Nominiert für den Internationalen Literaturpreis 2021 / Platz 1 Litprom-Bestenliste Weltempfänger Winter 2020Sheyda Porroyas Tage sind gezählt. Sie sitzt im Todestrakt eines iranischen Gefängnisses - es ist das Jahr 1999, sie ist zwanzig Jahre jung. Ihre Erzählung, die zwischen Rückblicken auf ihre Kindheit und Jugend und dem barbarischen Alltag im Gefängnis hin- und herwechselt, ist voller Phantasie: Wachsen ihr wirklich Engelsflügel aus den Schulterblättern? Hat sie wirklich ihre Mutter getötet? Oder ist sie vielleicht wahnsinnig?Schon als Kind flüchtet sich Sheyda in eine Traum- und Wahnwelt und gewinnt in der repressiven Umgebung, in der sie aufwächst, immerhin eine Art Narrenfreiheit. Ungeliebte Tochter unglücklicher Eltern, Sonderling ohne Freunde und einzig zur grenzenlosen Liebe begabt, schafft sie sich ein Alter Ego ausgerechnet in Gestalt von Dantes betörender Beatrice.In berückend schöner, kraftvoller Sprache entfaltet Ava Farmehri eine Geschichte von Realitätsflucht, Unterdrückung und Isolation - makaber und magisch zugleich.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Dort oben die Freiheit
Ava Farmehris rasende, tödliche Lebensgeschichte einer jungen Iranerin
Zum Glück hat sie noch ein Taxi gekriegt. Oder doch einen privaten Fahrer, der am Straßenrand Passanten aufliest, wie es in Teheran üblich ist. Sheyda kommt gerade von einem Lover, der ihr unbedingt die Füße küssen musste und sie schwer mit seinen Liebeserklärungen bedrängte. Da ist die Rostlaube, die sie mitnimmt, direkt eine Erlösung. Hier kann die Ich-Erzählerin sich endlich wieder in ihr Alter Ego verwandeln, die weltläufige Kurtisane Beatrice. Aus Italien stammt sie und lässt es den Fahrer spüren. Doch der, ein Armenier, kann, womit in Teheran wirklich keiner rechnen muss, Italienisch, und lässt sie grausam auflaufen.
„‚Di che parte dell’ Italia sei?‘
‚Di che... Di...‘, stotterte ich.
‚Di che regione, Nord, Ovest...‘
‚Sì, sì... di, di...‘
‚Di Nord?‘
‚Sì. Di nord.‘“
Der Taxifahrer grinst und textet sie immer weiter mit Hochgeschwindigkeits-Italienisch zu. Welche Schmach. Sie will sterben in diesem Augenblick. So verläuft Sheydas ganzes Leben. Sie ist romantisch, aufsässig, hochfahrend, gönnt sich in der repressiven und frauenfeindlichen Theokratie des Iran den lebensgefährlichen Luxus, ältere Männer zu verführen, was so lachhaft leicht ist, wenn sie glutvoll hinter ihrem Tschador hervoräugelt, voll schnippischen Hohns gegen ihre Liebhaber, die vor allem eins nicht dürfen: einander begegnen.
Der Leser fühlt: Gutgehen kann das nicht. Wo kommen Lügner hin?, fragt der Fahrer sie auf Italienisch, das sie plötzlich versteht. „‚Inferno‘, sagte ich, während mein unverdautes Frühstück in der Speiseröhre Achterbahn fuhr. ‚Inferno.‘“ Und so kommt es. Der Roman beginnt und endet in der Todeszelle. Dort befindet sich Sheyda wegen Mordes an ihrer Mutter. Was es damit auf sich hat, erfährt der Leser spät. Doch sei hier immerhin mitzuteilen erlaubt, dass sie zuletzt die Lüge mehr liebt als ihr Leben.
Das Buch spielt in den Krisenjahren der iranischen Revolution und des langen zähen Krieges gegen den Irak in den Achtzigern. Die jungen Männer sterben als „Märtyrer“ an der Front wie die Fliegen; nur nicht der sanfte und genialische Krüppel Mustafa, ihr Nachbar, den die noch kindliche Sheyda anbetend liebt, obwohl sie ihn nur als fenstergerahmtes Bild erlebt. Dann begeht er Suizid – kann man, fragt sich der Leser, wenn man einerseits dem mörderischen Krieg entflohen ist, andererseits bildschöne junge Frauen zu Füßen liegen hat, etwas Dümmeres tun, als sich umzubringen?
Und gerade darum macht er es. Es ist ein Roman nicht des Wahn-, aber doch des ins Bizarre gesteigerten Eigensinns. Er beherrscht das symbiotische Verhältnis der Heldin und ihrer Mutter, deren Liebe zueinander sich in Hassausbrüchen austobt, während der vernünftigere Vater recht blass daneben steht. Er stirbt dann auch recht bald bei einem Unfall. Sheydas Mutter dreht nunmehr vollends durch und beginnt, obwohl nicht mehr ganz jung, insgeheim ein Leben als Prostituierte. Ihre Kunden sind ausgerechnet die frommen Mullahs. Weil sie sich so schuldig dabei fühlen, stellen sie wenig Ansprüche und zahlen gut. Das ist willkommen, denn Geld ist seit dem Tod des Vaters knapp. Das nun wiederum macht die Tochter, die endlich dahinterkommt, rasend.
Nicht nur das Frühstück in der Speiseröhre, sondern die emotionale Gesamtlage dieses Buchs fährt beständig Achterbahn. Es wird viel erbrochen und ins Bett genässt; aber es steckt auch voller poetischer Schönheiten, mit Rosen, Nachtigallen, Frühlingsregen. Paradies und Verdammnis liegen oft nur Atemzüge voneinander.
Sheyda, sonst labil zwischen Übermut und Verzweiflung schwankend, erträgt das iranische Gefängnis, wo Misshandlungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind, erstaunlich gefasst, als wäre das alles auch nicht schlimmer, als was ihr früher in der Wildbahn ihres Lebens zugestoßen ist.
Dass sie ausgepeitscht wird, erweckt in ihr vor allem Verwunderung: Wie können Frauen Frauen so etwas antun? Dabei weiß sie selbst am besten, was sie anderen Frauen schon angetan hat. In ihrer Zelle benützt sie die dort herumliegenden ausgerissenen Fingernägel der Vorbewohnerinnen, um sich daraus Orakel zu legen. Schließlich wird sie in der Morgendämmerung hinausgeführt, man schlägt ihr einfach so noch ein paar Zähne aus.
Sie und einige Schicksalsgenossen sollen öffentlich hingerichtet werden. Im Iran nimmt man dafür einen Baukran. Die Männer haben Vortritt. Sie zucken noch kurz mit den Beinen, dann wirken sie friedlich, als wären sie im Stehen eingeschlafen. „Ciao, bello, ciao. Bade im Licht, mein Freund.“, denkt Sheyda, die als nächste dran ist.
„‚Warum lächelst du?‘, fragte die letzte Freundin, die ich je haben würde. ‚Wo schaust du hin?‘
‚Sieh mal‘, sagte ich und wandte mein Gesicht der hinter den Männern aufgehenden Sonne zu. ‚Was für ein atemberaubender Anblick.‘
‚Vier Erhängte sind für dich ein atemberaubender Anblick?‘
‚Nein. Schau genauer hin. Da oben! Siehst du nicht?‘
‚Wo denn?‘, fragte sie und suchte den Himmel mit dem Blick ab. ‚Was denn?‘
‚Sieh nur! Asadi ...
Sieh nur. Dort oben!
Die Freiheit!‘“
Von diesem letzten Wort fällt, wie von der eben aufgehenden Sonne im Augenblick der Hinrichtung, ein jähes Licht, das die ganze wirre Landschaft dieses Buchs und des Lebens seiner Heldin auf einmal in hellem Glanz erstrahlen lässt. Freiheit ist immer möglich, jeder Mensch kann sie sich nehmen, selbst in einem Land wie dem Iran, der alle und speziell die Frauen mit Zwang und Gewalt niederhält. Aber man darf keine Angst vor dem Tod haben. Das ist herrlich und grauenhaft. Sheyda wird gerade mal zwanzig, was bei ihrerKompromissosigkeit fast ein erstaunlich hohes Alter ist.
Die Autorin Ava Farmehri ist vorsichtiger. Offenbar kennt sie genau, wovon sie schreibt. Sie weiß, dass, wer das berüchtigte Evin-Gefängnis in Teheran auch nur fotografieren will, schon allein deswegen sterben kann. Sie sei, erfährt man vom Verlag, „im Nahen Osten“ aufgewachsen, lebt in Kanada, schreibt auf Englisch, liebt Katzen und hasst Krieg; mehr Information gibt es nicht. Der Name ist ein Pseudonym, ein Foto von ihr anscheinend nicht verfügbar.
BURKHARD MÜLLER
Von der Autorin gibt es kein
Bild. Sie lebt in Kanada, schreibt
auf Englisch und hasst den Krieg
Ava Farmehri:
Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen.
Roman. Aus dem Englischen von Sonja Finck.
Edition Nautilus,
Hamburg 2020.
285 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ava Farmehris rasende, tödliche Lebensgeschichte einer jungen Iranerin
Zum Glück hat sie noch ein Taxi gekriegt. Oder doch einen privaten Fahrer, der am Straßenrand Passanten aufliest, wie es in Teheran üblich ist. Sheyda kommt gerade von einem Lover, der ihr unbedingt die Füße küssen musste und sie schwer mit seinen Liebeserklärungen bedrängte. Da ist die Rostlaube, die sie mitnimmt, direkt eine Erlösung. Hier kann die Ich-Erzählerin sich endlich wieder in ihr Alter Ego verwandeln, die weltläufige Kurtisane Beatrice. Aus Italien stammt sie und lässt es den Fahrer spüren. Doch der, ein Armenier, kann, womit in Teheran wirklich keiner rechnen muss, Italienisch, und lässt sie grausam auflaufen.
„‚Di che parte dell’ Italia sei?‘
‚Di che... Di...‘, stotterte ich.
‚Di che regione, Nord, Ovest...‘
‚Sì, sì... di, di...‘
‚Di Nord?‘
‚Sì. Di nord.‘“
Der Taxifahrer grinst und textet sie immer weiter mit Hochgeschwindigkeits-Italienisch zu. Welche Schmach. Sie will sterben in diesem Augenblick. So verläuft Sheydas ganzes Leben. Sie ist romantisch, aufsässig, hochfahrend, gönnt sich in der repressiven und frauenfeindlichen Theokratie des Iran den lebensgefährlichen Luxus, ältere Männer zu verführen, was so lachhaft leicht ist, wenn sie glutvoll hinter ihrem Tschador hervoräugelt, voll schnippischen Hohns gegen ihre Liebhaber, die vor allem eins nicht dürfen: einander begegnen.
Der Leser fühlt: Gutgehen kann das nicht. Wo kommen Lügner hin?, fragt der Fahrer sie auf Italienisch, das sie plötzlich versteht. „‚Inferno‘, sagte ich, während mein unverdautes Frühstück in der Speiseröhre Achterbahn fuhr. ‚Inferno.‘“ Und so kommt es. Der Roman beginnt und endet in der Todeszelle. Dort befindet sich Sheyda wegen Mordes an ihrer Mutter. Was es damit auf sich hat, erfährt der Leser spät. Doch sei hier immerhin mitzuteilen erlaubt, dass sie zuletzt die Lüge mehr liebt als ihr Leben.
Das Buch spielt in den Krisenjahren der iranischen Revolution und des langen zähen Krieges gegen den Irak in den Achtzigern. Die jungen Männer sterben als „Märtyrer“ an der Front wie die Fliegen; nur nicht der sanfte und genialische Krüppel Mustafa, ihr Nachbar, den die noch kindliche Sheyda anbetend liebt, obwohl sie ihn nur als fenstergerahmtes Bild erlebt. Dann begeht er Suizid – kann man, fragt sich der Leser, wenn man einerseits dem mörderischen Krieg entflohen ist, andererseits bildschöne junge Frauen zu Füßen liegen hat, etwas Dümmeres tun, als sich umzubringen?
Und gerade darum macht er es. Es ist ein Roman nicht des Wahn-, aber doch des ins Bizarre gesteigerten Eigensinns. Er beherrscht das symbiotische Verhältnis der Heldin und ihrer Mutter, deren Liebe zueinander sich in Hassausbrüchen austobt, während der vernünftigere Vater recht blass daneben steht. Er stirbt dann auch recht bald bei einem Unfall. Sheydas Mutter dreht nunmehr vollends durch und beginnt, obwohl nicht mehr ganz jung, insgeheim ein Leben als Prostituierte. Ihre Kunden sind ausgerechnet die frommen Mullahs. Weil sie sich so schuldig dabei fühlen, stellen sie wenig Ansprüche und zahlen gut. Das ist willkommen, denn Geld ist seit dem Tod des Vaters knapp. Das nun wiederum macht die Tochter, die endlich dahinterkommt, rasend.
Nicht nur das Frühstück in der Speiseröhre, sondern die emotionale Gesamtlage dieses Buchs fährt beständig Achterbahn. Es wird viel erbrochen und ins Bett genässt; aber es steckt auch voller poetischer Schönheiten, mit Rosen, Nachtigallen, Frühlingsregen. Paradies und Verdammnis liegen oft nur Atemzüge voneinander.
Sheyda, sonst labil zwischen Übermut und Verzweiflung schwankend, erträgt das iranische Gefängnis, wo Misshandlungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind, erstaunlich gefasst, als wäre das alles auch nicht schlimmer, als was ihr früher in der Wildbahn ihres Lebens zugestoßen ist.
Dass sie ausgepeitscht wird, erweckt in ihr vor allem Verwunderung: Wie können Frauen Frauen so etwas antun? Dabei weiß sie selbst am besten, was sie anderen Frauen schon angetan hat. In ihrer Zelle benützt sie die dort herumliegenden ausgerissenen Fingernägel der Vorbewohnerinnen, um sich daraus Orakel zu legen. Schließlich wird sie in der Morgendämmerung hinausgeführt, man schlägt ihr einfach so noch ein paar Zähne aus.
Sie und einige Schicksalsgenossen sollen öffentlich hingerichtet werden. Im Iran nimmt man dafür einen Baukran. Die Männer haben Vortritt. Sie zucken noch kurz mit den Beinen, dann wirken sie friedlich, als wären sie im Stehen eingeschlafen. „Ciao, bello, ciao. Bade im Licht, mein Freund.“, denkt Sheyda, die als nächste dran ist.
„‚Warum lächelst du?‘, fragte die letzte Freundin, die ich je haben würde. ‚Wo schaust du hin?‘
‚Sieh mal‘, sagte ich und wandte mein Gesicht der hinter den Männern aufgehenden Sonne zu. ‚Was für ein atemberaubender Anblick.‘
‚Vier Erhängte sind für dich ein atemberaubender Anblick?‘
‚Nein. Schau genauer hin. Da oben! Siehst du nicht?‘
‚Wo denn?‘, fragte sie und suchte den Himmel mit dem Blick ab. ‚Was denn?‘
‚Sieh nur! Asadi ...
Sieh nur. Dort oben!
Die Freiheit!‘“
Von diesem letzten Wort fällt, wie von der eben aufgehenden Sonne im Augenblick der Hinrichtung, ein jähes Licht, das die ganze wirre Landschaft dieses Buchs und des Lebens seiner Heldin auf einmal in hellem Glanz erstrahlen lässt. Freiheit ist immer möglich, jeder Mensch kann sie sich nehmen, selbst in einem Land wie dem Iran, der alle und speziell die Frauen mit Zwang und Gewalt niederhält. Aber man darf keine Angst vor dem Tod haben. Das ist herrlich und grauenhaft. Sheyda wird gerade mal zwanzig, was bei ihrerKompromissosigkeit fast ein erstaunlich hohes Alter ist.
Die Autorin Ava Farmehri ist vorsichtiger. Offenbar kennt sie genau, wovon sie schreibt. Sie weiß, dass, wer das berüchtigte Evin-Gefängnis in Teheran auch nur fotografieren will, schon allein deswegen sterben kann. Sie sei, erfährt man vom Verlag, „im Nahen Osten“ aufgewachsen, lebt in Kanada, schreibt auf Englisch, liebt Katzen und hasst Krieg; mehr Information gibt es nicht. Der Name ist ein Pseudonym, ein Foto von ihr anscheinend nicht verfügbar.
BURKHARD MÜLLER
Von der Autorin gibt es kein
Bild. Sie lebt in Kanada, schreibt
auf Englisch und hasst den Krieg
Ava Farmehri:
Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen.
Roman. Aus dem Englischen von Sonja Finck.
Edition Nautilus,
Hamburg 2020.
285 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Eine "iranische poétesse maudite", nennt Rezensent Carsten Hueck Ava Farmehris außergewöhnliche Protagonistin Sheyda, und er ist spürbar fasziniert von dieser jungen Poetin, die gerade soweit abseits ihrer Gesellschaft lebt und liebt, dass ihrem klaren Blick wenig entgeht und dass sie dieser Gesellschaft mit all ihrem Zorn und all ihrer Verletztheit literarisch "ins Gesicht spucken" kann. Dabei tritt sie weder als Opfer noch als Dissidentin auf. Farmehri lässt ihre Figur aus dem Gefängnis erzählen, wo sie, für den Mord an ihrer Mutter zum Tode verurteilt, auf ihre Hinrichtung wartet, erklärt Hueck. Hier beginnt sie zu erzählen - von den Frauen im Gefängnis, aber auch von ihrer Kindheit. Durch diese Erzählungen ermöglicht die Autorin ihren Leser*innen Einblicke in eine Gesellschaft, die Frauen wie Sheyda systematisch unterdrückt, lesen wir. So wird schnell deutlich, dass Sheyda trotz ihrer Schuld eine ganze Generation junger Frauen vertritt, die sich nach Selbstbestimmtheit und Liebe sehnen. Besonders eindrucksvoll findet der Rezensent den besonderen Ton, mit dem Farmehris Erzählerin ihre Wut und ihre Sehnsucht äußert - eine einmalige Mischung aus Anschuldigungen, Derbheit, Lyrik und Sinnlichkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2020Erinnerungen einer zum Tode Verurteilten
Teheran 1999. Sheydas Hinrichtung steht bevor. Das Urteil war nicht politisch. Oder doch: Sie ist eine Frau, die durch ihre Existenz allein schon schuldig ist.
Von Verena Lueken
Hängende Leiber in düsterem Wald - was für ein Titel! Er zitiert einen Satz aus Dantes "Inferno", der vollständig als Motto das Buch eröffnet: "In dem Wald, dem düstern, werden unsre Leiber hängen, jeder am Dorngestrüpp des eigenen Schattens." Zwei weitere fremde Texte folgen auf der nächsten Seite, ein langes Gedicht des bengalischen Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore (den die Heldin spät im Roman eine "beeindruckende Enttäuschung" nennt) und ein kurzes Zitat von Robert Frost. In beiden steht die Freiheit auf dem Spiel, die hier eine Freiheit von der Angst ist, von der Anarchie des Schicksals (Tagore), Freiheit von allen Bindungen und damit letztlich vom Leben (Frost). Erst danach geht es richtig los, und zwar mit diesem Satz: "Sie werden mich töten."
Der Weg in dieses Buch ist also steinig. Aber nirgends steht geschrieben, das müsste anders sein und leichter Zugang gewährt werden, nicht, wenn es um alles geht wie hier. Und ist nicht vielmehr der Mut zu bewundern, mit dem Ava Farhmehri, deren Romandebüt dies ist, mit voller Verzweiflung voraus loslegt, um die Geschichte zu erzählen, die zwischen dem Titel, den Motti und der Vollendung ihres ersten Satzes liegt? Eine Geschichte, die kein anderes Ende finden kann als ebendieses, das der erste Satz so bestimmt feststellt?
Unbedingt muss dieser Mut bewundert werden! Das Buch, erzählt aus der Ich-Perspektive der zum Tode verurteilten zwanzigjährigen Romanheldin Sheyda Porroya aus Teheran, ist ein Zeugnis ungeheurer literarischen Courage. Zwar ist die Anlage einer Rahmenhandlung mit dazwischenliegendem Rückblick zu Elternhaus, Nachbarn, Liebhabern und Therapeut konventionell. Hier sind es die letzten Tage von Sheyda im Teheraner Frauengefängnis im Jahr 1999, von denen aus in einzelnen Kapiteln nicht immer chronologisch zurückgeblendet wird. Doch die Sichtweise und der Ton von Ava Farmehri sind extravagant. Weder scheut sie sich vor der saftigen Beschreibung von Körperfunktionen und -flüssigkeiten, genässten Betten, grünem Erbrochenen, von ausgeschlagenen Zähnen, herausgerissenen Nägeln oder blutgetränkten Matratzen, noch schreckt sie vor blumigen Bildern zurück, die dieser Drastik gegenüberstehen, lässt ihrer Heldin immer wieder einen Vogelschwarm folgen, der ihr vor Augen führt, was Freiheit wäre, oder sie in schwärmerische Gefühle versinken, was dann so klingt: "Die Liebe katapultierte mich ins Land des Wahnsinns, wo ich Sterne vom Himmel pflückte, um sie zu Hause auf Bäume und Teppiche zu pflanzen."
Sheyda erinnert sich an alles, und die Beschreibungen der physischen Welt sind fast immer sensationell (wenn sie nicht, wie ab zu, in den Kitsch abgleiten). Selbst an den Geruch der Großmutter, den sie beim Spielen unterm Küchentisch einsaugte, erinnert sie sich: "Den Geruch von feuchten Körperteilen und unberührten Dreiecken, den Geruch ihres Fischer-Ehemanns und seines Begehrens, den Geruch von geschwollenen, arthritischen Füßen, den Geruch von Schweiß, der ihr die Kniekehlen hinabrann, auf die Ziellinie ihrer Strümpfe zu, den Geruch von rebellischer Weiblichkeit, von Es-war-einmal-ein-Mädchen, von unterdrückter Feminität."
Und während sie sich erinnert, beginnt Sheyda zu begreifen, ihr Platz in dieser Welt ist irgendwo außerhalb - nicht außerhalb des Hauses, der Stadt oder des Gefängnisses, sondern außerhalb ihres Körpers, "außerhalb meines Fleischs und meiner Rippen". Dieses Gefühl radikaler Deplaziertheit liegt dem völligen Einverständnis mit dem Todesurteil zugrunde. Sie habe ihre Mutter getötet, so lautet die Anklage, und Sheyda hat gesagt: So ist es.
Sheyda ist eine notorische Lügnerin. Keine perfekte Tochter oder junge Frau. Sie dichtet allem ein Gefühlsleben an, was zu einigen stilistisch strapaziösen Passagen führt und immer wieder einmal schiefen Bildern, aber dies fällt beim Debüt einer offenbar überbordend sprachbegabten und phantasiebewehrten Autorin kaum ins Gewicht. Ist ihre Heldin wahnsinnig? Oder sind ihre Aufsässigkeit, ihre Verträumtheit, ihre Gabe, die Welt körperlich zu erfahren,und ihr Fluch, auf sie körperlich zu reagieren, der Spiegel, in dem sich ein Unterdrückungssystem offenbart, in dem sie als Person mit all diesen Eigenschaften nicht vorgesehen ist?
Sie stellt sich quer. Macht ins Bett. Will sich nehmen, worauf sie Lust hat, und wird bestraft. Vom Vater vor allem, aber auch von der Mutter, der sie jede Hoffnung auf ein Leben anderswo genommen hat, indem sie geboren wurde. Sie erfindet sich ein Alter Ego, nämlich (Dantes) Beatrice, in deren Gestalt sie schlüpft, wenn sie zu ihrem Liebhaber, dem Direktor ihrer Schule, unterwegs ist. Und in deren Umgebung sie sich hineinträumt, denn Florenz damals scheint ihr so viel freier als Teheran heute.
Darum geht es. Um die Körper der Frauen inmitten eines unbewohnbaren Lands, das für diese Körper nur eine Verwendung hat, als Mutter und Ehefrau nämlich. Diese Beschränkung bei gleichzeitiger körperlicher Indienstnahme, Versehrung und unendlicher Einsamkeit bringt Frauen wie Sheyda und auch ihrer Mutter den Tod. Manchen Männern übrigens auch. Dieses Buch ist eine große Abrechnung mit dem Gottesstaat, in dem es keine Hoffnung gibt.
Ava Farmehri ist ein Pseudonym. Wer auch immer die Frau ist, die sich dahinter verbirgt, sie lebt in Kanada, schreibt englisch, ist, so steht es im Klappentext, im "Nahen Osten" aufgewachsen, und dies ist ihr erster veröffentlichter Roman. Das letzte Wort in diesem seltsamen, teilweise atemraubenden, satzweise eben am Kitsch entlangschrammenden großartigen Buch ist dann tatsächlich: Freiheit. Dafür hat sich jede Zumutung gelohnt.
Ava Farmehri: "Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen". Roman.
Aus dem Englischen von Sonja Finck. Edition Nautilus, Hamburg 2020.
288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Teheran 1999. Sheydas Hinrichtung steht bevor. Das Urteil war nicht politisch. Oder doch: Sie ist eine Frau, die durch ihre Existenz allein schon schuldig ist.
Von Verena Lueken
Hängende Leiber in düsterem Wald - was für ein Titel! Er zitiert einen Satz aus Dantes "Inferno", der vollständig als Motto das Buch eröffnet: "In dem Wald, dem düstern, werden unsre Leiber hängen, jeder am Dorngestrüpp des eigenen Schattens." Zwei weitere fremde Texte folgen auf der nächsten Seite, ein langes Gedicht des bengalischen Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore (den die Heldin spät im Roman eine "beeindruckende Enttäuschung" nennt) und ein kurzes Zitat von Robert Frost. In beiden steht die Freiheit auf dem Spiel, die hier eine Freiheit von der Angst ist, von der Anarchie des Schicksals (Tagore), Freiheit von allen Bindungen und damit letztlich vom Leben (Frost). Erst danach geht es richtig los, und zwar mit diesem Satz: "Sie werden mich töten."
Der Weg in dieses Buch ist also steinig. Aber nirgends steht geschrieben, das müsste anders sein und leichter Zugang gewährt werden, nicht, wenn es um alles geht wie hier. Und ist nicht vielmehr der Mut zu bewundern, mit dem Ava Farhmehri, deren Romandebüt dies ist, mit voller Verzweiflung voraus loslegt, um die Geschichte zu erzählen, die zwischen dem Titel, den Motti und der Vollendung ihres ersten Satzes liegt? Eine Geschichte, die kein anderes Ende finden kann als ebendieses, das der erste Satz so bestimmt feststellt?
Unbedingt muss dieser Mut bewundert werden! Das Buch, erzählt aus der Ich-Perspektive der zum Tode verurteilten zwanzigjährigen Romanheldin Sheyda Porroya aus Teheran, ist ein Zeugnis ungeheurer literarischen Courage. Zwar ist die Anlage einer Rahmenhandlung mit dazwischenliegendem Rückblick zu Elternhaus, Nachbarn, Liebhabern und Therapeut konventionell. Hier sind es die letzten Tage von Sheyda im Teheraner Frauengefängnis im Jahr 1999, von denen aus in einzelnen Kapiteln nicht immer chronologisch zurückgeblendet wird. Doch die Sichtweise und der Ton von Ava Farmehri sind extravagant. Weder scheut sie sich vor der saftigen Beschreibung von Körperfunktionen und -flüssigkeiten, genässten Betten, grünem Erbrochenen, von ausgeschlagenen Zähnen, herausgerissenen Nägeln oder blutgetränkten Matratzen, noch schreckt sie vor blumigen Bildern zurück, die dieser Drastik gegenüberstehen, lässt ihrer Heldin immer wieder einen Vogelschwarm folgen, der ihr vor Augen führt, was Freiheit wäre, oder sie in schwärmerische Gefühle versinken, was dann so klingt: "Die Liebe katapultierte mich ins Land des Wahnsinns, wo ich Sterne vom Himmel pflückte, um sie zu Hause auf Bäume und Teppiche zu pflanzen."
Sheyda erinnert sich an alles, und die Beschreibungen der physischen Welt sind fast immer sensationell (wenn sie nicht, wie ab zu, in den Kitsch abgleiten). Selbst an den Geruch der Großmutter, den sie beim Spielen unterm Küchentisch einsaugte, erinnert sie sich: "Den Geruch von feuchten Körperteilen und unberührten Dreiecken, den Geruch ihres Fischer-Ehemanns und seines Begehrens, den Geruch von geschwollenen, arthritischen Füßen, den Geruch von Schweiß, der ihr die Kniekehlen hinabrann, auf die Ziellinie ihrer Strümpfe zu, den Geruch von rebellischer Weiblichkeit, von Es-war-einmal-ein-Mädchen, von unterdrückter Feminität."
Und während sie sich erinnert, beginnt Sheyda zu begreifen, ihr Platz in dieser Welt ist irgendwo außerhalb - nicht außerhalb des Hauses, der Stadt oder des Gefängnisses, sondern außerhalb ihres Körpers, "außerhalb meines Fleischs und meiner Rippen". Dieses Gefühl radikaler Deplaziertheit liegt dem völligen Einverständnis mit dem Todesurteil zugrunde. Sie habe ihre Mutter getötet, so lautet die Anklage, und Sheyda hat gesagt: So ist es.
Sheyda ist eine notorische Lügnerin. Keine perfekte Tochter oder junge Frau. Sie dichtet allem ein Gefühlsleben an, was zu einigen stilistisch strapaziösen Passagen führt und immer wieder einmal schiefen Bildern, aber dies fällt beim Debüt einer offenbar überbordend sprachbegabten und phantasiebewehrten Autorin kaum ins Gewicht. Ist ihre Heldin wahnsinnig? Oder sind ihre Aufsässigkeit, ihre Verträumtheit, ihre Gabe, die Welt körperlich zu erfahren,und ihr Fluch, auf sie körperlich zu reagieren, der Spiegel, in dem sich ein Unterdrückungssystem offenbart, in dem sie als Person mit all diesen Eigenschaften nicht vorgesehen ist?
Sie stellt sich quer. Macht ins Bett. Will sich nehmen, worauf sie Lust hat, und wird bestraft. Vom Vater vor allem, aber auch von der Mutter, der sie jede Hoffnung auf ein Leben anderswo genommen hat, indem sie geboren wurde. Sie erfindet sich ein Alter Ego, nämlich (Dantes) Beatrice, in deren Gestalt sie schlüpft, wenn sie zu ihrem Liebhaber, dem Direktor ihrer Schule, unterwegs ist. Und in deren Umgebung sie sich hineinträumt, denn Florenz damals scheint ihr so viel freier als Teheran heute.
Darum geht es. Um die Körper der Frauen inmitten eines unbewohnbaren Lands, das für diese Körper nur eine Verwendung hat, als Mutter und Ehefrau nämlich. Diese Beschränkung bei gleichzeitiger körperlicher Indienstnahme, Versehrung und unendlicher Einsamkeit bringt Frauen wie Sheyda und auch ihrer Mutter den Tod. Manchen Männern übrigens auch. Dieses Buch ist eine große Abrechnung mit dem Gottesstaat, in dem es keine Hoffnung gibt.
Ava Farmehri ist ein Pseudonym. Wer auch immer die Frau ist, die sich dahinter verbirgt, sie lebt in Kanada, schreibt englisch, ist, so steht es im Klappentext, im "Nahen Osten" aufgewachsen, und dies ist ihr erster veröffentlichter Roman. Das letzte Wort in diesem seltsamen, teilweise atemraubenden, satzweise eben am Kitsch entlangschrammenden großartigen Buch ist dann tatsächlich: Freiheit. Dafür hat sich jede Zumutung gelohnt.
Ava Farmehri: "Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen". Roman.
Aus dem Englischen von Sonja Finck. Edition Nautilus, Hamburg 2020.
288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main