Jeder Sturm hat seine Gründe, jedes Schicksal seinen Ursprung. Wie eine gelassene, weil machtlose Göttin sitzt die Großmutter inmitten von Zikadengezeter in der trägen Luft der Mittagshitze, als sie es Lina erklärt: warum ihre Freundin Dora einen Mann heiraten wird, der sie schlägt - und welche generationenalte Schuld sie unabwendbar ins Unglück zu führen scheint.Viele Jahre später versucht Lina zu begreifen und zu erzählen: nicht nur von Dora, auch von Catalina, Beatriz und sich selbst. Alle sind sie jung, schön und reich, Teil der so konservativen wie frivolen Elite Barranquillas, einer Stadt an der kolumbianischen Karibikküste. Es sind Geschichten von Freiheitsträumen und Demütigungen, von weiblichem Begehren, von Sex und Unterwerfung, kolonialem Erbe und den Verbrechen der Erziehung - vor allem aber Geschichten von Frauen, die zum Skandal werden.Marvel Morenos Sprache ist ein Ereignis: bildgewaltig, mal sarkastisch-fies, mal sinnlich, immer unerbittlich tiefenscharf. Ein lebenssattes lateinamerikanisches Sittengemälde der fünfziger Jahre, ein allzu lange verborgener Schatz der Weltliteratur - endlich in herausragender deutscher Erstübersetzung.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Auch Rezensent Jobst Welge kommt nicht umhin, diesen 1987 im Original erschienenen und nun erstmals auf Deutsch vorliegenden Roman der kolumbianischen Schriftstellerin Marvel Moreno mit Gabriel Garcia Marquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" zu vergleichen. Ebenso opulent scheint ihm dieses, allerdings aus feministischer Perspektive erzählte, Gesellschaftsporträt. Welge taucht an der Seite von drei Frauen ein ins Großbürgermilieu im Baranquilla der Vierziger und Fünfzigerjahre: Dora, Catalina und Beatriz sind auf ganz unterschiedliche Weise durch die Gewalt der patriarchalischen Gesellschaft geprägt, resümiert der Kritiker. Dass es Moreno weniger auf ihre Figuren als auf deren Prägung durch Gesellschaft, aber auch durch Klima und Kolonialismus ankommt, geht für Welge in Ordnung. Und auch die mitunter "schwülstige Atmosphäre" im Roman kann er angesichts der kunstvoll verschachtelten, aber präzisen Sprache und der Frische des Romans gern verzeihen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2023Patriarchat als Pantomime
Kolumbianische Moralistin mit beißender Ironie: Marvel Morenos Roman "Im Dezember der Wind"
In einem Nachruf anlässlich ihres Todes im Jahr 1995 erinnert sich der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo an seine kolumbianische Kollegin Marvel Moreno, die er bereits 1970 bei einer Begegnung in Paris kennengelernt hatte, das schließlich zu ihrer permanenten Heimat werden sollte. Ihr Schreiben sei durch eine im hispanischen Kontext einzigartige moralische Stärke ausgezeichnet gewesen, durch "beißende Ironie, vermischt mit Nostalgie und Melancholie". Während der Lektüre des Romans "Im Dezember der Wind", 1987 im spanischen Original veröffentlicht, begreift man, dass Goytisolo in Moreno wohl eine Geistesverwandte gesehen hatte, da beide Autoren in ihrem Werk Gesellschaftskritik und die Erkundung des sexuellen Begehrens verbanden.
Die erstmalige Übersetzung des Romans von Moreno ins Deutsche (nachdem er erst kürzlich ins Englische und Italienische übersetzt wurde) markiert die späte Wiederentdeckung eines Werks, das in den späten Achtzigerjahren durch das Raster des lateinamerikanischen Booms fiel, der bekanntlich durch den Roman eines anderen kolumbianischen Autors angeführt wurde, "Hundert Jahre Einsamkeit" (1962) von Gabriel García Márquez. In ihrer erzählerischen Exuberanz und im Interesse an familiären Genealogien knüpft Moreno durchaus an diesen großen Klassiker der Weltliteratur an, wenn auch aus einer dezidiert feministischen Perspektive.
Erzählt wird in der dritten Person, aber alles erscheint gefiltert durch die Wahrnehmungsweise von Lina, die erst ganz am Schluss in einem kurzen Epilog zu uns in der ersten Person spricht: "Die Jahre sind vergangen und ich bin nicht mehr nach Baranquilla zurückgekehrt - an den Ort, den unsere Großmütter einst auf Eselsrücken erreichten." Dieser Rückblick auf die Hafenstadt an der kolumbianischen Karibikküste ist auch der Blick der Autorin selbst, die aus zeitlicher und räumlicher Distanz den sozialen Kosmos ihrer Jugend während der Vierziger- und Fünfzigerjahre wiederaufleben lässt.
Als Beobachterin dieses nahezu durchweg großbürgerlichen Milieus bleibt Lina dabei immer Nebenfigur; in den drei großen Abschnitten des Romans steht jeweils eine andere ihrer Freundinnen im Vordergrund: Dora, Catalina und Beatriz exemplifizieren auf unterschiedliche Weise, wie Frauen durch eine zutiefst patriarchalische und gewaltvolle Gesellschaft geprägt werden. Dass diese Frauen aber nicht nur als Opfer männlicher Macht und Gewalt in den Blick kommen, sondern entschieden auch als aktive Subjekte des Begehrens, erhellt sich aus einem Kommentar der Großmutter der Protagonistin, die, wie auch zwei Tanten, den Roman mit ihren erfahrungsgesättigten Weisheiten grundiert: "Im Anfang war gar nicht das Wort, erklärte die Großmutter, denn vor dem Wort war die Tat und vor der Tat das Begehren. In seinem Ursprung war das Begehren stets rein und würde es immer bleiben, ging es dem Wort voraus, blieb jeder moralischen Betrachtung unzugänglich."
Im ersten Teil des Romans verkörpert Dora eine ungezügelte, überbordende Form der Sexualität, die sowohl ihre Mutter Eulalia als auch ihr Ehemann Benito besitzen und einzuhegen suchen. Im zweiten Teil steht Catalina im Zentrum, die Tochter einer skandalträchtigen Gesellschaftsdame, die Alvaro heiratet, einen herrschsüchtigen Psychiater, der im Geheimen homosexuell ist und schließlich von Catalina in den Selbstmord getrieben wird. Im dritten Teil geht es um Beatriz, die als fromme Frau die gesellschaftlichen Normen und den Familienkult scheinbar verinnerlicht hat, die Javier heiratet und eine Affäre mit dem Pseudorevolutionär Victor eingeht. Religion und Kommunismus, so kommentiert der Roman, sind die miteinander streitenden Ideologien der Fünfzigerjahre, und Beatriz hatte sich "mit zu großer Strenge der Sache des Absoluten verschrieben".
Während Lina einzelne Ereignisse um diese drei Freundinnen direkt erlebt hat, rekonstruiert sie zugleich vieles aus ihr zugetragenen Erzählungen oder später erhaltenen Briefen. Moreno wiederum erzählt all dies in langen Absätzen, verschachtelten Sätzen und einem atemlos vorwärtsdrängenden Prosarhythmus (bravourös von Rike Bolte ins Deutsche gebracht), wobei die Personen immer in einer langen historischen und familiären Perspektive beleuchtet werden, die oft auf die europäischen Ursprünge oder sogar die Anfänge der Kolonialgeschichte zurückgeht. Die Mischung aus Linas individueller Wahrnehmung und der breiten epischen Dimension zieht sich so durch den ganzen Text, der teils weiblicher Bildungsroman, teils Gesellschaftsroman ist und bei dem - Reminiszenz an den Naturalismus des neunzehnten Jahrhunderts - das individuelle Verhalten der Figuren sich stets aus ihren Anlagen, Vorherbestimmungen, sozialen und familiären Prägungen erklärt. Dabei springt die Aufmerksamkeit zwischen den Zeiten, Räumen und Personen hin und her, eine proliferierende Erzählweise, die nicht zufällig an die Poetik des Neobarocks erinnert.
Der Roman ist denn auch weniger an den Figuren um ihrer selbst willen interessiert, sondern daran, wie die Erbanlagen ("das Blut"), Erziehungsmethoden und gesellschaftlichen Umstände diese formieren und deformieren. Oft wird dabei suggeriert, dass auch das tropische Klima der Karibik dazu beiträgt, dass zivilisatorische, aus Europa ererbte Praktiken und Normen in diesem Umfeld verkümmern oder groteske Formen annehmen. So erfahren wir beispielsweise, dass seine Mutter versucht hatte, Benito (dessen Name durch Benito Mussolini inspiriert ist) "die Werte des europäischen Großbürgertums, dessen Verständnis von Arbeit und Strebsamkeit einzutrichtern", dass er aber bei gesellschaftlichen Anlässen unangemessen ruppig ist, mit seinem schlechten Geschmack prahlt und Dora herumkommandiert. Die von ihm ausgehende Aggressivität wird von der Erzählstimme nicht ihm selbst angelastet, sondern auf das gesellschaftlich sanktionierte Rollenbild des gewalttätigen und herrschsüchtigen Mannes zurückgeführt.
Gegen Ende wird jedoch auch festgestellt, "dass das Patriarchat in dieser Stadt zur Pantomime verkam" und dass die Frauen in Baranquilla in mancher Hinsicht eine "beachtliche Anzahl von Privilegien" genossen. Die explizit feministische Gesellschaftskritik des Romans bleibt frisch durch diese Spannung aus Anklage und Ambivalenz, durch die Genauigkeit der Sprache - selbst wenn manche Szenen mit ihren exzessiven Gewaltausbrüchen, dem Reigen aus Rache, Fluch, Leidenschaft und zuweilen etwas schwülstiger Erotik zwar die angespannte Atmosphäre der dargestellten Zeit heraufbeschwören, aber literarisch auch etwas in ihrer Zeit verbleiben. JOBST WELGE
Marvel Moreno:
"Im Dezember der Wind". Roman.
Aus dem
kolumbianischen
Spanisch von Rike Bolte. Wagenbach Verlag,
Berlin 2023. 432 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kolumbianische Moralistin mit beißender Ironie: Marvel Morenos Roman "Im Dezember der Wind"
In einem Nachruf anlässlich ihres Todes im Jahr 1995 erinnert sich der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo an seine kolumbianische Kollegin Marvel Moreno, die er bereits 1970 bei einer Begegnung in Paris kennengelernt hatte, das schließlich zu ihrer permanenten Heimat werden sollte. Ihr Schreiben sei durch eine im hispanischen Kontext einzigartige moralische Stärke ausgezeichnet gewesen, durch "beißende Ironie, vermischt mit Nostalgie und Melancholie". Während der Lektüre des Romans "Im Dezember der Wind", 1987 im spanischen Original veröffentlicht, begreift man, dass Goytisolo in Moreno wohl eine Geistesverwandte gesehen hatte, da beide Autoren in ihrem Werk Gesellschaftskritik und die Erkundung des sexuellen Begehrens verbanden.
Die erstmalige Übersetzung des Romans von Moreno ins Deutsche (nachdem er erst kürzlich ins Englische und Italienische übersetzt wurde) markiert die späte Wiederentdeckung eines Werks, das in den späten Achtzigerjahren durch das Raster des lateinamerikanischen Booms fiel, der bekanntlich durch den Roman eines anderen kolumbianischen Autors angeführt wurde, "Hundert Jahre Einsamkeit" (1962) von Gabriel García Márquez. In ihrer erzählerischen Exuberanz und im Interesse an familiären Genealogien knüpft Moreno durchaus an diesen großen Klassiker der Weltliteratur an, wenn auch aus einer dezidiert feministischen Perspektive.
Erzählt wird in der dritten Person, aber alles erscheint gefiltert durch die Wahrnehmungsweise von Lina, die erst ganz am Schluss in einem kurzen Epilog zu uns in der ersten Person spricht: "Die Jahre sind vergangen und ich bin nicht mehr nach Baranquilla zurückgekehrt - an den Ort, den unsere Großmütter einst auf Eselsrücken erreichten." Dieser Rückblick auf die Hafenstadt an der kolumbianischen Karibikküste ist auch der Blick der Autorin selbst, die aus zeitlicher und räumlicher Distanz den sozialen Kosmos ihrer Jugend während der Vierziger- und Fünfzigerjahre wiederaufleben lässt.
Als Beobachterin dieses nahezu durchweg großbürgerlichen Milieus bleibt Lina dabei immer Nebenfigur; in den drei großen Abschnitten des Romans steht jeweils eine andere ihrer Freundinnen im Vordergrund: Dora, Catalina und Beatriz exemplifizieren auf unterschiedliche Weise, wie Frauen durch eine zutiefst patriarchalische und gewaltvolle Gesellschaft geprägt werden. Dass diese Frauen aber nicht nur als Opfer männlicher Macht und Gewalt in den Blick kommen, sondern entschieden auch als aktive Subjekte des Begehrens, erhellt sich aus einem Kommentar der Großmutter der Protagonistin, die, wie auch zwei Tanten, den Roman mit ihren erfahrungsgesättigten Weisheiten grundiert: "Im Anfang war gar nicht das Wort, erklärte die Großmutter, denn vor dem Wort war die Tat und vor der Tat das Begehren. In seinem Ursprung war das Begehren stets rein und würde es immer bleiben, ging es dem Wort voraus, blieb jeder moralischen Betrachtung unzugänglich."
Im ersten Teil des Romans verkörpert Dora eine ungezügelte, überbordende Form der Sexualität, die sowohl ihre Mutter Eulalia als auch ihr Ehemann Benito besitzen und einzuhegen suchen. Im zweiten Teil steht Catalina im Zentrum, die Tochter einer skandalträchtigen Gesellschaftsdame, die Alvaro heiratet, einen herrschsüchtigen Psychiater, der im Geheimen homosexuell ist und schließlich von Catalina in den Selbstmord getrieben wird. Im dritten Teil geht es um Beatriz, die als fromme Frau die gesellschaftlichen Normen und den Familienkult scheinbar verinnerlicht hat, die Javier heiratet und eine Affäre mit dem Pseudorevolutionär Victor eingeht. Religion und Kommunismus, so kommentiert der Roman, sind die miteinander streitenden Ideologien der Fünfzigerjahre, und Beatriz hatte sich "mit zu großer Strenge der Sache des Absoluten verschrieben".
Während Lina einzelne Ereignisse um diese drei Freundinnen direkt erlebt hat, rekonstruiert sie zugleich vieles aus ihr zugetragenen Erzählungen oder später erhaltenen Briefen. Moreno wiederum erzählt all dies in langen Absätzen, verschachtelten Sätzen und einem atemlos vorwärtsdrängenden Prosarhythmus (bravourös von Rike Bolte ins Deutsche gebracht), wobei die Personen immer in einer langen historischen und familiären Perspektive beleuchtet werden, die oft auf die europäischen Ursprünge oder sogar die Anfänge der Kolonialgeschichte zurückgeht. Die Mischung aus Linas individueller Wahrnehmung und der breiten epischen Dimension zieht sich so durch den ganzen Text, der teils weiblicher Bildungsroman, teils Gesellschaftsroman ist und bei dem - Reminiszenz an den Naturalismus des neunzehnten Jahrhunderts - das individuelle Verhalten der Figuren sich stets aus ihren Anlagen, Vorherbestimmungen, sozialen und familiären Prägungen erklärt. Dabei springt die Aufmerksamkeit zwischen den Zeiten, Räumen und Personen hin und her, eine proliferierende Erzählweise, die nicht zufällig an die Poetik des Neobarocks erinnert.
Der Roman ist denn auch weniger an den Figuren um ihrer selbst willen interessiert, sondern daran, wie die Erbanlagen ("das Blut"), Erziehungsmethoden und gesellschaftlichen Umstände diese formieren und deformieren. Oft wird dabei suggeriert, dass auch das tropische Klima der Karibik dazu beiträgt, dass zivilisatorische, aus Europa ererbte Praktiken und Normen in diesem Umfeld verkümmern oder groteske Formen annehmen. So erfahren wir beispielsweise, dass seine Mutter versucht hatte, Benito (dessen Name durch Benito Mussolini inspiriert ist) "die Werte des europäischen Großbürgertums, dessen Verständnis von Arbeit und Strebsamkeit einzutrichtern", dass er aber bei gesellschaftlichen Anlässen unangemessen ruppig ist, mit seinem schlechten Geschmack prahlt und Dora herumkommandiert. Die von ihm ausgehende Aggressivität wird von der Erzählstimme nicht ihm selbst angelastet, sondern auf das gesellschaftlich sanktionierte Rollenbild des gewalttätigen und herrschsüchtigen Mannes zurückgeführt.
Gegen Ende wird jedoch auch festgestellt, "dass das Patriarchat in dieser Stadt zur Pantomime verkam" und dass die Frauen in Baranquilla in mancher Hinsicht eine "beachtliche Anzahl von Privilegien" genossen. Die explizit feministische Gesellschaftskritik des Romans bleibt frisch durch diese Spannung aus Anklage und Ambivalenz, durch die Genauigkeit der Sprache - selbst wenn manche Szenen mit ihren exzessiven Gewaltausbrüchen, dem Reigen aus Rache, Fluch, Leidenschaft und zuweilen etwas schwülstiger Erotik zwar die angespannte Atmosphäre der dargestellten Zeit heraufbeschwören, aber literarisch auch etwas in ihrer Zeit verbleiben. JOBST WELGE
Marvel Moreno:
"Im Dezember der Wind". Roman.
Aus dem
kolumbianischen
Spanisch von Rike Bolte. Wagenbach Verlag,
Berlin 2023. 432 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main