Boxen und Literatur
Dieser Band versammelt alles, was Wondratschek je zum Thema "Boxen" geschrieben hat.
Wolf Wondratscheks literarischer Sammelband über das Boxen - neu zusammengestellt zum 100. Geburtstag von Max Schmeling
Inhalt:
Reportagen, Stories
Im Dickicht der Fäuste (1980)
Die weiße Hoffnung (1982)
Im Wendekreis des Solarplexus (1984)
Danke, Schmeling (1985)
Die Peitsche knallt immer am Ende (1986)
Documenta Boxing (1992)
Hör zu, Henry (1994)
Der Weltmeister, mein Friseur und ich (1995)
Gut so, die Welt bleibt ungerecht (1995)
Auch Träume muß man trainieren (1995)
Vom Triumph der Niederlage (1995)
Gedichte
"Nimm mein Mädchen", sagt der Boxer,
"alles andere ist zu kompliziert!"
The Thrilla of Manila
Als Profiboxer bin ich zu alt
Die Nacht, als Henry Maske gegen Virgil Hill boxte
Artikel, Interviews
Mike Tyson
Ali boma ye
Wladimir Klitschko
Ali zum 60. Geburtstag
White Collar Boxing
Warum ist Boxen so oft Schiebung, Herr Bergmann?
Interview mit dem Autor
Dieser Band versammelt alles, was Wondratschek je zum Thema "Boxen" geschrieben hat.
Wolf Wondratscheks literarischer Sammelband über das Boxen - neu zusammengestellt zum 100. Geburtstag von Max Schmeling
Inhalt:
Reportagen, Stories
Im Dickicht der Fäuste (1980)
Die weiße Hoffnung (1982)
Im Wendekreis des Solarplexus (1984)
Danke, Schmeling (1985)
Die Peitsche knallt immer am Ende (1986)
Documenta Boxing (1992)
Hör zu, Henry (1994)
Der Weltmeister, mein Friseur und ich (1995)
Gut so, die Welt bleibt ungerecht (1995)
Auch Träume muß man trainieren (1995)
Vom Triumph der Niederlage (1995)
Gedichte
"Nimm mein Mädchen", sagt der Boxer,
"alles andere ist zu kompliziert!"
The Thrilla of Manila
Als Profiboxer bin ich zu alt
Die Nacht, als Henry Maske gegen Virgil Hill boxte
Artikel, Interviews
Mike Tyson
Ali boma ye
Wladimir Klitschko
Ali zum 60. Geburtstag
White Collar Boxing
Warum ist Boxen so oft Schiebung, Herr Bergmann?
Interview mit dem Autor
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Der beleidigte Schmetterling
Wiener Cremeschnittchen: Wolf Wondratschek boxt sich durch / Von Friedmar Apel
Wolf Wondratschek ist ein großer und eifersüchtiger Liebender. Was er liebt, will er mit niemandem teilen, und er will es so sehen wie kein anderer. Nächst den schönen Frauen liebt der Dichter den Boxsport. Er wäre selbst gern Boxweltmeister geworden, denn Boxen ist "der schwerste Weg, sein Glück zu versuchen". In seinen gesammelten Reportagen, Geschichten und Gedichten zum Boxen erscheint der Schriftsteller als "der einzige Bruder des Boxers, der Verbündete seiner Einsamkeit". Um diese Einzigkeit zu demonstrieren, muß Wondratschek die Vielgeliebten, Max Schmeling, Muhammad Ali oder Henry Maske, gegen die Verehrung der Scheinheiligen und der Ahnungslosen verteidigen, gegen die Deutschen überhaupt, die Boxen "weder verstehen noch lieben".
So ärgert sich der Chronist im Gespräch mit Schmeling beinahe, daß er dieses Muster "des tüchtigen, redlichen, grundanständigen Deutschen" kennenlernt, "wie ihn alle kennen, menschlicher als der beste aller Menschen". Mit glücklichen Menschen zumal hat Wondratschek von jeher "so meine Schwierigkeiten". Da will er "durch den Zucker zurück zu Schmeling, dem Boxer". Immerhin habe er seinen Sport als "die ehrlichste Auseinandersetzung, die ich kenne", bezeichnet. Von so etwas aber wollen deutsche "Sonntagsprediger" nichts hören. Da gehen die beiden zurück zu den "guten, alten Geschichten" und der gesunden Härte des Lebens. "Unwiederbringliche Zeiten", sagt Schmeling. "Also begraben wir den Hund. Und gehen dabei vielleicht selbst bald vor die Hunde. Um einen Boris Becker des Boxsports zu bekommen, brauchten wir wieder schwere Zeiten, Hunger, Entbehrungen, einen Krieg - einen Weltkrieg gar."
An dem zum Gentleman und Lieblingsschwiegersohn der Deutschen erklärten Henry Maske läßt Wondratschek den beklagenswerten Zustand der Boxkultur erscheinen. "Für meinen Geschmack sind alle Fragen, die Henry von den Gladiatoren der Talkshow gestellt bekommt, so dumm und ahnungslos, daß es lächerlich ist, wenn ebenjene Herren und Damen sich Sorgen machen um das Absterben von grauen Gehirnzellen." So empfiehlt der schreibende Bruder dem Boxer, sich auf "seine (noch) nicht gebrochene Nase nicht zuviel einzubilden" und überhaupt auf das Urteil der bundesdeutschen Gesellschaft zu pfeifen: "Paß vor allem auf, daß sie Dir vom Leib bleiben mit ihrer Musterknaben-Mentalität."
Natürlich ist auch für Wondratschek wie für uns alle, die wir nächtens vor dem Fernseher fieberten, Muhammad Ali der Beste: "Amerikas größtes Ego, / der schwarze Schmetterling". Aber im Unterschied zu einer ahnungslosen Sportberichterstattung bewundert ihn der Dichter vor allem für seine widerständige Einzigartigkeit, "weil keiner so redet wie er", und für die Unbescheidenheit, mit der er "den Traum aller Größenwahnsinnigen wahrgemacht / hat, Poesie, Kraft und Schönheit zu vereinigen".
Die tiefere Zuneigung des Dichters aber gehört unverkennbar den Außenseitern aus der Gosse und der Halbwelt: Eckhart Dagge, der seinen Weltmeistergürtel in einer Kneipe an der Reeperbahn aufhängte, oder Graciano "Rocky" Rocchigiani, "der sich einen Dreck schert um alles, was die Menschheit so Glück nennt". Und auch den schwarzen Amerikanern, die siegen wollen, weil sie müssen, so wie es Schriftsteller gibt wie Jack London, einsame Spieler mit wilder Willenskraft, für die das Weiterschreiben "ein Muß" ist.
Am nächsten zum Herzen aber ist Wondratschek der unvergleichlich wunderliche Norbert Grupe alias Prinz von Homburg, der vor nichts und niemandem Angst hatte. "Unser Prinz war von Beginn seiner Karriere an von selbstzerstörerischer Direktheit, ein Naturtalent an Unberechenbarkeit, ein selbstbewußter Anarchist, der keinerlei Gefühl für Gemeinschaft und Gesellschaft besaß." In Amerika gibt es für solche brillant kämpfenden Außenseiter einen Platz, in Deutschland "Ärger, Gefängnis, Belehrung, Beleidigung, Verachtung". Und Schiebung; mehrmals wurde Grupe von den Punktrichtern offensichtlich betrogen.
"Sie würden nichts je mit seinen Augen sehen", das ist auch die Gewißheit Wondratscheks im Verhältnis zur Literaturkritik. Mit unverhohlener Genugtuung erinnert er sich daher an das berühmte "Interview", in dem der Prinz auf die "schäbige Überheblichkeit" Rainer Günzlers mit Schweigen reagierte. "Verurteilt von Vorurteilen" endete die Karriere des auch im Urteil seiner Gegner "hervorragenden Boxers" im Nichts. Sein poetischer Bruder aber bedauert ihn nicht. Denn die Erinnerung an das Scheitern gehört zu dem Vergnügen, das die wenigen Eingeweihten des Boxsports immer empfinden, "wenn Ereignisse in totalen Katastrophen enden. Wenn das Leben Ecken und Kanten hat und wenn diese Ecken dunkel sind und die Kanten blutverschmiert."
Als ein einsamer Spieler begreift sich auch der Erzähler der Titelgeschichte in Wondratscheks neuem Erzählband. Sie entwickelt sich aus der Erinnerung an ein Kinderspiel, bei dem aus einigen gegebenen Worten eine Geschichte gebildet werden soll: "Der Junge / Saint-Tropez / Schauspielerin". Das ergibt eine wie absichtslos komponierte Erzählung, in der sich ein einsamer Schriftsteller im herbstlichen Saint-Tropez in einem einsamen Jungen spiegelt, der eine notdürftig geflickte Brille trägt.
In dem Kind entdeckt er ebendas, was Wondratschek an seinen liebsten Boxern faszinierte: "Alles an diesem Jungen war so dünn, so durchschimmernd, so zart. Und gegen diese zitternde Membrane, in die er gepackt war, schlug der Wille eines Unbändigen, eines von Kümmernissen Getriebenen. Dieser Junge hatte seine Brille nicht zerbrochen, er hatte ihr den Hals umgedreht." So bedauert er auch den von seiner Mutter, einer Schauspielerin, Vernachlässigten nicht, sondern bewundert ihn für seine Eigenart und instinktive Selbstbehauptung, die ihn an sich selbst als Kind erinnert. Eine in Fischerhäfen ganz alltägliche Verrichtung aber scheint dann den Jungen völlig aus der Fassung zu bringen.
Auch in den anderen Erzählungen des Bandes geht es um zunächst harmlos wirkende Unregelmäßigkeiten, die dann ein Leben verändern, und um mehr oder minder verzweifelte Selbstbehauptung. Ein Feuerwehrmann, der schon Hunderte Male gelangweilt im Wiener Konzerthaus Dienst tat, wird auf einmal von der Gewalt der Musik getroffen. "Eine Panne, die ihn in einen Menschen verwandelt hatte, der er nie hatte werden wollen. Und keinem war der Mann, in den er sich immer mehr, immer auffälliger zu verwandeln begann, danach noch recht geheuer." Ein berühmter Chirurg im Ruhestand läßt sich noch einmal überreden, ein russisches Mädchen an der Bandscheibe zu operieren, was unerhörte Konsequenzen auslöst. Das gesundete Mädchen aber, nun wieder im Besitz ihres Körpers, wird, "was sie werden wollte: eine Eroberung!" Der alte Chirurg und Erzähler, der die Frauen kennt, verzichtet aber auf das Verständnis der Geschichte. Der Leser wird auch nicht völlig aufgeklärt, wie überhaupt die Erzählungen Leerstellen haben, Zwischenräume des Ungesagten, in denen nisten mag, was will.
Ein gestandener Geschäftsmann und Musikalienexperte beschimpft seine Freundin als dumm, und etwas Merkwürdiges passiert: "Es mußte seine Grobheit eine Explosion in ihr ausgelöst haben, die nichts zerstört, sondern alles in ihr neu erschaffen hatte." Sie liest Salinger und fängt das Rauchen wieder an. Der Autor, der sich ausnahmsweise zu Wort meldet, spendet ihr Beifall. "Ich kann nicht glauben, was passiert ist", schreibt sie in einem Brief. "Nur daß ich losrennen, mich bewegen, mich in den Wind werfen will, das glaube ich!"
Briefe spielen überhaupt eine wichtige Rolle, sie gestalten die älteste Beziehung zwischen Schreiben und Abwesenheit. Eine Abwesenheit, die sich auch in die Situationen der Nähe einsenkt. Diese Erkenntnis ergibt ein poetisches Verfahren, das an Arthur Schnitzler erinnert: Er "mischte, wie ein Spieler die Karten, eigene mit fremden Träumen, einen Anfang mit einem Ende, das Herzzerreißende eines Abschieds mit der Ruhe eines Jägers". Heilen lassen aber wollen sich diese Einsamen nicht: "Mein Vergnügen war es, allein zu sein, allein, unerreichbar allein." Selbst der glücklich verheiratete Feuerwehrmann verzichtet unter rätselhaftem Zwang auf das heilende Wort: "Er hätte sagen sollen, was er empfand. Er hätte aufstehen, seine Frau in die Arme nehmen und alles, was sein Herz erstickte, beichten sollen. Aber er blieb sitzen. Ich will, sagte er, nur einfach noch ein wenig allein sein und nachdenken." Daß diese Menschen sich behaupten, sich treu bleiben oder überhaupt erst zu sich finden, bezahlen sie unweigerlich mit Einsamkeit.
Es sind Geschichten aus Wien, für Wondratschek "ein Ort der Sehnsucht nach Erinnerung". Dieses Wien besteht selbst nur aus Erinnerung, mögen die Ortsangaben noch so detailliert sein, es erscheint als Topographie der Seele: "An diesem Tag verläßt sie das Haus mit zeremonieller Würde, geht spazieren, Zirkusgasse, Praterstraße, Nestroyplatz, läßt sich treiben, in Nebenstraßen hinein, kleine Gassen, in Durchgänge (,Freiwilliger Durchgang' steht über einigen der Torbögen, was sie amüsiert, weil es ihrer Entschlossenheit entspricht, Dinge klarzustellen)." Der Erzähler wie überhaupt das Personal ist reflektiert, lauter rückblickend Einsame, die "die belebende Bitterkeit jener Schmerzen" schon kennen, "die Menschen am Ende allein in verschiedene Richtungen davontragen". Es sind Menschen im "Einverständnis mit der Vergänglichkeit" und Unwiederbringlichkeit im Zeitalter der Zweckrationalität. Das ist passagenweise zweifellos existentialistischer Kitsch, der ähnlich dick aufgetragen wird wie der Vitalismus der Boxtexte.
Aber der gewiefte Artist Wondratschek weiß natürlich um die Unzeitgemäßheit seiner Motive und Stilmittel. So setzt er noch eins drauf und vergleicht die Kunst wie die Liebe mit einer Wiener Cremeschnitte, die "aus zwei gegensätzlichen, kunstvoll aufeinandergeschichteten Materialien" besteht: "Aus Blätterteig als dem Prinzip des Spröden, Zerbrechlichen, Krümeligen - und feinem cremigen Schaum, dem Prinzip des Buttrigen, Fetten, Fließenden, also dem genauen Gegenteil."
Was in den Boxreportagen noch grob und ungezügelt zum Ausdruck kam, erscheint in den Erzählungen aus Wondratscheks Wiener Exil ironisch und melancholisch, gelegentlich sogar humorvoll gebändigt und doch zugleich irritierend ungeschützt: die Wut auf eine auf verlogene Weise befriedete Gesellschaft, in der Rebellen gegen Gummiwände anrennen und in der die großen Gefühle der Lächerlichkeit verfallen.
Wolf Wondratschek: "Im Dickicht der Fäuste". Vom Boxen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005. 218 S., br., 12,50 [Euro].
Wolf Wondratschek: "Saint-Tropez und andere Erzählungen". Hanser Verlag, München 2005. 192 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiener Cremeschnittchen: Wolf Wondratschek boxt sich durch / Von Friedmar Apel
Wolf Wondratschek ist ein großer und eifersüchtiger Liebender. Was er liebt, will er mit niemandem teilen, und er will es so sehen wie kein anderer. Nächst den schönen Frauen liebt der Dichter den Boxsport. Er wäre selbst gern Boxweltmeister geworden, denn Boxen ist "der schwerste Weg, sein Glück zu versuchen". In seinen gesammelten Reportagen, Geschichten und Gedichten zum Boxen erscheint der Schriftsteller als "der einzige Bruder des Boxers, der Verbündete seiner Einsamkeit". Um diese Einzigkeit zu demonstrieren, muß Wondratschek die Vielgeliebten, Max Schmeling, Muhammad Ali oder Henry Maske, gegen die Verehrung der Scheinheiligen und der Ahnungslosen verteidigen, gegen die Deutschen überhaupt, die Boxen "weder verstehen noch lieben".
So ärgert sich der Chronist im Gespräch mit Schmeling beinahe, daß er dieses Muster "des tüchtigen, redlichen, grundanständigen Deutschen" kennenlernt, "wie ihn alle kennen, menschlicher als der beste aller Menschen". Mit glücklichen Menschen zumal hat Wondratschek von jeher "so meine Schwierigkeiten". Da will er "durch den Zucker zurück zu Schmeling, dem Boxer". Immerhin habe er seinen Sport als "die ehrlichste Auseinandersetzung, die ich kenne", bezeichnet. Von so etwas aber wollen deutsche "Sonntagsprediger" nichts hören. Da gehen die beiden zurück zu den "guten, alten Geschichten" und der gesunden Härte des Lebens. "Unwiederbringliche Zeiten", sagt Schmeling. "Also begraben wir den Hund. Und gehen dabei vielleicht selbst bald vor die Hunde. Um einen Boris Becker des Boxsports zu bekommen, brauchten wir wieder schwere Zeiten, Hunger, Entbehrungen, einen Krieg - einen Weltkrieg gar."
An dem zum Gentleman und Lieblingsschwiegersohn der Deutschen erklärten Henry Maske läßt Wondratschek den beklagenswerten Zustand der Boxkultur erscheinen. "Für meinen Geschmack sind alle Fragen, die Henry von den Gladiatoren der Talkshow gestellt bekommt, so dumm und ahnungslos, daß es lächerlich ist, wenn ebenjene Herren und Damen sich Sorgen machen um das Absterben von grauen Gehirnzellen." So empfiehlt der schreibende Bruder dem Boxer, sich auf "seine (noch) nicht gebrochene Nase nicht zuviel einzubilden" und überhaupt auf das Urteil der bundesdeutschen Gesellschaft zu pfeifen: "Paß vor allem auf, daß sie Dir vom Leib bleiben mit ihrer Musterknaben-Mentalität."
Natürlich ist auch für Wondratschek wie für uns alle, die wir nächtens vor dem Fernseher fieberten, Muhammad Ali der Beste: "Amerikas größtes Ego, / der schwarze Schmetterling". Aber im Unterschied zu einer ahnungslosen Sportberichterstattung bewundert ihn der Dichter vor allem für seine widerständige Einzigartigkeit, "weil keiner so redet wie er", und für die Unbescheidenheit, mit der er "den Traum aller Größenwahnsinnigen wahrgemacht / hat, Poesie, Kraft und Schönheit zu vereinigen".
Die tiefere Zuneigung des Dichters aber gehört unverkennbar den Außenseitern aus der Gosse und der Halbwelt: Eckhart Dagge, der seinen Weltmeistergürtel in einer Kneipe an der Reeperbahn aufhängte, oder Graciano "Rocky" Rocchigiani, "der sich einen Dreck schert um alles, was die Menschheit so Glück nennt". Und auch den schwarzen Amerikanern, die siegen wollen, weil sie müssen, so wie es Schriftsteller gibt wie Jack London, einsame Spieler mit wilder Willenskraft, für die das Weiterschreiben "ein Muß" ist.
Am nächsten zum Herzen aber ist Wondratschek der unvergleichlich wunderliche Norbert Grupe alias Prinz von Homburg, der vor nichts und niemandem Angst hatte. "Unser Prinz war von Beginn seiner Karriere an von selbstzerstörerischer Direktheit, ein Naturtalent an Unberechenbarkeit, ein selbstbewußter Anarchist, der keinerlei Gefühl für Gemeinschaft und Gesellschaft besaß." In Amerika gibt es für solche brillant kämpfenden Außenseiter einen Platz, in Deutschland "Ärger, Gefängnis, Belehrung, Beleidigung, Verachtung". Und Schiebung; mehrmals wurde Grupe von den Punktrichtern offensichtlich betrogen.
"Sie würden nichts je mit seinen Augen sehen", das ist auch die Gewißheit Wondratscheks im Verhältnis zur Literaturkritik. Mit unverhohlener Genugtuung erinnert er sich daher an das berühmte "Interview", in dem der Prinz auf die "schäbige Überheblichkeit" Rainer Günzlers mit Schweigen reagierte. "Verurteilt von Vorurteilen" endete die Karriere des auch im Urteil seiner Gegner "hervorragenden Boxers" im Nichts. Sein poetischer Bruder aber bedauert ihn nicht. Denn die Erinnerung an das Scheitern gehört zu dem Vergnügen, das die wenigen Eingeweihten des Boxsports immer empfinden, "wenn Ereignisse in totalen Katastrophen enden. Wenn das Leben Ecken und Kanten hat und wenn diese Ecken dunkel sind und die Kanten blutverschmiert."
Als ein einsamer Spieler begreift sich auch der Erzähler der Titelgeschichte in Wondratscheks neuem Erzählband. Sie entwickelt sich aus der Erinnerung an ein Kinderspiel, bei dem aus einigen gegebenen Worten eine Geschichte gebildet werden soll: "Der Junge / Saint-Tropez / Schauspielerin". Das ergibt eine wie absichtslos komponierte Erzählung, in der sich ein einsamer Schriftsteller im herbstlichen Saint-Tropez in einem einsamen Jungen spiegelt, der eine notdürftig geflickte Brille trägt.
In dem Kind entdeckt er ebendas, was Wondratschek an seinen liebsten Boxern faszinierte: "Alles an diesem Jungen war so dünn, so durchschimmernd, so zart. Und gegen diese zitternde Membrane, in die er gepackt war, schlug der Wille eines Unbändigen, eines von Kümmernissen Getriebenen. Dieser Junge hatte seine Brille nicht zerbrochen, er hatte ihr den Hals umgedreht." So bedauert er auch den von seiner Mutter, einer Schauspielerin, Vernachlässigten nicht, sondern bewundert ihn für seine Eigenart und instinktive Selbstbehauptung, die ihn an sich selbst als Kind erinnert. Eine in Fischerhäfen ganz alltägliche Verrichtung aber scheint dann den Jungen völlig aus der Fassung zu bringen.
Auch in den anderen Erzählungen des Bandes geht es um zunächst harmlos wirkende Unregelmäßigkeiten, die dann ein Leben verändern, und um mehr oder minder verzweifelte Selbstbehauptung. Ein Feuerwehrmann, der schon Hunderte Male gelangweilt im Wiener Konzerthaus Dienst tat, wird auf einmal von der Gewalt der Musik getroffen. "Eine Panne, die ihn in einen Menschen verwandelt hatte, der er nie hatte werden wollen. Und keinem war der Mann, in den er sich immer mehr, immer auffälliger zu verwandeln begann, danach noch recht geheuer." Ein berühmter Chirurg im Ruhestand läßt sich noch einmal überreden, ein russisches Mädchen an der Bandscheibe zu operieren, was unerhörte Konsequenzen auslöst. Das gesundete Mädchen aber, nun wieder im Besitz ihres Körpers, wird, "was sie werden wollte: eine Eroberung!" Der alte Chirurg und Erzähler, der die Frauen kennt, verzichtet aber auf das Verständnis der Geschichte. Der Leser wird auch nicht völlig aufgeklärt, wie überhaupt die Erzählungen Leerstellen haben, Zwischenräume des Ungesagten, in denen nisten mag, was will.
Ein gestandener Geschäftsmann und Musikalienexperte beschimpft seine Freundin als dumm, und etwas Merkwürdiges passiert: "Es mußte seine Grobheit eine Explosion in ihr ausgelöst haben, die nichts zerstört, sondern alles in ihr neu erschaffen hatte." Sie liest Salinger und fängt das Rauchen wieder an. Der Autor, der sich ausnahmsweise zu Wort meldet, spendet ihr Beifall. "Ich kann nicht glauben, was passiert ist", schreibt sie in einem Brief. "Nur daß ich losrennen, mich bewegen, mich in den Wind werfen will, das glaube ich!"
Briefe spielen überhaupt eine wichtige Rolle, sie gestalten die älteste Beziehung zwischen Schreiben und Abwesenheit. Eine Abwesenheit, die sich auch in die Situationen der Nähe einsenkt. Diese Erkenntnis ergibt ein poetisches Verfahren, das an Arthur Schnitzler erinnert: Er "mischte, wie ein Spieler die Karten, eigene mit fremden Träumen, einen Anfang mit einem Ende, das Herzzerreißende eines Abschieds mit der Ruhe eines Jägers". Heilen lassen aber wollen sich diese Einsamen nicht: "Mein Vergnügen war es, allein zu sein, allein, unerreichbar allein." Selbst der glücklich verheiratete Feuerwehrmann verzichtet unter rätselhaftem Zwang auf das heilende Wort: "Er hätte sagen sollen, was er empfand. Er hätte aufstehen, seine Frau in die Arme nehmen und alles, was sein Herz erstickte, beichten sollen. Aber er blieb sitzen. Ich will, sagte er, nur einfach noch ein wenig allein sein und nachdenken." Daß diese Menschen sich behaupten, sich treu bleiben oder überhaupt erst zu sich finden, bezahlen sie unweigerlich mit Einsamkeit.
Es sind Geschichten aus Wien, für Wondratschek "ein Ort der Sehnsucht nach Erinnerung". Dieses Wien besteht selbst nur aus Erinnerung, mögen die Ortsangaben noch so detailliert sein, es erscheint als Topographie der Seele: "An diesem Tag verläßt sie das Haus mit zeremonieller Würde, geht spazieren, Zirkusgasse, Praterstraße, Nestroyplatz, läßt sich treiben, in Nebenstraßen hinein, kleine Gassen, in Durchgänge (,Freiwilliger Durchgang' steht über einigen der Torbögen, was sie amüsiert, weil es ihrer Entschlossenheit entspricht, Dinge klarzustellen)." Der Erzähler wie überhaupt das Personal ist reflektiert, lauter rückblickend Einsame, die "die belebende Bitterkeit jener Schmerzen" schon kennen, "die Menschen am Ende allein in verschiedene Richtungen davontragen". Es sind Menschen im "Einverständnis mit der Vergänglichkeit" und Unwiederbringlichkeit im Zeitalter der Zweckrationalität. Das ist passagenweise zweifellos existentialistischer Kitsch, der ähnlich dick aufgetragen wird wie der Vitalismus der Boxtexte.
Aber der gewiefte Artist Wondratschek weiß natürlich um die Unzeitgemäßheit seiner Motive und Stilmittel. So setzt er noch eins drauf und vergleicht die Kunst wie die Liebe mit einer Wiener Cremeschnitte, die "aus zwei gegensätzlichen, kunstvoll aufeinandergeschichteten Materialien" besteht: "Aus Blätterteig als dem Prinzip des Spröden, Zerbrechlichen, Krümeligen - und feinem cremigen Schaum, dem Prinzip des Buttrigen, Fetten, Fließenden, also dem genauen Gegenteil."
Was in den Boxreportagen noch grob und ungezügelt zum Ausdruck kam, erscheint in den Erzählungen aus Wondratscheks Wiener Exil ironisch und melancholisch, gelegentlich sogar humorvoll gebändigt und doch zugleich irritierend ungeschützt: die Wut auf eine auf verlogene Weise befriedete Gesellschaft, in der Rebellen gegen Gummiwände anrennen und in der die großen Gefühle der Lächerlichkeit verfallen.
Wolf Wondratschek: "Im Dickicht der Fäuste". Vom Boxen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005. 218 S., br., 12,50 [Euro].
Wolf Wondratschek: "Saint-Tropez und andere Erzählungen". Hanser Verlag, München 2005. 192 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Hier offenbart Wondratschek die Seele hinter dem Mythos Boxen. Unbarmherzig, grausam, verdammt ehrlich und in seiner Art von poetischer Schönheit."
Die Abendzeitung
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