Produktdetails
- Knaur Taschenbücher
- Verlag: Droemer/Knaur
- Seitenzahl: 300
- Abmessung: 190mm
- Gewicht: 225g
- ISBN-13: 9783426618851
- ISBN-10: 3426618850
- Artikelnr.: 09464401
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2000Verkehrtes Begräbnis
Melancholische Fundstücke eines passionierten Friedhofsbesuchers: Dietmar Grieser gibt den Toten ihr Leben zurück
Schon früh, er sagt es selbst, sei er ein "passionierter Friedhofsbesucher" gewesen. Diese autobiografisch, mit Krankheit und Sterben des Vaters begründete Leidenschaft sollte Folgen haben. Dietmar Grieser, der Spezialist für den Genius Loci und das Leben großer, wenn auch oft vergessener Persönlichkeiten, wendet sich nun den "ungewöhnlichen Todesfällen" zu. Wie man es von ihm erwarten darf, geht er auf seriöse Weise ans makrabe Werk - ein Totengräber mit umgekehrtem Vorzeichen: Er buddelte die Leichen sorgsam und pietätvoll wieder aus.
Am Anfang steht Goethes versoffener Lieblingsdiener, Carl Wilhelm Stadelmann. Bei der Einweihung des Frankfurter Goethe-Denkmals anno 1844 wird ihm "als letzte lebendige Reliquie des Dichter-Heros" gehuldigt. Doch nach Jena zurückgekehrt, betrinkt sich der getreue Exlakai ein letztes Mal und erhängt sich auf dem Dachboden. Am Schluss des Bandes sinkt Paavo Nurmi, der "König der Läufer", ins finnische Grab. Sein Ende wirkt freilich nur insofern ungewöhnlich, als der Jahrhundertsportler zuletzt als Schwerbehinderter dahinsiechte. Wie zum Hohn auf seine Weltkarriere muss der Multimillionär sich auf Krücken durchs Finale seiner Existenz schleppen. Dazwischen findet sich unter anderen ein Porträt des "Krötenküssers" Paul Kammerer.
Der österreichische Zoologe, der die "Vererbung erzwungener Fortpflanzungsanpassungen" verkündete, wurde als "zweiter Darwin" gefeiert und als Scharlatan angegriffen. Im September 1926, kurz vor der geplanten Übersiedlung nach Moskau, wo ein Lehrstuhl am Pawlow'schen Institut auf ihn wartete, erschoss sich Doktor Kammerer auf den Hängen der Schneebergregion.
Naturgemäß scheinen nicht alle verspäteten Nekrologe gleichermaßen gelungen zu sein. Die Fälle Wilhelm Reichs und Anton von Weberns sind aus der Sekundärliteratur zur Genüge bekannt, und hier vermag Grieser auch nichts Neues hinzuzufügen. Seine Meisterschaft zeigt sich hingegen bei jemandem, über dessen Todesumstände wir gleichfalls Bescheid wussten. Ödön von Horváth starb 1938 während eines Sturms auf den Champs-Elysées durch einen umstürzenden Kastanienbaum. Wie da aus zahlreichen Zeugnissen von Freunden und Bekannten eine spannende Schicksalsminiatur entsteht, verdient Respekt. Auch das traurige Los der Schauspielerin Ida Orloff - sie war Gerhart Hauptmanns Hannele und Pippa, wurde von ihm geliebt und verraten - kann der Autor bewegend darstellen. Als sowjetische Soldaten im April 1945 über das Wienerwalddorf Tullnerbach herfallen und die Frauen des Ortes zu vergewaltigen beginnen, nimmt die halbseitig Gelähmte eine Überdosis Veronal zu sich.
Dietmar Grieser hat mit seinem Buch keine "Ars Moriendi" bezweckt. Gleichwohl gilt auch für seine Sammlung der Melancholie Friedrich von Logaus alter Sinnspruch: "Tod ist ein langer Schlaf; Schlaf ist ein kurzer Tod. / Die Not, die lindert der, und jener tilgt die Not. // Der ärgste Tod ist der, der gar zu langsam tödtet; / Die ärgste Not ist die, die gar zu lange nöthet."
ULRICH WEINZIERL
Dietmar Grieser: "Im Dämmerlicht". Ungewöhnliche Todesfälle. Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten, Wien 1999. 258 S., Abb., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Melancholische Fundstücke eines passionierten Friedhofsbesuchers: Dietmar Grieser gibt den Toten ihr Leben zurück
Schon früh, er sagt es selbst, sei er ein "passionierter Friedhofsbesucher" gewesen. Diese autobiografisch, mit Krankheit und Sterben des Vaters begründete Leidenschaft sollte Folgen haben. Dietmar Grieser, der Spezialist für den Genius Loci und das Leben großer, wenn auch oft vergessener Persönlichkeiten, wendet sich nun den "ungewöhnlichen Todesfällen" zu. Wie man es von ihm erwarten darf, geht er auf seriöse Weise ans makrabe Werk - ein Totengräber mit umgekehrtem Vorzeichen: Er buddelte die Leichen sorgsam und pietätvoll wieder aus.
Am Anfang steht Goethes versoffener Lieblingsdiener, Carl Wilhelm Stadelmann. Bei der Einweihung des Frankfurter Goethe-Denkmals anno 1844 wird ihm "als letzte lebendige Reliquie des Dichter-Heros" gehuldigt. Doch nach Jena zurückgekehrt, betrinkt sich der getreue Exlakai ein letztes Mal und erhängt sich auf dem Dachboden. Am Schluss des Bandes sinkt Paavo Nurmi, der "König der Läufer", ins finnische Grab. Sein Ende wirkt freilich nur insofern ungewöhnlich, als der Jahrhundertsportler zuletzt als Schwerbehinderter dahinsiechte. Wie zum Hohn auf seine Weltkarriere muss der Multimillionär sich auf Krücken durchs Finale seiner Existenz schleppen. Dazwischen findet sich unter anderen ein Porträt des "Krötenküssers" Paul Kammerer.
Der österreichische Zoologe, der die "Vererbung erzwungener Fortpflanzungsanpassungen" verkündete, wurde als "zweiter Darwin" gefeiert und als Scharlatan angegriffen. Im September 1926, kurz vor der geplanten Übersiedlung nach Moskau, wo ein Lehrstuhl am Pawlow'schen Institut auf ihn wartete, erschoss sich Doktor Kammerer auf den Hängen der Schneebergregion.
Naturgemäß scheinen nicht alle verspäteten Nekrologe gleichermaßen gelungen zu sein. Die Fälle Wilhelm Reichs und Anton von Weberns sind aus der Sekundärliteratur zur Genüge bekannt, und hier vermag Grieser auch nichts Neues hinzuzufügen. Seine Meisterschaft zeigt sich hingegen bei jemandem, über dessen Todesumstände wir gleichfalls Bescheid wussten. Ödön von Horváth starb 1938 während eines Sturms auf den Champs-Elysées durch einen umstürzenden Kastanienbaum. Wie da aus zahlreichen Zeugnissen von Freunden und Bekannten eine spannende Schicksalsminiatur entsteht, verdient Respekt. Auch das traurige Los der Schauspielerin Ida Orloff - sie war Gerhart Hauptmanns Hannele und Pippa, wurde von ihm geliebt und verraten - kann der Autor bewegend darstellen. Als sowjetische Soldaten im April 1945 über das Wienerwalddorf Tullnerbach herfallen und die Frauen des Ortes zu vergewaltigen beginnen, nimmt die halbseitig Gelähmte eine Überdosis Veronal zu sich.
Dietmar Grieser hat mit seinem Buch keine "Ars Moriendi" bezweckt. Gleichwohl gilt auch für seine Sammlung der Melancholie Friedrich von Logaus alter Sinnspruch: "Tod ist ein langer Schlaf; Schlaf ist ein kurzer Tod. / Die Not, die lindert der, und jener tilgt die Not. // Der ärgste Tod ist der, der gar zu langsam tödtet; / Die ärgste Not ist die, die gar zu lange nöthet."
ULRICH WEINZIERL
Dietmar Grieser: "Im Dämmerlicht". Ungewöhnliche Todesfälle. Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten, Wien 1999. 258 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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