Einladung an alle: die besten Erzählungen eines der größten deutschen Erzähler
Dieser Band hat bisher gefehlt. Kaum ein Autor der deutschen Nachkriegsliteratur hat ein so vielseitiges Werk verfasst wie Dieter Wellershoff. Seine Romane, Erzählungen und Essays sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen. Zu seinem 90. Geburtstag sind hier seine wichtigsten Erzählungen versammelt. Mit seinen Romanen hat Dieter Wellerhoff sich eine große Leserschaft erschrieben. »Die Schönheit des Schimpansen«, »Der Sieger nimmt alles«, »Der Liebeswunsch« und zuletzt »Der Himmel ist kein Ort« fanden eine begeisterte Aufnahme. In ihnen zeigte er sich als Meister der subtilen Einfühlung und der Infragestellung von Üblichkeiten und Gewissheiten. Das gilt ebenso für seine Erzählungen, die Situationen entwickeln, in denen der Mensch sich selbst zum Problem wird. Die Suche nach Zusammenhang in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen und der Kampf um die Interpretation des Lebens stehen dabei im Mittelpunkt. In ganz unterschiedlicher Länge, von der Miniatur bis zur Langerzählung und Novelle, wird entfaltet, was den Menschen ausmacht: Sehnsucht nach Liebe, Streben nach Anerkennung und Macht, die Kraft von Neid und Eifersucht, Angst vor dem Scheitern und immer wieder der Wunsch, sich dem anderen mitzueilen. Peter Henning hat die Erzählungen, die an unterschiedlichsten Orten veröffentlicht wurden, ausgewählt und mit einem Vorwort versehen.
Dieser Band hat bisher gefehlt. Kaum ein Autor der deutschen Nachkriegsliteratur hat ein so vielseitiges Werk verfasst wie Dieter Wellershoff. Seine Romane, Erzählungen und Essays sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen. Zu seinem 90. Geburtstag sind hier seine wichtigsten Erzählungen versammelt. Mit seinen Romanen hat Dieter Wellerhoff sich eine große Leserschaft erschrieben. »Die Schönheit des Schimpansen«, »Der Sieger nimmt alles«, »Der Liebeswunsch« und zuletzt »Der Himmel ist kein Ort« fanden eine begeisterte Aufnahme. In ihnen zeigte er sich als Meister der subtilen Einfühlung und der Infragestellung von Üblichkeiten und Gewissheiten. Das gilt ebenso für seine Erzählungen, die Situationen entwickeln, in denen der Mensch sich selbst zum Problem wird. Die Suche nach Zusammenhang in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen und der Kampf um die Interpretation des Lebens stehen dabei im Mittelpunkt. In ganz unterschiedlicher Länge, von der Miniatur bis zur Langerzählung und Novelle, wird entfaltet, was den Menschen ausmacht: Sehnsucht nach Liebe, Streben nach Anerkennung und Macht, die Kraft von Neid und Eifersucht, Angst vor dem Scheitern und immer wieder der Wunsch, sich dem anderen mitzueilen. Peter Henning hat die Erzählungen, die an unterschiedlichsten Orten veröffentlicht wurden, ausgewählt und mit einem Vorwort versehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2015Abendlicher Besuch von der Gottesanbeterin
Die Welt ist nur für sich da und der Mensch ihr gleichgültig: Zum neunzigsten Geburtstag von Dieter Wellershoff erscheint eine Auswahl seiner Erzählungen
Ina, die Ehefrau des Architekten Böhring, des Helden von Dieter Wellershoffs Novelle "Zikadengeschrei", fährt mit einem Plan in den Spanienurlaub. Sie möchte Marcel Prousts Romanwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lesen, "auf jeden Fall mehrere Bände, um sich eine Vorstellung vom Ganzen zu bilden". Die Eheleute und ihre Tochter beziehen einen Bungalow in einem Feriendorf südlich von Tarragona. Am Abend eines Tages, an dem sie die Grablege der Könige von Aragón besichtigt haben, fragt Böhring während eines Strandspaziergangs seine Frau, wovon Prousts Roman handele. Antwort: "von der Bedeutung der Zeit für das menschliche Leben". Menschen werden alt und sterben. "Aber Marcel, die Hauptfigur, findet in einer Reihe unverhoffter Erinnerungen sein vergangenes Leben wieder und wird darüber zum Schriftsteller."
Böhring kommt auf den Ausflug zurück. Hat Ina gesehen, dass die Könige in ihren Sarkophagen mit den Füßen in Richtung des Altars liegen, "damit sie ihn als erstes erblicken, wenn die Auferstehung beginnt"? Ina ist irritiert: Darauf hat er sie schon in der Kirche hingewiesen. "Er hatte eine Verbindung herstellen wollen zwischen dem Glauben der Könige an die Auferstehung und dem Thema des Romans. Aber es war ihm nicht gelungen, und vielleicht gehörte es auch gar nicht zusammen." Hat Böhring, der in dem Architekturbüro, das er mit einem Studienfreund betreibt, sein Leben lang für die Ideen zuständig war, sich nicht zu schnell von seinem Einfall abbringen lassen? Proust selbst hat sein Werk mit einer Kathedrale verglichen. Ist es nicht evident, dass der Bauplan, die Vorstellung des Ganzen, mit der der Leser vom letzten Band Abschied nimmt, der Gedanke der Auferstehung des Lebens in der Kunst ist?
Böhring ist mit seinen Gedanken woanders. Er ist besessen von einer Nachbarin in der Bungalowsiedlung, die das Tageslicht scheut, weil ihr Gesicht seit einer missglückten Operation entstellt ist. Am Morgen nach dem Gespräch über Proust unternimmt Böhring eine Wanderung weg vom Strand, in ein Gebiet jenseits des Bahndamms, wo Oliven angebaut worden sind. Dieter Wellershoff hat 1996 in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen seine "Sicht des Lebens" dargelegt: Sie rechnet "nicht mit festen Besitzständen und gebahnten Wegen", sondern setzt "eine Welt voraus, die für sich da ist, fremd und undurchschaubar, in gleichgültiger Faktizität, und immer wieder durchwirkt vom Zufall".
Böhring durchquert "das von wildwachsenden Pinien, Ginster- und Maulbeerbüschen überwucherte Brachland", kehrt auch dann nicht um, als sich der Weg "in einige schmale Trampelpfade" auflöst, folgt "einem schmalen, manchmal kaum erkennbaren Pfad über eine steinige, staubtrockene Fläche hinweg" und geht noch lange "ohne Weg von Geviert zu Geviert" weiter. Großartig evoziert Wellershoff die Faktizität einer Welt, der der Mensch vollkommen gleichgültig ist. Der Olivenanbau ist der Inbegriff der Kultivierung, und tatsächlich verlässt Böhring den Kulturboden nie: Er stolpert entlang eingestürzter Bruchsteinmauern durch ein Gelände, das die Eigentümer rechtwinklig aufgeteilt haben. Aber dieses Land ist restlos renaturalisiert.
Der Zufall beziehungsweise die Gattung will es, dass Böhring im letzten Geviert auf die geheimnisvolle Nachbarin trifft, die sich nicht bewegen kann, weil sie sich den Fuß verletzt hat. Auf dem langen ungebahnten Weg ist Böhring nie allein gewesen. "Um sich herum hörte er die Zikaden." Natürlich weiß er, was dieses Geräusch bedeutet. Mit den "unermüdlichen Schwirrgeräuschen" rufen die Männchen die Weibchen herbei. Das Zikadengeschrei steht im Titel der Novelle, weil die ersehnte Geliebte von Anfang an gegenwärtig ist. Bevor die Versehrte mit ihrem Ehemann in der Ferienanlage eintrifft, während der Leser noch darüber spekuliert, ob Böhring etwas mit der Angestellten im Büro des Verwalters anfangen wird, ist die fatale Frau in Gestalt ihres emblematischen Tieres schon da. Am ersten Abend prallt "ein großes heuschreckenartiges Insekt" gegen die Fensterscheibe des Bungalows. Ein paar Tage später erkennt Böhring es wieder. "Es war eine Gottesanbeterin."
Über die Mantis religiosa schrieb Jean-Henri Fabre, der von Proust bewunderte Insektenforscher: "Dies ist ein Tier des Südens, das mindestens so viel Aufmerksamkeit und Anteilnahme verdient wie die Zikade, aber lange nicht so berühmt ist wie diese, weil es keinen Lärm verursacht." Man weiß von der Gottesanbeterin allerdings, dass sie ihr Männchen verspeist. Böhring hilft der Nachbarin, die Wellershoff namenlos lässt, zurück in die Zivilisation. Sie kommen nur langsam vorwärts, "eng verklammert wie ein schwerfälliges dreibeiniges Wesen in kurzen Schritten und Schwüngen". Nach der Rückkehr will Böhring sich ablenken. "Versuchsweise nahm er einen der dicken Romanbände in die Hand, in denen Ina mit nie nachlassendem Interesse las, doch die Zeilen, die er eine Weile beharrlich mit seinen Augen verfolgte, lösten sich in einem Lichtnebel auf, in dem sie auf ihn wartete und sich zu zeigen begann." Der Kulturtourist mit dem Guide Bleu ist, was Proust betrifft, wirklich schimmerlos: Er ahnt nicht, dass ihm aus diesem Hymnus auf die erotische Attraktion die Angebetete entgegentreten muss.
Der Wiederabdruck von "Zikadengeschrei" beschließt die Auswahl von Erzählungen, die Peter Henning zum heutigen neunzigsten Geburtstag des Autors herausgegeben hat. In einem Interview hat Wellershoff soeben erzählt, dass er diese zwanzig Jahre alte Geschichte "ganz besonders" mag. Ungewöhnlich ist sie im Gesamtwerk wegen der mythologischen Leitmotivik. Hinter der dunklen Sonnenbrille verbirgt die Unbekannte ein Medusenhaupt: "Wie versteinert durch eine unerwartete Bedrohung" steht Böhring da, als er ihre verzerrte linke Gesichtshälfte sieht.
Die beiden passieren den Bahndamm, als der Zug nach Barcelona auftaucht und verschwindet. Am Anfang von "Sodom und Gomorrha" beschreibt Prousts Erzähler einen Einsiedler, der den Bahnhof eines Seebads aufzusuchen pflegte, um einen bestimmten Bahnbeamten anzusprechen. Seit dieser versetzt worden ist, steht er immer noch auf dem Bahnsteig herum, "verharrt er noch am Strand, eine sonderbare Andromeda", die kein Perseus retten wird, "eine unfruchtbare Meduse", eine Qualle, "die auf dem Sand umkommen muss". Proust taucht diesen hoffnungslos Liebenden in "das schimmernde Licht, mit dem gewisse Insekten sich schmücken, um andere artgleiche anzuziehen". Bei der letzten Begegnung mit der Nachbarin erkennt Böhring: "Wenn du dort stehenbleibst, wirst du versteinern." Er zieht sich zurück.
Die Könige von Aragón ließen sich in Stein hauen, weil sie daran glaubten, dass sie dereinst wieder aufstehen würden. Die Existenz von Dieter Wellershoffs Figuren vollendet sich gemäß dem Gesetz, das Fabre mit der Gottesanbeterin illustriert: "Die Welt ist ein in sich selbst zurücklaufender Ring: Alles endet, damit alles beginnen kann; alles stirbt, damit alles lebt."
PATRICK BAHNERS
Dieter Wellershoff:
"Im Dickicht des Lebens". Ausgewählte Erzählungen.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2015. 432 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Welt ist nur für sich da und der Mensch ihr gleichgültig: Zum neunzigsten Geburtstag von Dieter Wellershoff erscheint eine Auswahl seiner Erzählungen
Ina, die Ehefrau des Architekten Böhring, des Helden von Dieter Wellershoffs Novelle "Zikadengeschrei", fährt mit einem Plan in den Spanienurlaub. Sie möchte Marcel Prousts Romanwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lesen, "auf jeden Fall mehrere Bände, um sich eine Vorstellung vom Ganzen zu bilden". Die Eheleute und ihre Tochter beziehen einen Bungalow in einem Feriendorf südlich von Tarragona. Am Abend eines Tages, an dem sie die Grablege der Könige von Aragón besichtigt haben, fragt Böhring während eines Strandspaziergangs seine Frau, wovon Prousts Roman handele. Antwort: "von der Bedeutung der Zeit für das menschliche Leben". Menschen werden alt und sterben. "Aber Marcel, die Hauptfigur, findet in einer Reihe unverhoffter Erinnerungen sein vergangenes Leben wieder und wird darüber zum Schriftsteller."
Böhring kommt auf den Ausflug zurück. Hat Ina gesehen, dass die Könige in ihren Sarkophagen mit den Füßen in Richtung des Altars liegen, "damit sie ihn als erstes erblicken, wenn die Auferstehung beginnt"? Ina ist irritiert: Darauf hat er sie schon in der Kirche hingewiesen. "Er hatte eine Verbindung herstellen wollen zwischen dem Glauben der Könige an die Auferstehung und dem Thema des Romans. Aber es war ihm nicht gelungen, und vielleicht gehörte es auch gar nicht zusammen." Hat Böhring, der in dem Architekturbüro, das er mit einem Studienfreund betreibt, sein Leben lang für die Ideen zuständig war, sich nicht zu schnell von seinem Einfall abbringen lassen? Proust selbst hat sein Werk mit einer Kathedrale verglichen. Ist es nicht evident, dass der Bauplan, die Vorstellung des Ganzen, mit der der Leser vom letzten Band Abschied nimmt, der Gedanke der Auferstehung des Lebens in der Kunst ist?
Böhring ist mit seinen Gedanken woanders. Er ist besessen von einer Nachbarin in der Bungalowsiedlung, die das Tageslicht scheut, weil ihr Gesicht seit einer missglückten Operation entstellt ist. Am Morgen nach dem Gespräch über Proust unternimmt Böhring eine Wanderung weg vom Strand, in ein Gebiet jenseits des Bahndamms, wo Oliven angebaut worden sind. Dieter Wellershoff hat 1996 in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen seine "Sicht des Lebens" dargelegt: Sie rechnet "nicht mit festen Besitzständen und gebahnten Wegen", sondern setzt "eine Welt voraus, die für sich da ist, fremd und undurchschaubar, in gleichgültiger Faktizität, und immer wieder durchwirkt vom Zufall".
Böhring durchquert "das von wildwachsenden Pinien, Ginster- und Maulbeerbüschen überwucherte Brachland", kehrt auch dann nicht um, als sich der Weg "in einige schmale Trampelpfade" auflöst, folgt "einem schmalen, manchmal kaum erkennbaren Pfad über eine steinige, staubtrockene Fläche hinweg" und geht noch lange "ohne Weg von Geviert zu Geviert" weiter. Großartig evoziert Wellershoff die Faktizität einer Welt, der der Mensch vollkommen gleichgültig ist. Der Olivenanbau ist der Inbegriff der Kultivierung, und tatsächlich verlässt Böhring den Kulturboden nie: Er stolpert entlang eingestürzter Bruchsteinmauern durch ein Gelände, das die Eigentümer rechtwinklig aufgeteilt haben. Aber dieses Land ist restlos renaturalisiert.
Der Zufall beziehungsweise die Gattung will es, dass Böhring im letzten Geviert auf die geheimnisvolle Nachbarin trifft, die sich nicht bewegen kann, weil sie sich den Fuß verletzt hat. Auf dem langen ungebahnten Weg ist Böhring nie allein gewesen. "Um sich herum hörte er die Zikaden." Natürlich weiß er, was dieses Geräusch bedeutet. Mit den "unermüdlichen Schwirrgeräuschen" rufen die Männchen die Weibchen herbei. Das Zikadengeschrei steht im Titel der Novelle, weil die ersehnte Geliebte von Anfang an gegenwärtig ist. Bevor die Versehrte mit ihrem Ehemann in der Ferienanlage eintrifft, während der Leser noch darüber spekuliert, ob Böhring etwas mit der Angestellten im Büro des Verwalters anfangen wird, ist die fatale Frau in Gestalt ihres emblematischen Tieres schon da. Am ersten Abend prallt "ein großes heuschreckenartiges Insekt" gegen die Fensterscheibe des Bungalows. Ein paar Tage später erkennt Böhring es wieder. "Es war eine Gottesanbeterin."
Über die Mantis religiosa schrieb Jean-Henri Fabre, der von Proust bewunderte Insektenforscher: "Dies ist ein Tier des Südens, das mindestens so viel Aufmerksamkeit und Anteilnahme verdient wie die Zikade, aber lange nicht so berühmt ist wie diese, weil es keinen Lärm verursacht." Man weiß von der Gottesanbeterin allerdings, dass sie ihr Männchen verspeist. Böhring hilft der Nachbarin, die Wellershoff namenlos lässt, zurück in die Zivilisation. Sie kommen nur langsam vorwärts, "eng verklammert wie ein schwerfälliges dreibeiniges Wesen in kurzen Schritten und Schwüngen". Nach der Rückkehr will Böhring sich ablenken. "Versuchsweise nahm er einen der dicken Romanbände in die Hand, in denen Ina mit nie nachlassendem Interesse las, doch die Zeilen, die er eine Weile beharrlich mit seinen Augen verfolgte, lösten sich in einem Lichtnebel auf, in dem sie auf ihn wartete und sich zu zeigen begann." Der Kulturtourist mit dem Guide Bleu ist, was Proust betrifft, wirklich schimmerlos: Er ahnt nicht, dass ihm aus diesem Hymnus auf die erotische Attraktion die Angebetete entgegentreten muss.
Der Wiederabdruck von "Zikadengeschrei" beschließt die Auswahl von Erzählungen, die Peter Henning zum heutigen neunzigsten Geburtstag des Autors herausgegeben hat. In einem Interview hat Wellershoff soeben erzählt, dass er diese zwanzig Jahre alte Geschichte "ganz besonders" mag. Ungewöhnlich ist sie im Gesamtwerk wegen der mythologischen Leitmotivik. Hinter der dunklen Sonnenbrille verbirgt die Unbekannte ein Medusenhaupt: "Wie versteinert durch eine unerwartete Bedrohung" steht Böhring da, als er ihre verzerrte linke Gesichtshälfte sieht.
Die beiden passieren den Bahndamm, als der Zug nach Barcelona auftaucht und verschwindet. Am Anfang von "Sodom und Gomorrha" beschreibt Prousts Erzähler einen Einsiedler, der den Bahnhof eines Seebads aufzusuchen pflegte, um einen bestimmten Bahnbeamten anzusprechen. Seit dieser versetzt worden ist, steht er immer noch auf dem Bahnsteig herum, "verharrt er noch am Strand, eine sonderbare Andromeda", die kein Perseus retten wird, "eine unfruchtbare Meduse", eine Qualle, "die auf dem Sand umkommen muss". Proust taucht diesen hoffnungslos Liebenden in "das schimmernde Licht, mit dem gewisse Insekten sich schmücken, um andere artgleiche anzuziehen". Bei der letzten Begegnung mit der Nachbarin erkennt Böhring: "Wenn du dort stehenbleibst, wirst du versteinern." Er zieht sich zurück.
Die Könige von Aragón ließen sich in Stein hauen, weil sie daran glaubten, dass sie dereinst wieder aufstehen würden. Die Existenz von Dieter Wellershoffs Figuren vollendet sich gemäß dem Gesetz, das Fabre mit der Gottesanbeterin illustriert: "Die Welt ist ein in sich selbst zurücklaufender Ring: Alles endet, damit alles beginnen kann; alles stirbt, damit alles lebt."
PATRICK BAHNERS
Dieter Wellershoff:
"Im Dickicht des Lebens". Ausgewählte Erzählungen.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2015. 432 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zu Dieter Wellershoffs neunzigstem Geburtstag ist eine Auswahl seiner Erzählungen unter dem Titel "Im Dickicht des Lebens" erschienen, informiert Patrick Bahners, der in seiner Besprechung ausgiebig nacherzählt und interpretiert. Besonders angetan scheint der Kritiker von Wellershoffs Novelle "Zikadengeschrei", die ausgehend von Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" von den Sehnsüchten eines Architekten erzählt. Bahners attestiert dem Autor, in dieser Geschichte auf brillante Weise die Faktizität einer Welt auszumalen, der der Mensch vollkommen gleichgültig ist. Auch wenn sich der Rezensent mit einem Urteil zurückhält, scheint er diesen Band mit Gewinn gelesen zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Alle 13 Texte [...] gehören in jedem Fall zum Besten, was die deutsche Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählerisch hervorgebracht hat - und preiswürdig ist.« Lebensart im Norden 20160104