von toten Gefangenen präpariert wurden. Ilse Koch wurde beschuldigt, gezielt Tötungen von Häftlingen mit Tätowierungen veranlasst zu haben, um in den Besitz von Alltagsgegenständen aus tätowierter menschlicher Haut wie Lampenschirm, Handtasche oder Fotoalbum zu gelangen. Diese Vorwürfe konnten später nicht belegt werden.
Der zweite Teil „Konfrontationen“ beginnt mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur am Beispiel der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 durch Einheiten der US-Armee. Von Anfang an wurde vor allem in der US-Presse ein Bild der Ilse Koch als perverse und nymphomanische Massenmörderin verbreitet, das im Laufe der Jahre immer groteskere Formen annahm.
Ilse Koch wurde von einem überlebenden Häftling erkannt und im Juni 1945 bei ihrer Schwägerin in Ludwigsburg verhaftet. Am 11. April 1947 begann der US-Militärgerichtsprozess in Dachau gegen Ilse Koch und 30 weitere Angeklagte nach angelsächsischem Prozessrecht. Sie wurde am 14. August 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt. Da sie während ihrer Inhaftierung schwanger geworden war, konnte sie nicht zum Tode verurteilt werden.
1948 entschied der für die Bestätigung des Urteils verantwortliche US-Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, das Strafmaß für Koch rückwirkend auf vier Jahre zu beschränken, da er das Urteil für übertrieben hielt. Dieser Beschluss löste einen internationalen Skandal aus, der zur Einberufung eines Untersuchungsausschusses durch den US-Senat führte. Der gesamte Prozess wurde erneut aufgerollt. Vor allem die Skandalisierung der Person Ilse Kochs als Personifizierung des Bösen verschärfte den öffentlichen Protest gegen die Revision des Urteils.
Im dritten Teil „Verantworten“ wird der Blick auf den zweiten Prozess gegen Ilse Koch vor einem westdeutschen Gericht gerichtet und die unterschiedliche Sichtweise der beteiligten Personen und Institutionen beleuchtet. Mit Gründung der beiden deutschen Staaten verschärfte sich der Ost-West-Konflikt und führte in diesem Fall zu einem erbitterten Kampf um den Ort des Verfahrens, Augsburg im Westen oder Weimar im Osten. Die politische Führung der DDR versuchte zusammen mit Vertretern der Justiz und den im Buchenwald-Komitees organisierten KZ-Überlebenden mit allen Mitteln, das Verfahren vor ein DDR-Gericht zu bekommen. Ein anfänglicher Aufruf an die KZ-Überlebenden, einen westdeutschen Prozess zu boykottieren, wurde nach Protesten von ehemaligen Buchenwald-Häftlingen in westlichen Ländern revidiert. Die Gemeinschaft der Überlebenden des KZ Buchenwald wurde in die Grabenkämpfe des Kalten Krieges verstrickt, was eine bereits bestehende Spaltung vertiefte.
Das Schwurgerichtserfahren in Augsburg wurde jedoch im Spannungsfeld unterschiedlicher Zielsetzungen korrekt durchgeführt. Die Verteidigung war von Anfang an bemüht, das Gericht zu diskreditieren. Zeugenaussagen von Überlebenden, die in der DDR lebten, konnten nur schriftlich verlesen werden, und die vorgeladenen Zeugen standen unter schwerer psychischer Belastung. Die deutsche und internationale Presse war auf die Person Ilse Koch fokussiert, die immer mehr zur Verkörperung nationalsozialistischer Verbrechen stilisiert wurde. Am 15. Januar 1951 wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt.
Im abschießenden Teil „Leugnen“ werden die Entlastungs- und Legitimationsstrategien der deutschen Nachkriegsgesellschaft untersucht. Die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft forderte generell die Entlassung inhaftierter Massenmörder, allerdings nicht die Begnadigung von Ilse Koch. Deren Verurteilung diente somit auch der Entlastung der westdeutschen Gesamtgesellschaft. Die DDR prangerte die fehlende Ahnung der Verbrechen durch die westdeutsche Justiz und den Verbleib hoher NS-Funktionäre in öffentlichen Ämtern an, der eigenen Justizapparat agierte gleichzeitig immer mehr nach politischen Vorgaben.
Ilse Koch verbrachte die Jahre bis zu ihrem Selbstmord im Jahr 1967 im Frauengefängnis Aichach. Sie hatte bereits vor Gericht jegliche eigene Verantwortung geleugnet und sie gerierte sich auch in den darauffolgenden Jahren als unschuldiges Opfer einer Verschwörung. Unterstützung erhielt sie von ihren Kindern sowie von der 1951 gegründeten Organisation „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, die sich für verurteilte NS-Täter und deren Familien einsetzte. Die lange von der Öffentlichkeit unbeachtete Organisation wurde von ehemaligen SS-Führern getragen, aber auch von prominenten Geistlichen und herausragenden Vertretern von Staat und Gesellschaft wie Bundeskanzler Konrad Adenauer oder Albert Schweitzer unterstützt.
Es bleibt ein Erschrecken über das Ausmaß der Verstrickung der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft in die weiterhin wirkmächtige nationalsozialistische Ideologie, insbesondere den Antisemitismus nach 1945. Ein großer Teil der in ihren Ämtern verbliebenen oder zurückgekehrten Vertreter der Eliten, vor allem in Justiz, Bildung und Medizin und Medien, prägte mit ihrer Geisteshaltung auch die nachwachsende Generation.
Die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald bleiben leider, trotz der Würdigung des kommunistischen Widerstandes durch das deutsche Gericht, als
eine Gemeinschaft „gekennzeichnet von
einer Kultur des Misstrauens“ in Erinnerung.
Trotz der inzwischen mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegenden juristischen Ahndung der KZ-Verbrechen am Beispiel von Ilse Koch und der so unterschiedlichen politischen Gemengelage in Bayern und Thüringen ermöglicht die Analyse einen neuen, man kann sagen frischen und gewinnbringenden Blick auf ein Thema, von dem man dachte, dass es bereits gründlich erforscht wurde.
Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Das Bild von der
perversen Massenmörderin
verbreitete sich rasch
Bonn und Ost-Berlin
stritten sich, wo der Prozess
stattfinden sollte
Alexandra Przyrembel:
Im Bann des Bösen.
Ilse Koch – ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933 bis 1970.
S. Fischer-Verlage,
Frankfurt 2023.
423 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 24,99 Euro.
Alle Augen auf die „Hexe“ und das „Biest“: Ilse Koch 1947 vor dem Militärtribunal in Dachau.
Foto: AP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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aus Buchenwald
Ilse Koch, die Frau eines KZ-Kommandanten,
wurde nach dem Krieg gern als Personifikation
des Bösen vorgeführt. Alexandra Przyrembel zeigt,
wie dies der Selbstentlastung der jungen BRD diente
VON BARBARA DISTEL
Der Anteil von Frauen unter den Angeklagten wegen NS-Verbrechen macht nur fünf Prozent aus, und das Bild der „unpolitischen“ Frauen, die ihr Privatleben von ihrer Rolle und ihrem Handeln im NS-Alltag trennten, blieb lange Zeit vorherrschend. Auch aus diesem Grund fokussieren sich Darstellungen über Frauen in der NS-Diktatur oft auf berühmte Einzelfälle wie Ilse Koch, die Frau des Kommandanten des KZ Buchenwald. Der Titel „Im Bann des Bösen“ eines eben erschienenen Buches über den Fall wirkt abschreckend, denn er evoziert unmittelbar die noch immer in sozialen Medien kursierenden sensationslüsternen Filme und Texte über die „Hexe von Buchenwald“. Und man fragt sich, welche Leserschaft der renommierte S.-Fischer-Verlag dabei im Auge hatte.
Lässt man sich jedoch auf die umfangreiche Studie der Historikerin Alexandra Przyrembel ein, so erfährt man am Beispiel der Geschichte des Lebens und der strafrechtlichen Verfolgung der Ilse Koch viel über die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen durch alliierte Kriegsverbrechertribunale und die deutsche Nachkriegsjustiz in ihrer frühen Phase.
Die in vier chronologisch aufeinanderfolgende „Teile“ gegliederte Arbeit beginnt unter dem Begriff „Peinigen“ mit dem Werdegang der Ilse Koch. Dort wird der Weg der 1906 Geborenen (und 1932 in die NSDAP Eingetretenen) von der durch die SS bis ins Detail reglementierten Eheschließung mit Karl Otto Koch, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald (1937 – 1941), bis zur Befreiung des Konzentrationslagers im April 1945 nachgezeichnet.
In der Villa des Lagerkommandanten in der SS-Siedlung erlebte Ilse Koch einen enormen gesellschaftlichen Aufstieg, der ihr ein Leben im Luxus ermöglichte. Die Privilegien reichten vom Besitz eigener Reitpferde und vielfältigen Dienstleistungen durch die Häftlingssklaven bis zu Bestechungsgeschenken aller Art durch Vertreter des Lagers und öffentlicher Institutionen. Sie brachte drei Kinder zur Welt und inszenierte während dieser Jahre das Bild einer idyllischen SS-Familie, bei der die Verbrechen an den Gefangenen des Konzentrationslagers ausgeblendet blieben.
Obwohl sie keine offizielle Funktion bekleidete und das Häftlingslager nicht betreten durfte, spielte sie für die Gefangenen eine vielfach bezeugte unheilvolle Rolle. Sie veranlasste SS-Bewacher zu Gewalttaten gegen Häftlinge, die ihr missfielen, sodass sich ihr Ruf als böser Geist des Lagers innerhalb der Häftlingsgesellschaft schnell verbreitete. Gerüchte über die unbegrenzte Macht der „Kommandeuse“ erhielten zusätzlich Nahrung durch ein Projekt der pathologischen Abteilung in Buchenwald, bei dem Stücke tätowierter Haut von toten Gefangenen präpariert wurden. Ilse Koch wurde beschuldigt, gezielt Tötungen von Häftlingen mit Tätowierungen veranlasst zu haben, um in den Besitz von Alltagsgegenständen aus tätowierter menschlicher Haut wie Lampenschirm, Handtasche oder Fotoalbum zu gelangen. Diese Vorwürfe konnten später nicht belegt werden.
Der zweite Teil „Konfrontationen“ beginnt mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur am Beispiel der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 durch Einheiten der US-Armee. Von Anfang an wurde vor allem in der US-Presse ein Bild der Ilse Koch als perverse und nymphomanische Massenmörderin verbreitet, das im Laufe der Jahre immer groteskere Formen annahm.
Ilse Koch wurde von einem überlebenden Häftling erkannt und im Juni 1945 bei ihrer Schwägerin in Ludwigsburg verhaftet. Am 11. April 1947 begann der US-Militärgerichtsprozess in Dachau gegen Ilse Koch und 30 weitere Angeklagte nach angelsächsischem Prozessrecht. Sie wurde am 14. August 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt. Da sie während ihrer Inhaftierung schwanger geworden war, konnte sie nicht zum Tode verurteilt werden.
1948 entschied der für die Bestätigung des Urteils verantwortliche US-Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, das Strafmaß für Koch rückwirkend auf vier Jahre zu beschränken, da er das Urteil für übertrieben hielt. Dieser Beschluss löste einen internationalen Skandal aus, der zur Einberufung eines Untersuchungsausschusses durch den US-Senat führte. Der gesamte Prozess wurde erneut aufgerollt. Vor allem die Skandalisierung der Person Ilse Kochs als Personifizierung des Bösen verschärfte den öffentlichen Protest gegen die Revision des Urteils.
Im dritten Teil „Verantworten“ wird der Blick auf den zweiten Prozess gegen Ilse Koch vor einem westdeutschen Gericht gerichtet und die unterschiedliche Sichtweise der beteiligten Personen und Institutionen beleuchtet. Mit Gründung der beiden deutschen Staaten verschärfte sich der Ost-West-Konflikt und führte in diesem Fall zu einem erbitterten Kampf um den Ort des Verfahrens, Augsburg im Westen oder Weimar im Osten. Die politische Führung der DDR versuchte zusammen mit Vertretern der Justiz und den im Buchenwald-Komitees organisierten KZ-Überlebenden mit allen Mitteln, das Verfahren vor ein DDR-Gericht zu bekommen. Ein anfänglicher Aufruf an die KZ-Überlebenden, einen westdeutschen Prozess zu boykottieren, wurde nach Protesten von ehemaligen Buchenwald-Häftlingen in westlichen Ländern revidiert. Die Gemeinschaft der Überlebenden des KZ Buchenwald wurde in die Grabenkämpfe des Kalten Krieges verstrickt, was eine bereits bestehende Spaltung vertiefte.
Das Schwurgerichtserfahren in Augsburg wurde jedoch im Spannungsfeld unterschiedlicher Zielsetzungen korrekt durchgeführt. Die Verteidigung war von Anfang an bemüht, das Gericht zu diskreditieren. Zeugenaussagen von Überlebenden, die in der DDR lebten, konnten nur schriftlich verlesen werden, und die vorgeladenen Zeugen standen unter schwerer psychischer Belastung. Die deutsche und internationale Presse war auf die Person Ilse Koch fokussiert, die immer mehr zur Verkörperung nationalsozialistischer Verbrechen stilisiert wurde. Am 15. Januar 1951 wurde sie zu lebenslanger Haft verurteilt.
Im abschießenden Teil „Leugnen“ werden die Entlastungs- und Legitimationsstrategien der deutschen Nachkriegsgesellschaft untersucht. Die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft forderte generell die Entlassung inhaftierter Massenmörder, allerdings nicht die Begnadigung von Ilse Koch. Deren Verurteilung diente somit auch der Entlastung der westdeutschen Gesamtgesellschaft. Die DDR prangerte die fehlende Ahnung der Verbrechen durch die westdeutsche Justiz und den Verbleib hoher NS-Funktionäre in öffentlichen Ämtern an, der eigenen Justizapparat agierte gleichzeitig immer mehr nach politischen Vorgaben.
Ilse Koch verbrachte die Jahre bis zu ihrem Selbstmord im Jahr 1967 im Frauengefängnis Aichach. Sie hatte bereits vor Gericht jegliche eigene Verantwortung geleugnet und sie gerierte sich auch in den darauffolgenden Jahren als unschuldiges Opfer einer Verschwörung. Unterstützung erhielt sie von ihren Kindern sowie von der 1951 gegründeten Organisation „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, die sich für verurteilte NS-Täter und deren Familien einsetzte. Die lange von der Öffentlichkeit unbeachtete Organisation wurde von ehemaligen SS-Führern getragen, aber auch von prominenten Geistlichen und herausragenden Vertretern von Staat und Gesellschaft wie Bundeskanzler Konrad Adenauer oder Albert Schweitzer unterstützt.
Es bleibt ein Erschrecken über das Ausmaß der Verstrickung der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft in die weiterhin wirkmächtige nationalsozialistische Ideologie, insbesondere den Antisemitismus nach 1945. Ein großer Teil der in ihren Ämtern verbliebenen oder zurückgekehrten Vertreter der Eliten, vor allem in Justiz, Bildung und Medizin und Medien, prägte mit ihrer Geisteshaltung auch die nachwachsende Generation.
Die Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald bleiben leider, trotz der Würdigung des kommunistischen Widerstandes durch das deutsche Gericht, als
eine Gemeinschaft „gekennzeichnet von
einer Kultur des Misstrauens“ in Erinnerung.
Trotz der inzwischen mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegenden juristischen Ahndung der KZ-Verbrechen am Beispiel von Ilse Koch und der so unterschiedlichen politischen Gemengelage in Bayern und Thüringen ermöglicht die Analyse einen neuen, man kann sagen frischen und gewinnbringenden Blick auf ein Thema, von dem man dachte, dass es bereits gründlich erforscht wurde.
Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Das Bild von der
perversen Massenmörderin
verbreitete sich rasch
Bonn und Ost-Berlin
stritten sich, wo der Prozess
stattfinden sollte
Alexandra Przyrembel:
Im Bann des Bösen.
Ilse Koch – ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933 bis 1970.
S. Fischer-Verlage,
Frankfurt 2023.
423 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 24,99 Euro.
Alle Augen auf die „Hexe“ und das „Biest“: Ilse Koch 1947 vor dem Militärtribunal in Dachau.
Foto: AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2023Ein böser Geist des Konzentrationslagers
Frau des Kommandanten von Buchenwald und Täterin: Alexandra Przyrembel zeichnet Leben und öffentliches Bild von Ilse Koch nach
Bereits 1944 wies Ruth Kempner zusammen mit ihrem Mann Robert, einem der Hauptankläger der Nürnberger Prozesse, auf das "ernste Problem" der SS-Frauen hin. Im Gegensatz zu dieser frühen Thematisierung habe sich die Geschichtswissenschaft, so die Eingangsprämisse von Alexandra Przyrembels Buch "Im Bann des Bösen", SS-Ehefrauen und SS-Aufseherinnen nur zögerlich angenommen. Die moralische Beurteilung, bei ihnen habe es sich um eine "bemerkenswert brutale und machtbesessene Minderheit" gehandelt, habe eine differenzierte Auseinandersetzung erschwert. Genau dazu möchte die vorliegende Studie einladen und es zugleich nicht dabei bewenden lassen.
Im ersten Teil "Peinigen" rekonstruiert die Autorin die Spezifika der Täterschaft von Ilse Koch als Ehefrau des Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald zwischen 1937 und 1943. In den anschließenden drei Teilen "Konfrontieren", "Entscheiden" und "Leugnen" analysiert Przyrembel, wie Ilse Koch zum Symbol für die nationalsozialistische Gewalt in den Vereinigten Staaten und den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften wurde und welche Auswirkungen das auf die Konzeption von Schuld und Verantwortung hatte.
Koch, 1906 als Ilse Köhler in bescheidenem Milieu in Dresden geboren, trat im Mai 1932 in die NSDAP ein. Zwei Jahre später lernte sie den SS-Führer Karl Koch kennen, im Sommer 1937 heiratete das Paar auf dem Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausen, dessen Kommandantur Karl Koch ab 1936 innehatte. Przyrembel wertet die Eheschließung innerhalb des "Eliteordens" der SS als Radikalisierung und Karriereschritt, der Ilse Koch ein Leben in bisher ungekanntem Wohlstand, mit Pelzmänteln, Autos und zwangsarbeitendem Personal in der burgenhaften Kommandantenvilla der SS-Führersiedlung ermöglicht habe.
Obwohl Ilse Koch, anders als SS-Aufseherinnen in Frauenkonzentrationslagern, keine offizielle Funktion innehatte, habe sie den Lageralltag geprägt. Koch habe in beliebigen Situationen die Nummern von Häftlingen erfragt und weitergereicht, etwa wenn diese eine Zigarette aufgehoben, sie selbst angeblich angeschaut oder zu langsam gearbeitet hätten, was jeweils grausamste Bestrafungen durch die SS-Wachmannschaften zur Folge gehabt habe.
In den Außenbereichen des Lagers habe Koch persönlich mit einer Reitpeitsche zugeschlagen. Häftlinge hätten übereinstimmend von der für sie überlebenswichtigen Notwendigkeit berichtet, nicht in die Aufmerksamkeit von Ilse Koch zu gelangen. Noch innerhalb der Häftlingsgemeinschaft des Konzentrationslagers sei Koch zu einer mythischen Figur geworden, zu einem omnipotenten "böse[n] Geist des Lagers".
Im August 1943 wurde das Ehepaar Koch wegen der Veruntreuung von Geldern verhaftet und von der SS-Gerichtsbarkeit angeklagt. Karl wurde wegen Korruption und Mord an Belastungszeugen zum Tode verurteilt und im April 1945 im Konzentrationslager Buchenwald hingerichtet; Ilse wurde nach 16 Monaten Untersuchungshaft in Weimar freigesprochen und ging zu Verwandten nach Ludwigsburg. Dort wurde sie im Juni 1945 von der amerikanischen Armee als mutmaßliche Kriegsverbrecherin inhaftiert. Im August 1947 verurteilte sie die amerikanische Militärjustiz im Dachauer Buchenwald-Hauptprozess zu lebenslanger Haft.
Aufgrund umfangreicher Medienberichterstattung habe das Bild einer sadistischen Exzesstäterin in dieser Zeit weiter an Kontur gewonnen, wofür der Vorwurf des Besitzes von Gegenständen aus menschlicher Haut zentral gewesen sei. Bei der Befreiung des Lagers habe die amerikanische Armee drei aus Medizinverbrechen stammende tätowierte Hautstücke gefunden. Przyrembel rekonstruiert, dass die Pathologie des Konzentrationslagers über zahlreiche tätowierte Häute verfügt habe, für die mutmaßlich Häftlinge mit Tätowierungen gezielt getötet worden seien, dass Ilse Koch jedoch "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit" entgegen der unzähligen anderslautenden Berichte keine Objekte aus Menschenhaut besessen habe.
1948 setzte die amerikanische Militärjustiz Kochs Strafe auf vier Jahre herab, was einen Proteststurm losgetreten habe, weil Koch inzwischen als Beast, Bitch oder Witch of Buchenwald in der internationalen Presse etabliert gewesen sei. Ein daraufhin gebildeter Ausschuss des Senats forderte, Koch abermals vor ein deutsches Gericht zu bringen, weil sie ihre Taten freiwillig und ohne Bezahlung begangen habe und diese, weil sie eine Frau sei, als "unnatürlich und eher gewollt" einzuordnen seien.
Die bayerische Staatsregierung folgte diesem Auftrag und erhob 1949 vor dem Landgericht Augsburg Anklage, die Anfang 1951 in eine erneute Verurteilung zu lebenslanger Haft, im Wesentlichen wegen nachgewiesener Anstiftung zum Mord, mündete. Dass der eigentlich für Weimar vorgesehene Prozess in Augsburg stattfand, führte zu einem ostdeutschen Boykott samt Ausreiseverbot für die ehemaligen kommunistischen Häftlinge des Lagers, weil auch die DDR den Prozess öffentlichkeitswirksam instrumentalisieren wollte.
Przyrembel zeigt, wie Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit Kochs Schuld begründeten. "Regungen des Mitleids" hätten, so das Gericht, für eine Frau besonders nahe gelegen; es wäre für sie "als Frau ein leichtes" gewesen, "sich aus dem KL-Geschehen völlig fernzuhalten und gleich den anderen Frauen nur in und mit ihrer Familie zu leben". Ferner sei Kochs Sexualität für die geschlechtsspezifische Täterkonstruktion benutzt worden, indem ihr unterstellte Affären als zusätzlicher Charaktermangel und ihre Gewaltausübung als sexuelle Pathologie interpretiert worden seien.
In dem Maße, in dem die umfangreiche Berichterstattung Koch zum Trugbild des absolut Bösen gemacht habe, sei die öffentliche Aufarbeitung des Falls einer Reinigung der "anständigen Deutschen" gleichgekommen, so die plausible, aber wenig überraschende These des Buches. 1967 nahm sich Ilse Koch in der Frauenvollzugsanstalt Aichach das Leben.
Ein größerer Mehrwert ist der konsequent geschlechtergeschichtliche Blick. Er förderte zutage, dass Kochs Handeln nur deshalb zu einer juristischen Aufarbeitung zur Zeit großer Entlassungswellen anderer inhaftierter Kriegsverbrecher führte, weil sie sich außerhalb dessen bewegt hatte, was für eine Frau als normal galt. Zudem lehrt die elegante Selbstverständlichkeit, mit der Przyrembel den Bogen über 1945 hinweg führt, wie sehr die "eigentliche" Geschichte stets mit den Schichten ihrer späteren Rezeption verwoben ist. Die Studie kombiniert umfangreiches Kontextwissen mit präziser historischer Rekonstruktion, was sie für die geschichtswissenschaftliche Lehre empfiehlt. Die Kehrseite dieser Darstellungsweise ist, dass es mitunter etwas Geduld braucht, bis die Autorin zur Thesenbildung zurückkehrt.
"Im Bann des Bösen" nimmt unüberhörbar Anklang an Hannah Arendts bekanntes Diktum der "Banalität des Bösen", mit dem sie ihren Bericht über den 1961 in Jerusalem geführten Prozess gegen Adolf Eichmann untertitelte. Es erscheint fruchtbar, Bann und Banalität nicht nur phonetisch zusammenzubringen. Zu fragen wäre, inwiefern der Gegenwind, der Arendt von Kritikern entgegenschlug, die die Banalität des "Verwaltungsmassenmords" verharmlosend deuteten, mit der in den Sechzigerjahren bereits zwei Jahrzehnte international eingeübten Sichtweise auf NS-Täter als singuläre Bestien zusammenhing. Alexandra Przyrembel leistet mit ihrem Buch einen Beitrag, der Rolle des Bösen in diesen verschiedenen Schichten der Historisierung der NS-Verbrechen näherzukommen. VERONIKA SETTELE
Alexandra Przyrembel: "Im Bann des Bösen". Ilse Koch - ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933-1970.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 432 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frau des Kommandanten von Buchenwald und Täterin: Alexandra Przyrembel zeichnet Leben und öffentliches Bild von Ilse Koch nach
Bereits 1944 wies Ruth Kempner zusammen mit ihrem Mann Robert, einem der Hauptankläger der Nürnberger Prozesse, auf das "ernste Problem" der SS-Frauen hin. Im Gegensatz zu dieser frühen Thematisierung habe sich die Geschichtswissenschaft, so die Eingangsprämisse von Alexandra Przyrembels Buch "Im Bann des Bösen", SS-Ehefrauen und SS-Aufseherinnen nur zögerlich angenommen. Die moralische Beurteilung, bei ihnen habe es sich um eine "bemerkenswert brutale und machtbesessene Minderheit" gehandelt, habe eine differenzierte Auseinandersetzung erschwert. Genau dazu möchte die vorliegende Studie einladen und es zugleich nicht dabei bewenden lassen.
Im ersten Teil "Peinigen" rekonstruiert die Autorin die Spezifika der Täterschaft von Ilse Koch als Ehefrau des Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald zwischen 1937 und 1943. In den anschließenden drei Teilen "Konfrontieren", "Entscheiden" und "Leugnen" analysiert Przyrembel, wie Ilse Koch zum Symbol für die nationalsozialistische Gewalt in den Vereinigten Staaten und den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften wurde und welche Auswirkungen das auf die Konzeption von Schuld und Verantwortung hatte.
Koch, 1906 als Ilse Köhler in bescheidenem Milieu in Dresden geboren, trat im Mai 1932 in die NSDAP ein. Zwei Jahre später lernte sie den SS-Führer Karl Koch kennen, im Sommer 1937 heiratete das Paar auf dem Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausen, dessen Kommandantur Karl Koch ab 1936 innehatte. Przyrembel wertet die Eheschließung innerhalb des "Eliteordens" der SS als Radikalisierung und Karriereschritt, der Ilse Koch ein Leben in bisher ungekanntem Wohlstand, mit Pelzmänteln, Autos und zwangsarbeitendem Personal in der burgenhaften Kommandantenvilla der SS-Führersiedlung ermöglicht habe.
Obwohl Ilse Koch, anders als SS-Aufseherinnen in Frauenkonzentrationslagern, keine offizielle Funktion innehatte, habe sie den Lageralltag geprägt. Koch habe in beliebigen Situationen die Nummern von Häftlingen erfragt und weitergereicht, etwa wenn diese eine Zigarette aufgehoben, sie selbst angeblich angeschaut oder zu langsam gearbeitet hätten, was jeweils grausamste Bestrafungen durch die SS-Wachmannschaften zur Folge gehabt habe.
In den Außenbereichen des Lagers habe Koch persönlich mit einer Reitpeitsche zugeschlagen. Häftlinge hätten übereinstimmend von der für sie überlebenswichtigen Notwendigkeit berichtet, nicht in die Aufmerksamkeit von Ilse Koch zu gelangen. Noch innerhalb der Häftlingsgemeinschaft des Konzentrationslagers sei Koch zu einer mythischen Figur geworden, zu einem omnipotenten "böse[n] Geist des Lagers".
Im August 1943 wurde das Ehepaar Koch wegen der Veruntreuung von Geldern verhaftet und von der SS-Gerichtsbarkeit angeklagt. Karl wurde wegen Korruption und Mord an Belastungszeugen zum Tode verurteilt und im April 1945 im Konzentrationslager Buchenwald hingerichtet; Ilse wurde nach 16 Monaten Untersuchungshaft in Weimar freigesprochen und ging zu Verwandten nach Ludwigsburg. Dort wurde sie im Juni 1945 von der amerikanischen Armee als mutmaßliche Kriegsverbrecherin inhaftiert. Im August 1947 verurteilte sie die amerikanische Militärjustiz im Dachauer Buchenwald-Hauptprozess zu lebenslanger Haft.
Aufgrund umfangreicher Medienberichterstattung habe das Bild einer sadistischen Exzesstäterin in dieser Zeit weiter an Kontur gewonnen, wofür der Vorwurf des Besitzes von Gegenständen aus menschlicher Haut zentral gewesen sei. Bei der Befreiung des Lagers habe die amerikanische Armee drei aus Medizinverbrechen stammende tätowierte Hautstücke gefunden. Przyrembel rekonstruiert, dass die Pathologie des Konzentrationslagers über zahlreiche tätowierte Häute verfügt habe, für die mutmaßlich Häftlinge mit Tätowierungen gezielt getötet worden seien, dass Ilse Koch jedoch "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit" entgegen der unzähligen anderslautenden Berichte keine Objekte aus Menschenhaut besessen habe.
1948 setzte die amerikanische Militärjustiz Kochs Strafe auf vier Jahre herab, was einen Proteststurm losgetreten habe, weil Koch inzwischen als Beast, Bitch oder Witch of Buchenwald in der internationalen Presse etabliert gewesen sei. Ein daraufhin gebildeter Ausschuss des Senats forderte, Koch abermals vor ein deutsches Gericht zu bringen, weil sie ihre Taten freiwillig und ohne Bezahlung begangen habe und diese, weil sie eine Frau sei, als "unnatürlich und eher gewollt" einzuordnen seien.
Die bayerische Staatsregierung folgte diesem Auftrag und erhob 1949 vor dem Landgericht Augsburg Anklage, die Anfang 1951 in eine erneute Verurteilung zu lebenslanger Haft, im Wesentlichen wegen nachgewiesener Anstiftung zum Mord, mündete. Dass der eigentlich für Weimar vorgesehene Prozess in Augsburg stattfand, führte zu einem ostdeutschen Boykott samt Ausreiseverbot für die ehemaligen kommunistischen Häftlinge des Lagers, weil auch die DDR den Prozess öffentlichkeitswirksam instrumentalisieren wollte.
Przyrembel zeigt, wie Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit Kochs Schuld begründeten. "Regungen des Mitleids" hätten, so das Gericht, für eine Frau besonders nahe gelegen; es wäre für sie "als Frau ein leichtes" gewesen, "sich aus dem KL-Geschehen völlig fernzuhalten und gleich den anderen Frauen nur in und mit ihrer Familie zu leben". Ferner sei Kochs Sexualität für die geschlechtsspezifische Täterkonstruktion benutzt worden, indem ihr unterstellte Affären als zusätzlicher Charaktermangel und ihre Gewaltausübung als sexuelle Pathologie interpretiert worden seien.
In dem Maße, in dem die umfangreiche Berichterstattung Koch zum Trugbild des absolut Bösen gemacht habe, sei die öffentliche Aufarbeitung des Falls einer Reinigung der "anständigen Deutschen" gleichgekommen, so die plausible, aber wenig überraschende These des Buches. 1967 nahm sich Ilse Koch in der Frauenvollzugsanstalt Aichach das Leben.
Ein größerer Mehrwert ist der konsequent geschlechtergeschichtliche Blick. Er förderte zutage, dass Kochs Handeln nur deshalb zu einer juristischen Aufarbeitung zur Zeit großer Entlassungswellen anderer inhaftierter Kriegsverbrecher führte, weil sie sich außerhalb dessen bewegt hatte, was für eine Frau als normal galt. Zudem lehrt die elegante Selbstverständlichkeit, mit der Przyrembel den Bogen über 1945 hinweg führt, wie sehr die "eigentliche" Geschichte stets mit den Schichten ihrer späteren Rezeption verwoben ist. Die Studie kombiniert umfangreiches Kontextwissen mit präziser historischer Rekonstruktion, was sie für die geschichtswissenschaftliche Lehre empfiehlt. Die Kehrseite dieser Darstellungsweise ist, dass es mitunter etwas Geduld braucht, bis die Autorin zur Thesenbildung zurückkehrt.
"Im Bann des Bösen" nimmt unüberhörbar Anklang an Hannah Arendts bekanntes Diktum der "Banalität des Bösen", mit dem sie ihren Bericht über den 1961 in Jerusalem geführten Prozess gegen Adolf Eichmann untertitelte. Es erscheint fruchtbar, Bann und Banalität nicht nur phonetisch zusammenzubringen. Zu fragen wäre, inwiefern der Gegenwind, der Arendt von Kritikern entgegenschlug, die die Banalität des "Verwaltungsmassenmords" verharmlosend deuteten, mit der in den Sechzigerjahren bereits zwei Jahrzehnte international eingeübten Sichtweise auf NS-Täter als singuläre Bestien zusammenhing. Alexandra Przyrembel leistet mit ihrem Buch einen Beitrag, der Rolle des Bösen in diesen verschiedenen Schichten der Historisierung der NS-Verbrechen näherzukommen. VERONIKA SETTELE
Alexandra Przyrembel: "Im Bann des Bösen". Ilse Koch - ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933-1970.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 432 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das lesenswerte Buch führt auf breiter Quellenbasis sicher durch die zahlreichen Windungen der Geschichte und verknüpft Justiz-, Medien- und Geschlechtergeschichte aufschlussreich miteinander. Sebastian Rojek DAMALS 20231214